„Wenn man keinen Kunden hat, hat man nichts zu tun“ – Dirk Baecker im SWR2-Interview

Wir werden es mit viel durchmischteren Verhältnissen zu tun bekommen, in denen Bildung und Freizeit und Finanzierung durch den Staat und Hilfe durch die Freunde und Geschäfte machen ein sehr unruhiges, ein stressiges Verhältnis eingehen werden.

Das ist die Situation, auf die es sich einzustellen gilt, meinte Dirk Baecker in einem Interview mit SWR2 im Rahmen der Themenwoche „Zukunft der Arbeit“, mit der die ARD für die Umbrüche in der Arbeitswelt und die gravierenden Folgen in der Gesellschaft zu sensibilisieren versuchte.

Baecker zeichnet ein Bild des vernetzten Wirtschaftens und Arbeitens, das die Wechselbeziehung des Einzelnen mit hochdynamisch agierenden Organisationen grundlegend verändert.

Der Deal lautet in der Zukunft: Wenn du niemanden findest, der Interesse an deiner Arbeit hat, bist du verloren. Das gilt innerhalb von Organisationen und das gilt im Verkehr zwischen Organisationen. Zwischen Organisationen deutet sich etwas an – noch nicht sehr verbreitet, aber es deutet sich an, dass das eine starke Tendenz wird – etwas, was man agiles Management nennt. Das ist eine Form des Managements, die jeden Mitarbeiter dazu einlädt, sich einen Kunden zu suchen. Wenn man keinen Kunden hat, hat man nichts zu tun.

Er nennt als Beispiel Jean-Luc Godard, den französischen Filmemacher, der mal gesagt habe: „Wenn ich keinen Auftrag habe, dann drehe ich keinen Film.“ Das blühe uns allen, meint Baecker. Man müsse ein Angebot machen können. Man müsse eine Adresse sein für die Wünsche und Vorstellungen von anderen, dann werde man kein Verlierer.

Wir brauchen natürlich nach wie vor Führung. Aber Führung wird darin bestehen, die Mitarbeiter dazu aufzufordern, sich an Lieferanten und Kunden, also in der Horizontale zu orientieren. Das ist eine Anforderung, mit der Führung auch Schwierigkeiten hat. Denn bisher war Führung immer auch, zumal in Deutschland ausgezeichnet als der Ort, die Spitze, in der eine strategische Führung im Umgang mit den Umwegen der Organisation verortet ist. Diese strategische Kompetenz wandert jetzt sozusagen in den Bauch der Organisation, in die Mitte der Organisation, nach unten.

Vor einiger Zeit hat Baecker die Hierarchie als Grundmodell der Unternehmensführung als unverzichtbar bezeichnet. Seine Äußerungen klingen nun so, als ob Hierarchie nur noch ein Relikt aus vergangenen Zeiten in den Köpfen sei, das von der Praxis längst widerlegt worden ist.

Vermutlich hat er dabei mehr an den strukturellen Aufbau als an das Verhalten der Führung gedacht. Im SWR2-Interview unterscheidet er zwischen den veralteten Denkmodellen, die die Vertikale betonen, und einer längst sich etablierenden Praxis, die horizontal funktioniert.

Auf der Praxisebene sind wir in der Lage, uns anzupassen, während wir – wenn wir mal nachdenken – immer noch die alten Begriffe von vorgestern und vorvorgestern haben, immer noch in Hierarchien denken, während wir längst in der Horizontale unterwegs sind, immer noch in Arbeitsteilungsmustern denken – der eine kann dies, der andere das – während wir längst unsere Arbeitsfähigkeit miteinander austauschen, und ich vielleicht nur deswegen etwas kann, weil ich es mit jemandem zu tun habe, der etwas kann, was dazu passt. Diese Art der praktischen, der körperlichen, der in den Fingerspitzen verankerten Fähigkeiten, praktisch darauf zu reagieren, was jeweils möglich ist, ist in einer ganz anderen Weise, viel schneller entwickelbar als unser bewusstes Denken.

Sind die Debatten über den Wandel der Unternehmensmodelle also als Zeichen eines eher zähen Wandels des Denkens zu deuten? Ist vielleicht sogar Vorsicht geboten, weil solche Debatten die Anpassungsfähigkeit der Menschen und die Entwicklung ihrer praktischen Fähigkeiten, sich in Netzwerken zu bewegen, eher hemmt?

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Was gute Führung ausmacht (14): Dirk Baecker über Erwartungsmanagement und die neue Selbstermächtigung der Organisation

Hierarchien spielen eine heilsame, stressreduzierende Rolle in den Prozessen der Selbstorganisation einer Organisation. Daran erinnert Dirk Baecker in einem aufschlussreichen Interview in der Online-Ausgabe der Zeitschrift Organisationsentwicklung. Der Prozess der Befreiung von Organisationen aus ihren Silostrukturen und ihrer Öffnung für Netzwerkstrukturen sei zwar keine Mode, sondern ein schon seit den 1930er Jahren laufender Prozess. Dieser Prozess widerspreche jedoch jahrtausendealten Erwartungen an Hierarchie und Einheit. Deshalb, so dämpft Baecker manche Euphorie in der aktuellen Debatte, werden wir auch noch einige weitere Jahrzehnte mit diesem Phänomen zu tun haben.

Doch natürlich hat sich vieles in den Organisationen verändert. Das lässt sich etwa an den gewachsenen Anforderungen an die Zusammenarbeit in und zwischen Teams, an „agilen“ Arbeitsweisen  und an der deutlich gewachsenen Eigenverantwortung der Mitarbeitenden ablesen. Dirk Baecker betont vor diesem Hintergrund zwei Aufgaben, die er der Führung zuschreibt. Beide dienen der Regulierung der Erwartungen der Mitarbeitenden. Die erste Aufgabe: die Mitarbeitenden zum eigenverantwortlichen Handeln befähigen.

Ich glaube, dass Führung im Wesentlichen Erwartungsmanagement ist: das Management der Erwartungen der Geführten. Nichts ist ja wichtiger als die Befähigung aller Mitarbeiter zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben und zur wachsamen Beobachtung aller dafür erforderlichen Umstände. Tendenziell macht sich Führung damit überflüssig. Aber eben nur tendenziell. Organisationen brauchen Führung als Adresse des Scheiterns von Erwartungen, dass man gesagt bekommt, was man zu tun hat.

Die zweite Aufgabe der Führung: starke Symbole setzen.

In welche Richtung kann es gehen? Welche Entwicklungen im Umfeld der Organisation sind wichtig, welche nicht? Mit welchen Ressourcen, welchem Mut zu Investitionen geht man neue Aufgaben an? Welche Einstellungen zu Experiment, Risiko und Scheitern werden gepflegt? Auch das ist Erwartungsmanagement, das es den Mitarbeiten ermöglicht, einzuschätzen, worauf sie sich mit eigenen Entscheidungen in der jeweiligen Organisation einlassen.

Und was machen Berater in einer in dieser Art ertüchtigten Organisation? Baecker sieht keinen Grund, sich um die Beraterzunft Sorgen zu machen. Doch er beobachtet, dass Organisationen aufhören, sich selbst zu entmächtigen und wieder mehr Mut aufbringen, über notwendige Veränderungen selbst nachzudenken und sie auch selbst umzusetzen.

Die Scrum-Beratung zeigt ja sehr schön, wie die Beratung viel stärker als in den Jahrzehnten zuvor in die zu beratende Organisation integriert wird und der Auftrag erst dann bewältigt ist, wenn die Organisation über eigene Scrum-Master verfügt. Ich halte das für eine interessante Entwicklung, weil sie wieder etwas mit der Selbstermächtigung von Organisationen zu tun hat. Wenn wir jetzt noch damit beginnen würden auch das Thema Macht wieder offen zu diskutieren, könnte man den Spuk der Beratung schon fast für ein historisches Phänomen halten.

 

Mehr von Dirk Baecker zur Hierarchie-Frage

Unternehmensmodelle im Wandel (7): Hierarchie „vollkommen unverzichtbar“

Unternehmensmodelle im Wandel (9): Firmen ohne Leitung – Birger Priddat im SWR2-Interview

Wenn die Führung führt, sind die Mitarbeitenden weniger motiviert. Von dieser einfachen Beobachtung aus hat Birger Priddat, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Uni Witten/Herdecke, kürzlich in der SWR2 Matinee in einem Interview den Zusammenhang von Führung, Hierarchie, Verantwortung, der Dynamik der Märkte, dem Können der Mitarbeitenden und der Teamfähigkeit beleuchtet.

Märkte sind dynamischer geworden. Kunden sind nicht mehr so treu, gerade durch das Internet. Das bedeutet, dass das Unternehmen an der Grenze zum Kunden viel schneller reagieren muss. Das bedeutet, dass die Leute, die dort arbeiten, selbst entscheiden müssen. Sie müssen in einem höheren Maße Verantwortung übernehmen.

Er erläutert das an einem einfachen Beispiel. Bei Aral seien bei der Bearbeitung von Reklamationen früher bis zu sechs Unterschriften erforderlich gewesen. Solche bürokratischen Phänomene führen nicht nur zu kritischen Zeitverlusten, sondern sie haben fatale Folgen für die Wahrnehmung der Verantwortung. Jeder, der vor dem Letzten unterschreibt, fühlt sich nicht verantwortlich.

Was bedeutet das? Die Führung kann in schnell bewegten Märkten überhaupt nicht mehr überblicken, was passiert, sondern nur die Leute, die daran arbeiten, die sind kompetent. Man muss natürlich auch kompetente Leute dahin setzen, die diese Verantwortung auch tragen können. Das wird die Hierarchie notwendig abbauen, denn ein Chef kann das alles nicht mehr überblicken.

Das ist der eine wesentliche Punkt. Derzeit geistert ein (nicht ganz) neues Akronym durch die Beraterwelt: VUKA. Es beschreibt dieses prägende Phänomen unserer hochtechnisierten und hochbeschleunigten Lebensweise, das den Verantwortlichen in Organisationen aller Art das Leben schwer macht: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität.

Das andere Phänomen, das die Verantwortlichen in den Unternehmen zu einem neuen Denken bewegt: Wir haben es heute, besonders im digitalen Bereich, so Priddat, mit hochkompetenten Mitarbeitern, also mit Wissensarbeitern, zu tun.

Die Chefs sind ja teilweise aus einer älteren Zeit und sind kompetenzmäßig gar nicht so entwickelt wie die Mitarbeiter. Was glauben Sie, so ein High-Tech-Ingenieur, wenn der mit so einem Chef zusammenarbeitet, dessen Kompetenz er gar nicht mehr schätzt, also im Grunde ihn für jemanden hält, der gar nicht führen kann, weil er gar nicht weiß, worum es geht. Das sind natürlich Themen, wo man die klassische Führung nur noch formell aufrechterhalten kann. Aber dann ist sie eine Störgröße und bewegt nicht mehr, motiviert nicht mehr die Mitarbeiter.

Wenn die Hierarchie nicht mehr in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass in der Organisation an einer Stelle der nötige Überblick entsteht, welche Möglichkeiten gibt es dann, die Entscheidungsfähigkeit aufrecht zu erhalten?

Priddat verweist auf langjährige Erfahrungen mit anderen Modellen, z.B. bei Genossenschaften. Auch dort gibt es Führung, obwohl die Genossen gleichberechtigte Teilhaber sind. Denn die Teilhaber sind nur partiell mit der Genossenschaft verbunden und können nicht alles übersehen.

Die Führung ist gewissermaßen nur jemand, der unter Beobachtung führt. […] Aber das operative Geschäft, das muss einer verantworten und dann runtergeben an die Leute, die in ihren Teilen dann selber wieder die Verantwortung führen.

Ähnlich bei Startups, bei denen es im Anfangsstadium unter Gleichgesinnten  hierarchiefrei funktioniert. Wenn das junge Unternehmen wächst, so stellt Priddat fest, schleicht sich häufig wieder das alte Muster ein – es sei denn, man versucht bewusst, andere Prinzipien zu leben.

So könnte man z.B. die Leute zirkulieren lassen. Jeder geht für begrenzte Zeit in die Chefrolle, erhält solange eine Funktionszulage, und kehrt dann wieder zurück ins operative Geschäft. Das hat einen entscheidenden Vorteil. Die Leute begreifen,

was es heisst, in dieser Organisation zu arbeiten. Sie sind geerdet, sind mitten in den Projekten drin. Und dann übernehmen das andere. Vorteil: Hierarchie, Position, Status spielen überhaupt keine große Rolle mehr.

Das ist eine Möglichkeit, die laufende Herstellung des Überblicks organisatorisch zu verankern.

Und auch für das Problem der Führung hochkompetenter Wissensarbeiter zeigt er  Lösungsmöglichkeiten auf. Es geht, so Priddat, um den Erhalt der Teamfähigkeit.

Lange Zeit war das das Highlight der Organisation: „Lass doch Projektteams neue Dinge bilden.“ Die werden zusammengesammelt aus der Firma und bilden einen innovativen Zirkel, der dann die Themen hochhebt. Man holt die Leute zusammen, die es auch können […] Inzwischen wissen wir aus der Teamforschung, dass das nicht immer glücklich funktioniert. Man braucht auch da eine Führung. Warum funktioniert es nicht? Je größer Teams werden, umso mehr [Teammitglieder] lehnen sich zurück. Es gibt Performer, Leute, die die Sache hochziehen, und die anderen sitzen dabei und sagen: „Lass reden, lass reden.“, und geben ihren Beitrag nicht rein. Die Gesamtproduktivität wäre mit einem kleinen Team viel höher, als mit dem großen Team. Deswegen, eine Führung, ob man die jetzt wählt oder anders bestimmt, ist fast egal. Eine Moderation muss da sein, damit alle auch reingenommen werden in den Prozess. In diesem Sinne sind gleichberechtigte Teams anstelle einer Hierarchie nicht immer eine Lösung.

Mehr zu den Grenzen des Organisierens:

Nachhaltige Organisationsentwicklung

 

Was gute Führung ausmacht (13): Network Leadership

How can more people participate in ways that bring about development and change over time?

Das ist die Kernfrage, wenn in Unternehmen die alte Trennung von Planung und Kontrolle durch die einen und Ausführen durch die anderen nicht mehr funktioniert. Esko Kilpi, ein finnischer Unternehmensberater, ist dieser Frage und ihren Auswirkungen in einem Blogbeitrag auf Medium nachgegangen.

Die Tragweite des Paradigmenwechsels in der Unternehmensführung kann mit einer Abkehr von der bisher dominierenden räumlichen Perspektive hin zur zeitlichen Perspektive beschrieben  werden.

When following a spatial metaphor, there is a territory that can be explored and understood by the leaders, but in a temporal logic the territory is seen as being under continuous development and formation by the exploration itself. “It is impossible to map an area that changes with every step the explorer takes.”

Kilpi beleuchtet die Probleme, die mit der Kommunikation in sozialen Netzwerken einhergehen. In der Vergangenheit waren im Voraus geplante Meetings mit festem Ablauf typisch für die Kommunikation in Organisationen. Wenn sich Menschen über Netzwerke verbinden, machen sie neue, irritierende Erfahrungen. Sie spüren, dass gelingende Kommunikation davon abhängt, wie sie sich selbst auszudrücken und wie andere darauf  reagieren.

Networks create the experience of acting into the unknown, creating the future together, improvising together in the responsive interplay of different participants with different views.

Kommunikation im Netzwerk, so Kilpi, verschaffe „Spinnern“ und „Hetzern“ Spielräume für ihr schädliches Verhalten. Wenn Kommunikation in diesem Sinne nicht interaktiv sei, habe dies jedoch systemische Ursachen.

We are so used to the one-directional mass media that we don’t see it, but it is a systemic problem if communication is not interactive.

Die Führungsperson sei angesichts des riesigen Umfangs an Kommunikation überfordert, nutzlose oder widerliche Kommunikation herauszufiltern. Es gebe dennoch Möglichkeiten.

The new rule is that if you are a participant, you are, by default, a moderator, a curator and an editor for others.

Wenn im sozialen Netzwerk jeder zum Nutzen der anderen moderiert, kuratiert und editiert, hat das gravierende Auswirkungen auf die Führung im Unternehmen. Wenn die asymmetrische Machtverhältnisse der Hierarchie nicht mehr greifen, wie kann Führung dann wirksam werden?

Leadership is communication. The leaders, people worth following, raise bottom up. There is always going to be hierarchies, but hierarchies in network architectures are dynamic, contextual heterarchies. In fact, this is the only way that there can be leaders in democratic systems.

Wenn Hierarchien in Netzwerkarchitekturen dynamische, kontextabhängige Heterarchien sind, hat das radikale Konsequenzen. für die Führung. Kilpi sieht im Unternehmen als Netzwerk Führung als gemeinschaftliche Aufgabe, die sich im Netz selbst manifestiert.

Leadership could be seen as an emergent property of responsive interaction in the whole network. The goal is creative learning and a continuous movement of the whole social system towards a direction based on all intentions, hopes and dreams and what everybody is doing everyday in responsive interaction.

Dieses Idealbild eines durch Netzeffekte gesteuerten Unternehmens scheitert heute allein schon an den Algorithmen. Diese verstärken Mehrheitsmeinungen und verschweigen Minderheitsmeinungen. Nötig sei, so Kilpi, ein Algorithmus, der Neues auslöst statt Bestehendes zu verstärken.

Leadership algorithms should reward different voices, not only popular ones.

Was wie eine Utopie klingt, hat angesichts des verbreiteten Einsatzes von Social Collaboration Tools in Unternehmen weitreichende praktische Konsequenzen. Interessieren sich Führungspersonen in den Organisationen schon dafür, welche Algorithmen in den neuen sozialen Netzen wirken? Könnte es sein, dass kreative Impulse sogar erschwert oder unterdrückt werden?

Dion Hinchcliffe, ein amerikanischer Unternehmensberater, hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass das interne soziale Netz zum „Betriebssystem“ des Unternehmens werde.

Leadership today also requires a set of attributes that many managers usually do not yet have today: Knowledge of and skills with modern digital collaboration tools, and their techniques and strategies.

Im direkten Vergleich zeigt er, welche Fähigkeiten im „network leadership“ zukünftig gefragt sind.

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Führungskräfte stehen vor einer Herausforderung, die noch wenig im Bewusstsein angekommen ist. Sie werden lernen müssen, in den digitalen Kanälen zu führen.

Peter Kruse hat den Paradigmenwechsel der Führung mit Nachdruck beschrieben. Wer den Paradigmenwechsel gestalten will, brauche eine starke Corporate Governance und eine Corporate Social Responsibility. Die praktische Erfahrung mit dem Führen in Netzwerken ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür.

Mehr zum Thema:

Every organization is in essence a wiki – Esko Kilpi

 

Arbeitswelt 4.0 – Zwischen Authentizität und Identifikation

„Sei ganz du selbst“ – frei sein von allen gesellschaftlichen Zwängen und Rollen, jederzeit authentisch sein zu können, das war in den Anfängen der Netzwelt eine verbreitete Vision oder Utopie. Unter dem Etikett „Enterprise 2.0“ wurde einige Jahre lang die Illusion verbreitet, es genüge, ein Social-Software-Tool einzuführen und alle Kommunikationsprobleme im Unternehmen seien damit gelöst. Nach mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung mit den sozialen Netzen in der Welt der Unternehmen und des Internets kehrt Ernüchterung ein. Die neu gewonnene Freiheit führt häufig zu Überlastung und lädt zur Selbstausbeutung ein. Es gedeiht die Erkenntnis, dass wir es mit einem langjährigen Lernprozess zu tun haben. Das neue Schlagwort heisst „Arbeitswelt 4.0“. Haltung und die sozialen Beziehungen im Team sowie zwischen Führung und Mitarbeitenden rücken nun in den Vordergrund.

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk hat die Unternehmensberaterin Mira Chutka kürzlich die Rolle jedes Einzelnen betont, wenn es darum geht, die Herausforderungen der Digitalisierung der Arbeitswelt zu meistern. Es komme darauf an, wie sich jeder Einzelne mit der neuen Arbeitswelt arrangieren kann.

Es gibt Leute, die brauchen einfach festere Strukturen. Wenn Sie diese Leute in ein vituelles Umfeld schmeißen, in ein Umfeld, in dem Vertrauen herrschen soll, und sie können damit nicht umgehen, dann haben Sie ein Problem. Es passt nicht auf alle. Es muss auch immer abgestimmt werden auf das, was ich als einzelner Mensch gerne mag, ob mich das motiviert, wenn ich viele Freiheiten habe, oder ob es mich mehr ängstigt. Das gibt es auch, wenn Menschen vor einer Aufgabe stehen und es wird gesagt: ‚Das machst Du jetzt einfach mal!‘, dass sie dann total schwimmen, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. … Für andere ist das supertoll, weil die endlich die Möglichkeit haben, fast so wie selbständig zu arbeiten.

Wer sich in der digitalen Arbeitswelt sicher bewegen will, braucht ein ausgeprägtes Reflexionsvermögen. Die Menschen sind erst dabei, zu lernen, wie sie mit den Herausforderungen der Digitalisierung und Virtualisierung umgehen sollen. Mira Chutka hat die Erfahrung gewonnen, dass in der Praxis in den vergangenen Jahren schon viel passiert ist. Gore etwa, Vorreiter einer  Unternehmenskultur, die ganz auf gute Beziehungen in kleinen Teams setzt, sei einfach früher dran gewesen an einem Trend, der die ganze Wirtschaft betrifft. Heute erlebe sie Teamkulturen, die auf Selbstorganisation setzten, in vielen Unternehmen.

Menschen und Unternehmen müssen gleichermaßen lernen, Grenzen zu setzen.

Es geht immer um Freiheit in Grenzen. Wenn ich die grenzenlose Freiheit habe, bin ich auch schnell verloren. Ein gutes System funktioniert auch immer nur dann, wenn es Grenzen hat. Dann kann ich mich darin bewegen und habe einen Raum, den ich ausfüllen kann. Wenn ich gar keine Regeln in Unternehmen habe, dann wird es die Leute wahrscheinlich eher verunsichern.”

Das Zukunftsinstitut ist übrigens kürzlich in einem Blogbeitrag über die Authentizität der Zukunft zu ganz ähnlichen Schlüssen gekommen. Menschen können in einer vernetzten Welt auf den verschiedenen Bühnen, auf denen sie agieren, nicht ständig authentisch sein.

Identity Management … ist das, was entstehen kann, wenn das Individuum einer übergriffigen Arbeitswelt und einem übergriffigen Internet mit neuem Selbstbewusstsein gegenübertritt – und Grenzen setzt.

Wieviel jeder in einer bestimmten Situation von sich preisgibt, entscheidet er selbst. Und weil es viel zu kompliziert wäre, diese Entscheidungen von Fall zu Fall zu treffen, entwickelt der Einzelne je nach Sphäre verschiedene Rollen. „Selektive Authentizität“ nenne das der Psychotherapeut Bernd Sprenger. Nicht lügen, aber trotzdem die innersten Überzeugungen und Gefühle schützen. Man muss im Job – und im Netz – nicht alles erzählen.

Auf diesem neu gewonnenen Selbstbewusstsein kann eine hohe Beziehungsqualität gedeihen. Sie ist für Mira Chutka der Schlüssel zu einer Unternehmenskultur, wie sie Frederik Laloux beschrieben hat. Der belgische Unternehmensberater hat mit seinem Buch „Reinventing Organizations“ enorme Aufmerksamkeit erreicht. Er hat versucht, in praktischen Beispielen das Geheimnis von Unternehmen mit offenen Unternehmenskulturen zu entschlüsseln. Sie glaubt, dass das gut funktionieren kann. Es brauche eine Bewusstseinsentwicklung in den Unternehmen.

Ganz generell glaube ich, dass … man wieder zurückkommt zur Frage: Was braucht der Mensch und was ist die Basis für menschliches Arbeiten? Miteinander arbeiten und nicht gegeneinander.

Es gehe gar nicht so stark um die klassischen Hierarchien, sondern: Wie begegnen sich Menschen? Viele Menschen interpretieren Hierarchien mit Augenhöhendifferenz. Ich bin Vorgesetzter und alle, die unter mir arbeiten, sind unter mir – wertmäßig. Das ist das Thema. Es geht weniger darum, dass jemand Führungskraft ist und die andere Person arbeitet zu. Solange ich auf Augenhöhe miteinander umgehen kann, Respekt für die anderen Menschen aufbringe, auch eine gewisse Empathie, wird es sich gar nicht so negativ auswirken.

Peer-Druck und Peer-Abgleich ist letztlich das Effektivste. Die Leute schauen schon auch: Verletzt jemand die Grenze? … Es ist ja nicht so, dass nicht gesteuert wäre, wenn es selbstorganisiert ist.

Damit dies funktionieren kann, müssen Führungskräfte in Unternehmen in erster Linie für Klarheit sorgen.

Klarheit, was wird verlangt, was geht, was nicht, damit die Leute wissen: „In welchem Rahmen befinde ich mich?” Das passiert ja heute oft nicht. Es wird eher im Diffusen verhandelt, wenn überhaupt.

Für diese Klarheit zu sorgen, den Rahmen zu setzen, den Spielraum zu benennen, das prägt heute die Rolle von Menschen mit Führungsverantwortung. Dafür dürfen sie gerne eine „selektive Authentizität“ entwickeln.

 

 

Die agile Rechtsabteilung – Holtzbrinck-Gruppe

Es spricht sich herum, dass sich die sogenannten „agilen“ Methoden nicht nur bei der Software-Entwicklung, sondern in vielen anderen Unternehmensbereichen bewähren. Offensichtlich zeigen sich die Vorteile eines agilen Verständnisses der gemeinsamen Arbeitsgestaltung im Team in der Praxis so deutlich, dass immer mehr Verantwortliche in den Führungsetagen danach greifen.

In einem engagierten Plädoyer hat Stephan Plöchinger im März in seinem Blog für einen agilen Journalismus geworben. Er legt überzeugend dar, welche Chancen in agile Methoden, vor allem im vernetztem Arbeitenden Journalisten und Programmieren, stecken.

Aber auch in Bereichen, die weniger vom technologischen Wandel betroffen sind, halten agile Arbeitskulturen Einzug. Sascha Theißen hat agile Methoden in der Rechtsabteilung der Holtzbrinck-Gruppe eingeführt, wie die Computerwoche im Juni berichtet hat. Gemeinsam haben die Mitarbeitenden die Prinzipien des agilen Manifests auf ihre Arbeit übertragen.  Die Computerwoche nennt ein Beispiel:

Der für Juristen schwierige Punkt „Customer collaboration over contract negotiation“ wurde so übersetzt: „Ziel ist nicht der juristisch perfekte, sondern der bestmögliche Vertrag, der für beide Seiten akzeptabel und praktikabel ist und unnötigen Verhandlungsaufwand vermeidet.“

Wenn sich schon solche IT-fernen Service-Bereiche in dieser Art dem Wandel öffnen, kann ja der agilen Unternehmensführung nichts mehr im Wege stehen.

Mehr zum Thema:

The End of a Job as We Know It – It’s about expertise, not just experience #arbeitswelt

Maslows Bedürfnispyramide übertragen auf Enterprise 2.0

Every organization is in essence a wiki — Esko Kilpi

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Das Maschinenmodell hat ausgedient. Es ist den Anforderungen an die Organisationen in der globalisierten und digitalisierten Welt nicht mehr gewachsen. Viel ist darüber in den letzten Jahrzehnten geschrieben worden. Aktuell viel diskutiert ist die Arbeit von Frederick Laloux, der Organisationen mit neuartigen Strukturen und Kulturen studiert hat. Er sieht als Grundproblem vieler Organisationen, dass sie als Maschine gedacht werden. Aber welche Metapher passt auf die neue Art und Weise, wie sich Arbeit organisiert? Wie wird Wissen produktiv? Wie wird eine Organisation unter den Bedingungen hoher Komplexität und Dynamik effizient?

Esko Kilpi, ein finnischer Unternehmensberater, findet in seinem Blogbeitrag auf Medium, A minimum viable organization — What’s The Future of Work?, eine gleichermaßen überraschende wie naheliegende Metapher.

The machine metaphor led to the belief that if we can only arrange the separate parts and their contributions in the right way, we optimize efficiency. The demands of work are now different: how efficient an organization is reflects the number of links people have and the quality of the links to the contexts of value creation, the things that matter. We are beginning to see the world in terms of relations.

Kilpi weist auf die neuen Architekturen hin, die Glaubenssätze über Arbeit und Zusammenarbeit neu bestimmen.

The wiki was one of the best departures from the division of labor and workflows. Wikis let people work digitally together in the very same way they would work face-to-face.

In a physical meeting, there are always more or less the wrong people present and the transaction costs are very high. Unlike email, which pushes copies of the same information to people to work on, or edit separately, a wiki pulls people together to work cooperatively, and with very low transaction costs. The aim is a common movement of thought.

Er weist darauf hin, dass Ward Cunningham, der das Wiki 1995 erfunden hat, bereits damals auf das Grundprinzip hingewiesen hat, das ein Wiki auszeichnet.

An important principle of the wiki is the conscious emphasis on using as little structure as possible to get the job done; as little organization as possible. It is a minimum viable organization.

Das Wiki kann als ein Idealmodell der Netzwerkorganisation betrachtet werden. Viele der neuen Social-Media-Werkzeuge für die Arbeitswelt funktionieren ähnlich. Doch jede andere Architektur der Zusammenarbeit kann – so gesehen – an diesem Idealmodell ermessen, wieviel mehr an Transaktionskosten sie verursacht, wieviel Abstriche an der Effizienz damit verbunden sind.

Folgen wir diesen anregenden Gedanken, so kommen wir mit Kilpi zu dem Schluss:

Work is interaction between interdependent people. Every organization is in essence a wiki!

Unternehmensmodelle im Wandel (5): Organisationen neu erfinden

Jede Organisation kann sich neu erfinden, meint Frederick Laloux in diesem faszinierenden Vortrag, in dem er sein Buch „Reinventing Organizations“ vorstellt.

Er hat ein Dutzend Organisationen erforscht, die sich einem neuen Führungsverständnis verschrieben haben. Diese Organisationen sind radikal anders. Aber sie werden von der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen.

Zum Beispiel: Buurtzorg. Eine niederländische Organisation, die professionelle Nachbarschaftshilfe bereitstellt. Die Teams organisieren ihre Arbeit selber und achten selbstverantwortlich auf ihre Wirksamkeit.

Diese Art der Sozialarbeit gibt es in den Niederlanden schon seit dem 18. Jahrhundert. In den 1990er Jahren gab es Initiativen, die Arbeit nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten umzuorganisieren. Skaleneffekte nutzen, Arbeitsabläufe standardisieren, höherwertige von geringerwertigen Tätigkeiten unterscheiden, Call Center. Die Folge: Mitarbeitende und Klienten waren gleichermaßen unzufrieden. Die menschliche Begegnung hatte allzu sehr gelitten. 2006 hat sich eine kleine Gruppe zusammengetan und das Heft selber in die Hand genommen. Das war die Geburtsstunde von Buurtzorg. Heute, nur acht Jahre später, sind 80% der Professionellen in diesem Bereich der Sozialarbeit in kleinen selbstverantwortlichen Teams organisiert. Das sind ungefähr 8000 Menschen. Sie werden von einer kleinen Zentrale mit 25 Menschen betreut. Regiocoaches unterstützen die Teams beim Lernen der Selbstorganisation.

Andere Beispiele sind Morning Star, die Heiligenfeld Kliniken oder Patagonia. Experimentierende Unternehmen finden sich in den unterschiedlichsten Branche.

Nach der herrschenden Meinung über Führung funktioniert eine Organisation ungefähr so. Der Chef gibt die Vision vor und entwickelt eine Strategie zur Umsetzung dieser Vision. Laloux sieht das hintergründige Problem in dieser Grundauffassung.

Wenn man die Organisation als Maschine sieht, braucht sie ein Programm. Sonst tut sie nichts.

Anders ist es, wenn man Organisationen als lebende Systeme betrachtet. Eine Organisation, stellt Laloux fest, habe selbst einen Sinn für die Richtung, einen schöpferischen Impuls.

Sie hat etwas, das sie manifestiert sehen möchte.

Die Rolle der Führung ändert sich damit grundlegend: Hinhören, wohin sich die Organisation bewegen möchte, wo sie gewissermaßen „natürlich“ hinstrebt, was geschehen möchte. Sich damit verbinden. Strategie, Change Management, Planung – alles machen diese Organisationen anders.

Selbstmanagement ist ein wesentlicher Hebel der neuen Unternehmensführung. Es funktioniert in der Praxis z.B. mit dem „advice process“: Jede Person im Unternehmen kann jede Entscheidung treffen, auch Geld ausgeben, wenn sie den Rat der Menschen mit der relevanten Expertise eingeholt hat und von den Menschen, die mit der Entscheidung leben müssen. Das ist ein Prozess kollektiver Intelligenz.

Einer der wenigen Wege, eine solche Organisation zu beschädigen, ist, den „advice process“ zu missachten.

Viele Unternehmen sind heute unzufrieden mit der Hierarchie, mit Bürokratie,  Planungszyklen und Zielvereinbarungen. Aber viele gehen nur den halben Weg, so die Erfahrung von Laloux. Dann entsteht Chaos. Gefordert sei ein konsequentes Wechseln von einem kohärenten System zu einem anderen kohärenten System. Dazu sind alle Elemente der Steuerungslogik zu überdenken und neu zu justieren: Wie entscheiden wir? Wie investieren wir? Wie lösen wir Konflikte?

Ein Beispiel: Keine dieser Organisationen hat eine Strategie. Und alle sind außergewöhnlich erfolgreich. Sie haben eine sehr klare Intention, einen klaren Sinn. Keine Budgets, keine Ziele. Sie sagen: Alles, was wir in den Boden rammen, lenkt von der Realität ab.

Eine unabdingbare Voraussetzung für eine solch tiefgreifende Transformation könnte sich freilich schnell als Engpass erweisen. Der CEO und das Board müssen von dem Modell zutiefst überzeugt sein!

Siehe auch

Was gute Führung ausmacht (7): Scharmer und das Zuhören

Hören

Unternehmen als soziales Gehirn der Gesellschaft – Peter Kruse über die Studie zur deutschen Führungskultur

Die Führungskräfte in Deutschland haben längst unbewusst erkannt, dass es jetzt um ein grundlegend neues Verständnis unserer Art zu Wirtschaften geht, meint Peter Kruse. Nach einer ersten Studie der Wertemuster von Führungskräften hat er nun die Ergebnisse einer zweiten vertiefenden Befragung für das Forum gute Führung vorgelegt.

Im Interview erläutert Peter Kruse wie und weshalb Führung zu einem gesellschaftlichen Thema avanciert ist.

Das Thema Führung ist deshalb in’s Spiel gekommen, weil eben auch Führung nicht mehr mit fertigen Konzepten arbeiten kann. Dann wird hierarchisches Tun immer schwieriger. Also, wenn alle mich angucken und fragen: Wo geht die Reise hin? und ich muss sagen: ‚Hallo, lasst uns mal gemeinschaftlich ausprobieren, wo die Reise hingeht.‘, dann fragt man sich natürlich: Was ist denn dann in diesem Kontext noch Führung?

Kruse sieht einen gesamtgesellschaftlichen Suchprozess, den wir alle erleben.

Wir sind am Anfang eines kulturell-subversiven Prozesses, der uns die nächsten Jahrzehnte beschäftigen wird.

So zitiert er Wolfgang Coy, der schon 1993 auf diesen langfristigen Prozess hingewiesen habe.

Unsere Kultur muss lernen, aus der klaren individuellen Orientierung herauszutreten und sich selber bewusst zu machen, dass wir in einem gemeinschaftlichen Suchprozess sind.

Dieser Suchprozess sei nur gemeinschaftlich, nicht über das Individuum zu lösen.

Wir müssen lernen. Wir waren jahrelang gewohnt, Theoriebildungsprozesse zu machen. […] die Theorie hat uns in die Lage versetzt, mit der Wirklichkeit geordnet umzugehen. Jetzt sind wir in einer Situation, in der die Theoriebildungsprozesse langsamer sind als die Realität. Das heißt, wir sind gezwungen, uns ganz der Situation zu öffnen. […] Wir müssen wieder lernen, mehr wahrzunehmen. Wir müssen uns klarmachen, es geht nicht mehr deduktiv. Es geht nicht mehr von einem Theoriezusammenhang zur Wirklichkeit, sondern induktiv, von der Wirklichkeit zu einem schnellen Verstehen von Zusammenhängen. Und das bedeutet, die Begriffe Induktion und Heurismus werden ganz zentral. Was mich fasziniert ist, dass Menschen in ihrem Alltagsleben dies auch ganz gezielt suchen.

In der Wirtschaft ist, so schätzt es Peter Kruse ein, die Bereitschaft, mit den Menschen zu denken, statt für die Menschen zu denken, schon deutlich größer als in der Politik. Hier müsse Politik lernen …

[…] dass man merkt, es geht nicht um Akzeptanzerhöhung. Das ist immer noch in den Köpfen von Politikern. Ich mache eine Entscheidung und dann beteilige ich die Menschen, um ihre Akzeptanz zu bekommen. Es geht nicht darum, die Akzeptanz zu erhöhen, sondern es geht darum, die Lösungen gemeinschaftlich zu entdecken. Und da haben die Leute in der Wirtschaft schon ganz gute Erfahrungen gemacht, dass das funktioniert, und dass das zu ganz neuen Formen der Motivation und […] Identifikation führt.

Damit stellt sich auch die Frage nach Vorhersagen für die Zukunft in einem anderen Licht. Die relevante Analyseeinheit sei nicht mehr das Individuum, sondern die Kultur.

Als das, was wir zwischen den Individuen aushandeln. Die Analyseeinheit wären dann kulturelle Kraftfelder. […] Die Menschen lassen sich immer mehr auf Kontexte ein. Das heißt, wir können sicher vorhersagen, dass für die Marktforschung ein Zielgruppenkonzept einfach nicht mehr funktioniert. Die Konstante im Individuum ist nicht mehr da. […]

Wohin driftet unsere Kultur? Wenn wir uns diese Erkenntnisebene erschließen, dann können wir noch Vorhersagen machen.

Aus der Befragung zieht er die Schlüsselerkenntnis,

dass der Erlaubnisraum für gesellschaftliche Themen bei den Führungskräften riesengroß ist. […] Wir sind in einer Situation, in der sich die Führungskräfte ausgebremst fühlen durch die alte Renditeorientierung. […] Das kulturelle Kraftfeld sagt, wir haben uns 20, 30 Jahre lang … in eine völlig falsche Richtung entwickelt. […] Dass Begriffe wie Coaching eine solche Bedeutung erlangen, hat damit zu tun, dass das Spannungsverhältnis, das die [Führungskräfte] spüren, sehr, sehr groß ist. Die machen etwas, weil sie es machen müssen, weil das Managementsystem es ihnen abverlangt. Die sitzen in Kennzahlenorientierungen, in Zielvereinbarungen, die sitzen in all dem drin. […]

Es geht um die grundlegende Neuorientierung von Wirtschaften.

Kruse hinterfragt auch die gängige Meinung, dass Angst oder Begeisterung unabdingbare Voraussetzungen für das Neue wären.

Ich habe früher geglaubt, es muss Katastrophe sein, es muss Angst da sein oder es muss Faszination da sein, das Neue muss schon ganz klar sein, damit sich Leute auf den Weg begeben.

Das ist […] ein sehr glücklicher Fall, etwas Neues damit beginnen zu können, dass man schon eine elaborierte Vision hat. Das ist schön, aber unserer Wirklichkeit nicht mehr adäquat.

Enterprise 2.0 sieht er als verschärfenden Faktor. Denn die klassischen hierarchischen Strukturen mit ihren üblichen Vorgehensweisen ließen sich nur noch bedingt beibehalten.

Das hat mal begonnen mit Team. Das war so er erste Schritt, dass man gemerkt hat: Na ja, der Einzelne, der alles im Griff hat, der wird es nicht mehr sein. […] Auf diesen Team-Begriff kommt nun der Netzwerk-Begriff inzwischen oben drauf. […] Man hat dann das Team, das ein Impulsgeber ist, und erhofft sich vom Netzwerk noch mehr Impulse. […] Wenn man das aber in die Netzwerk-Richtung schiebt, dann bekommt man ein Problem mit der zentrierenden Mitte. Man hat nichts mehr, was einen zusammenhält. Netzwerke haben eine höhere Zentrifugalkraft. Sie streben stark auseinander. Dann brauche ich zumindest so etwas wie eine gemeinschaftliche Vorstellung, wo soll die Reise hingehen? Da muss ich Rahmenbedingungen setzen, die in der Selbstorganisation aus dem, was möglich ist, das macht, was ich haben will.

Das Ideal: Auf der Basis einer gut ausgehandelten Wertestruktur in eine maximale Dynamik hineingehen. Dann, so Kruse, hat man ein soziales Gehirn.

Unternehmensmodelle im Wandel (3) – Heterarchie

In der Heterarchie ist es der andere, der eine Entscheidung trifft. … Das ist eine zirkuläre Struktur. Es regieren alle miteinander und füreinander. Jeder muss auf seinen Nachbarn hören, der auf seinen Nachbarn hören muss, der er selbst sein kann.

So hat Heinz von Foerster im Interview mit Bernhard Pörksen die Heterarchie beschrieben. Im Video lesen Holger Koscher und Rolf Drähter Passagen aus dem Buch „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, das dieses Interview dokumentiert. (Über die Logik der Hierarchie und Heterarchie s. im Video ab ca. 9:30.)

Nach einem Beispiel für eine Heterarchie gefragt, erzählt von Foerster von der Schlacht an den Midway-Inseln zwischen der japanischen und der amerikanischen Flotte. Als erstes sei das amerikanische Flaggschiff getroffen worden, das die Kommunikationszentrale war. Die Flotte habe – ganz unbewusst – umgehend von Hierarchie auf Heterarchie umgeschaltet und die zahlenmäßig weit überlegene japanische Flotte vernichtend geschlagen.

Markus Reihlen hat sich 1998 in einer wissenschaftlichen Arbeit mit der Heterarchie auseinander gesetzt. Er legt dar, weshalb sozialen Systemen gar keine Wahl bleibt, als eine Alternative zum alten Bürokratiemodell zu suchen.

In der postmodernen Gesellschaft reicht es nicht mehr aus, wenn  Organisationen nur Stabilität garantieren, sondern sie müssen auch Anpassungsfähigkeit beweisen. Das Bürokratiemodell hat in den Zeiten der Massenproduktion diese Verlässlichkeit und Stabilität zuverlässig hergestellt. Da es Anpassungsfähigkeit nicht herstellen kann, bleibt nur die Suche nach einem alternative Modell der Gestaltung von Organisationen, das einer grundlegend anderen Logik folgt.

Wird das Hauptproblem der Systemgestaltung nicht mehr in der Stabilität gesehen, sondern in ihrer Anpassungs- und Lernfähigkeit, dann erweist sich das platonische Ideal einer systematischen Ordnung … als überholt.

Und weiter:

Dieser Wettbewerb stützt sich auf die unternehmerische Initiative und Dynamik, neues Wissen kontinuierlich zu erfinden und in die Erstellung von Gütern und Dienstleistungen einzusetzen, um gute ökonomische Marktergebnisse zu erzielen. In einem solchen Wettbewerbsumfeld wird Wissen zum eigentlichen Motor und zur führenden Größe unternehmerischen und volkswirtschaftlichen Wachstums, so dass die „nachmoderne“ Industriegesellschaft auch als „Wissensgesellschaft“ bezeichnet wird.

Die Heterarchie kann als Ideal einer nicht-hierarchischen Organisation aufgefasst werden. Sie verspricht, den Weg für spontane Selbstorganisation, Eigeninitiative und Eigenverantwortung frei zu machen und die schöpferischen Fähigkeiten der Mitarbeiter sowie die organisatorische Flexibilität deutlich zu steigern. … Koordination in Heterarchien wird durch horizontale Abstimmung zwischen prinzipiell gleichberechtigten und relativ voneinander unabhängigen Entscheidungsträgern erreicht, die ihre Entscheidungen durch gegenseitige Übereinkunft fällen. Dem Weisungsprinzip der Hierarchie wird damit das Verhandlungsprinzip der Heterarchie entgegengesetzt … (S. 8)

Transparenz der Entscheidungsfindung, Zugänglichkeit von Informationsquellen und faire Konfliktregelungsmechanismen sind wichtige Merkmale einer heterarchischen Organisation.

Aus diesem Grunde ist der Prozess der Aussprache und Willensbildung so zu organisieren, dass ein Maximum an authentischer Beteiligung erreicht werden kann. … Heterarchische Systeme verfügen … auch über höhere Informationsverarbeitungskapazitäten und können das dezentralisierte Wissen ihrer Mitglieder besser in Entscheidungsprozessen integrieren, als dies in Bürokratien der Fall ist. (S. 9)

Aber wie soll man sich das praktisch vorstellen, wenn sozusagen alle bei allen Entscheidungen mitreden sollen? Reihlen verweist dazu auf Fritz W. Scharpf:

Das „Problem der großen Zahl“, wie es Scharpf nennt, macht ein rein heterarchisches System organisational entscheidungsunfähig. Heterarchien müssen deshalb die Möglichkeit berücksichtigen, temporäre Hierarchien auszubilden. (S. 10)

In einem Beitrag für das Deutschlandradio macht sich Mathias Eckholdt Gedanken über die Selbstorganisation.

So steckt in der Theorie der Selbstorganisation letztlich ein neues Welt- und Menschenbild, das radikal Abschied nimmt von Zwang und Kontrolle.

Fritz B. Simon in diesem Hörfunk-Beitrag:

Das ist bei Managern gut zu beobachten: Die Hoffnung, alles unter Kontrolle zu bekommen. Kriegt man nicht! Aber es ist ja auch viel lustiger, wenn man nicht alles unter Kontrolle hat. Wäre ja schrecklich, wenn man alles unter Kontrolle hat. Diese Kontrollideen sind doch mit dem realexistierenden Sozialismus gestorben. Das war doch ein großer Feldversuch, dass man alles steuern kann, planen kann, durchkontrollieren kann. Das ist einfach nicht sexy. … Es ist nicht wirklich ein lustvolles Leben. Weder für den, der alles unter Kontrolle hat – vielleicht für den noch, aber da muss er auch schon spezifische psychische Strukturen haben – das ist durchaus behandlungsbedürftig und schwierig zu behandeln, aber für alle andere sicherlich nicht. Es ist unkreativ.

Heterarchie bedeutet also keineswegs Verzicht auf Ordnung, setzt aber ein Vertrauen in die ordnende Kraft der Selbstorganisation voraus. Nochmal Heinz von Foerster.

Das Bewusstsein des Bewusstseins ist Selbstbewusstsein, das Verständnis des Verständnisses ist ein Selbstverständnis, und die Organisation einer Organisation ist Selbstorganisation. Ich würde vorschlagen, dass immer, wenn das Selbst auftaucht, dieses Moment der Zirkularität betont wird. Die Konsequenz, das Selbst erscheint nicht als etwas Statisches oder Festes, sondern wird permanent und immer wieder erzeugt.

Ähnlich wie Reihlen betrachten auch andere Hierarchie und Heterarchie als duales Führungssystem „in friedlicher Koexistenz“. In einem Interview mit Ulrike Reinhard – abgedruckt in dem Buch „Wenn Anzugträger auf Kapuzenpullis treffen“ – betont beispielsweise Peter Kruse (S. 84):

… wenn man viele Menschen in einem Netzwerk zulässt! Dann entstehen eben auch sehr viele Ideen. Welche davon ist dann die Richtige? Welche Idee verspricht Erfolg? Nehmen wir einmal an, die richtige Idee wäre herausgefunden, dann ist der nächste Schritt, die Umsetzung der Idee, also der Schritt von der Invention zur Innovation. Und wenn Sie Innovation betreiben, müssen sie Kräfte vereinen. Das heißt, sie müssen punktgenau vorgehen und da ist hierarchisches Handeln durchaus angesagt. Man soll nicht meinen, dass Hierarchie abgelöst wird durch die Netze. Nur die Funktion wird spezifischer. Ich muss in der Lage sein, beides zu beherrschen. Wenn Sie so wollen, geht es darum, Leadership-Kompetenz um weitere Facetten zu ergänzen.

Übrigens setzt neuerdings auch John Kotter, einer der bekanntesten Vordenker des Change Managements, auf die Kraft des Netzwerks (s. Die Kraft des Netzwerks – Change Management für eine beschleunigte Welt. In: OrganisationsEntwicklung Nr. 3/2014, S. 46ff.)

Beide Systeme, das Netzwerk und die Hierarchie, arbeiten als EIN System. Es handelt sich um eine untrennbare Verbindung zwischen der Hierarchie und dem Netzwerk, mit einem kontinuierlichen Austausch von Informationen und Aktivitäten zwischen beiden. (S. 47)

Bei soviel Überzeugung, dass ein hybrides Organisationsmodell unausweichlich ist, drängt sich die Frage auf, wie dieses Neben- oder Miteinander von Hierarchie und Netzwerk, von Bürokratie und Heterarchie, ganz praktisch aussehen soll. Wie sehen temporäre Hierarchien aus? Wie soll man sich eine Heterarchie in der Praxis vorstellen? Lösen sich die stabilisierenden Strukturen auf? Wie soll Orientierung entstehen, wenn alle mitreden und Führungsrollen laufend wechseln?

Mit dem „Relationalen Management“ hat Sonja Radatz ein Modell entwickelt, das für sich beansprucht, die Idee der Heterarchie praxistauglich zu machen – und die Hierarchie hinter sich zu lassen! Zwei Elemente in ihrem Modell schaffen die Voraussetzungen für die Abkehr von der Hierarchie (s. Radatz, Sonja: Trendbuch 2014, S. 126ff). Erstens: Die Unternehmensleitung gestaltet den Rahmen der Organisation, der beschreibt, welche Ergebnisse die Organisation laufend braucht, wenn sie nachhaltig erfolgreich sein soll. Zweitens: Die Organisation unterscheidet

zwischen dem Strategischen Treiber als jenem Bereich im Unternehmen, aus dem die Unternehmensleitung zukünftig die Erfüllung des Unternehmensrahmens abholt, … und allen anderen Bereichen, den Support-Bereichen, die dem Strategischen Treiber vor- oder nachgelagert sind und nur dafür da sind, dass der Strategische Treiber optimal sein Ergebnis erbringen kann; ihm also komplett und ausschließlich zuarbeiten. Was nicht bedeutet … dass der Strategische Treiber „mehr Wert“ wäre als die Support-Bereiche.

Im relationalen Modell ist die Vernetzung, wenn man so will, das Mittel der Wahl, um die Organisation unter den Bedingungen hoher Dynamik und Komplexität stetig am Unternehmenszweck auszurichten. Die Verlässlichkeit der Organisation erwächst förmlich aus ihrer Anpassungsfähigkeit. Voraussetzung: Eigenmotivierte Mitarbeitende, die die Organisation dauerhaft und bewusst gestalten, die ihren Vertrag mit dem Unternehmen leben, die „im Boot“ sind.

Noch einmal Heinz von Foerster (s. Video ab Min. 20).

Wenn sich etwas organisiert, nimmt der Grad der Ordnung zu. … Was erforderlich ist, bevor man über Selbstorganisation sprechen kann, ist ein Maß für die Zu- oder Abnahme von Ordnung.

Auf die Vermutung des Interviewers Pörksen, dass ein Manager als Kriterien für das Maß einer in diesem Sinne besseren Organisation seine Bilanzen auf den Tisch legen, Zahlen nennen und von steigenden Umsätzen sprechen würde, meint von Foerster:

Wenn er diesen Bewertungsmaßstab zugrundelegt, wäre es ihm egal, ob sich die Menschen in seinem Betrieb wohl fühlen, ob sie viel oder wenig verdienen. Die Folge, das Downsizing, die Verkleinerung der Belegschaft und der Hinauswurf zahlreicher Mitarbeiter erscheint als eine erstrebenswerte Strategie. Auf diese Weise spart man Gehälter und Versicherungssummen. Der Manager, der eine solche Strategie wählt, nimmt den Betrieb nicht als einen Gesamtorganismus wahr, sondern er sieht nur den Profit, und nicht die Gesundheit, die Freude und das Wohlbefinden derjenigen, die für ihn arbeiten. Das ist der Grund, warum es mir so wichtig ist, die Kriterien herauszuarbeiten, die man zugrundelegt, um von einer Verbesserung des Grades einer Organisation zu sprechen. Ansonsten bleibt es unklar, ob die Rede von der Selbstorganisation eigentlich gut oder schlecht ist.

… Aus meiner Sicht sind ein heterarchischer Kommunikationsmodus und die Wahrnehmung des Betriebes als ein Ganzes die entscheidenden Kriterien. Jeder hat in einem heterarchisch organisierten Betrieb eine Stimme, die, wenn es um die Verbesserung des Produkts geht, gehört werden kann. Es diskutieren zum Beispiel die Leute aus der Design-Abteilung mit denen an der Drehbank über die kümmerliche Aufmachung eines Produkts, das es zu verändern gilt. Man könnte auch sagen, dass einzelne heterarchische Inseln, einzelne Abteilungen, sich zu einem kooperierenden Netzwerk zusammenschließen.

… Aufgabe des Managers ist es, dafür zu sorgen, dass alle Mitarbeiter zu der Auffassung gelangen, dass sie in einem funktionierenden, freundlichen und guten Betrieb arbeiten. Sich und seine Mitarbeiter in den Fluss der Selbstorganisation einbinden, so dass alle Mitarbeiter die Selbstorganisation erreicht und berührt. … Die Organisation organisiert sich selbst, auf eine Weise, die allen Freude macht.