Was gute Führung ausmacht (18): Edgar Schein über Leadership als Gruppensport

Ein spannendes Interview hat Egon Zehnder mit Edgar Schein geführt. Darin wendet sich der große Vordenker der Organisationspsychologie gegen ein in unserem Wirtschaftsmodell nach wie vor stark auf Einzelpersönlichkeiten ausgerichtetes Führungsverständnis, das ganz auf Richtungsvorgaben, auf Kommando und Kontrolle, baut.

Das größte Hemmnis für Menschen in Führungspositionen ist, dass sie nicht wirklich wissen, was sie neu und besser machen wollen. Manchmal fehlt eine klare Vorstellung. Oder ihre Sichtweise, was neu und besser wäre, basiert nicht auf Tests mit Kollegen und direkten Erfahrungen, sondern erweist sich als überhaupt nicht umsetzbar. Der Grund liegt auf der Hand: In einer immer komplexeren Welt wissen Führungskräfte einfach nicht genug, um alleine zu entscheiden, was neu und besser ist. Führung ist deshalb ein Gruppensport und keine individuelle heroische Aktivität.

Führung, die in dieser ausgeprägten Weise aufeinander und auf die Mitarbeitenden angewiesen ist, lebt von der Fähigkeit, eine gemeinsame Verantwortung zu entwickeln. Die Vorstellung, dass alle einer einzigen und einheitlichen Zielsetzung folgen, gehört für Schein ebenfalls zu den Missverständnissen, die die heutige Managementkultur immer noch prägt.

Der Begriff »Purpose« und sein Konzept kommen aus der Psychologie. Ich habe festgestellt, dass das meiste, was aus der Psychologie kommt, in der menschlichen Arena ziemlich nutzlos ist. Ich bin selbst Psychologe, also darf ich das sagen. Die Psychologen haben nie verstanden, dass jede innere Motivation auf die Sozialisation in einer Kultur, Gruppe oder in einem Stamm zurückgeht. Und auf diese Stammesregeln kommt es an. Der »Purpose«, die Zielsetzung, ist wichtig, wenn mein Stamm sagt, dass ich dies oder jenes tun soll. Denn wenn ich es nicht mache, wird mir das sofort signalisiert. Ich betrachte den Einzelnen als das Ergebnis vieler Ebenen der Sozialisation und des Lernens von den Gruppen, zu denen er oder sie gehört hat. Unsere stärksten Motivationen und Persönlichkeitsmerkmale sind das Ergebnis unserer Gruppenerfahrungen, angefangen bei der Familie.

[…] Lassen wir also das ganze psychologische Zeug fallen und konzentrieren uns mehr auf Kultur: Ethnografie, Stämme, Gruppen – also darauf, wie die Dinge wirklich funktionieren. Und da findet Führung statt, in der Gruppe. 

Schein hält dem rollenbasierten Sozialmodell, das dem alten Verständnis von Führung und Leadership zugrundeliegt und das die Menschen zueinander auf Distanz hält, ein Modell enger persönlicher Beziehung, des „Persönlichmachens“, entgegen.

Das nennen wir dann eine »Level-2-Beziehung« oder auch »professionelle Nähe«. Wenn die Führungsperson nicht erkennt, dass sie auf diese Art von Beziehungen angewiesen ist, um etwas zu bewegen, dann wird nichts passieren. Stattdessen wird sie lamentieren: »Die Bürokratie hat mich schon wieder ausgehebelt.« Dabei stärkt sie selbst die Bürokratie dadurch, dass sie auf Distanz bleibt. Der Knackpunkt ist also: Wir kommen wir einander näher? Das ist gar nicht so schwer. Stellen Sie ein paar einfache Fragen: Wo wohnen Sie? Wie gefällt es Ihnen hier? So machen wir unsere Beziehung persönlich. Aber nicht dadurch, dass Sie mir mehr von Ihrer Arbeit erzählen. Anschließend ist es einfacher zusammenzuarbeiten, denn wenn ich Sie dann frage, wie es in Ihrem Arbeitsbereich wirklich läuft, sagen Sie mir die Wahrheit. Wenn ich aber auf Distanz bleibe, denken Sie: »Ich frage mich, was Ed hören will. Ich sage ihm lieber etwas, das ihm gefällt.« Im Ergebnis arbeite ich mit blinden Flecken. Die wichtigste Antwort auf die Frage, was wir anders machen müssen, lautet also: persönliche Beziehungen aufbauen.

Ein lesenswertes Interview mit vielen erhellenden Beispielen aus Scheins Beratungspraxis.

Unternehmensmodelle im Wandel (17): Digitalisierung, DAOs und die Disruption der systemischen Beratung

Digitalisierung gilt in fast allen Branchen als Herausforderung, die die Lebensfähigkeit der Organisationen bedroht. Bedrohlich ist diese Situation nicht zuletzt deshalb, weil sich viele Manager ziemlich ratlos diesem beispiellosen Phänomen ausgesetzt fühlen. Wer häufiger mit Unternehmensberatern zu tun hat, wird feststellen, dass auch viele Berater, auch die mit einem systemischen Hintergrund, ähnlich ratlos vor diesem Phänomen stehen, wie ihre Auftraggeber. Jan A. Poczynek, selbst Berater bei der OSB International, hat sich intensiv mit dem disruptiven Wandel der Beraterbranche selbst befasst.

I

Die Digitalisierung lässt keine Branche aus. Sie betrifft nicht nur die Wirtschaft. Die gesamte Gesellschaft durchläuft eine digitale Transformation. Auch die Beratung wird sich mit der Verbreitung von Künstlicher Intelligenz, Sensorik, dem Internet der Dinge, Blockchain und anderen Technologien grundlegend verändern. Berater müssen damit rechnen, dass auch ihre eigenen eingespielten Geschäftsmodelle von neuen Formen der Beratung verdrängt werden.

II

Dabei, meint Poczynek, sei gerade die systemtheoretisch fundierte Beratung wie geschaffen für die digitale Welt. Nur, das reiche nicht aus. Notwendig sei ein Verständnis für exponentielle Entwicklungen, die für den technologischen Wandel und disruptive Brüche typisch seien. Häufig sei gar nicht bekannt, was Disruption bedeute. Ein bekanntes Beispiel für eine exponentielle Kurve ist Moore’s Law. Neue Technologien erzeugten massenhaft neue Lösungen, Innovationen, aber auch neues Kundenverhalten.

Die Bedeutung der Technologiekompetenz ist ein blinder Fleck in der systemischen Community.

Wie weit die Wirkung neuer Technologien im angestammten Aktionsfeld systemischer Berater reichen kann, zeigt Poczynek u.a. am Beispiel der DAOs, Decentralized oder Distributed Autonomous Organizations. Für diese hybriden sozialtechnologischen Systeme fehlten uns Theorien und Interventionen.

Was passiert, wenn wir konventionelle Organisationen nicht mehr brauchen, weil reine Peer-to-Peer-Kommunkation das Problem löst?

Poczynek empfiehlt, hierzu eines der vielen Videos im Netz anzuschauen.

Dieses Video zeigt, wie gegenwärtige Organisationsformen schon längst dabei sind, sich in diesem Sinne zu verwandeln. Die Akteure der Plattformökonomie nutzen typischerweise heute schon hybride Organisationsformen, in denen klassische Unternehmensmodelle mit Modellen automatisierter und verteilter Organisation verbunden sind. 

Die Grundprinzipien von solchen verteilten Systemen sind Feedback, Selbstorganisation und Autonomie. Diese Systeme bauen auf die Blockchain-Technologie, die eine Kommunikation auf der Basis von Vertrauen ermöglicht.

Wie weitreichend die Protagonisten die Grundidee der DAO einschätzen, deutet ein Blog-Beitrag eines Blockchain-Anbieters an.   

We could have companies without CEOs or hierarchy. The uses for such an infrastructure are tremendous in scale. If regulatory structures permit, blockchain data could replace many public records like birth certificates, marriage certificates, deeds, mortgages, titles, sex offender records and missing persons. Healthcare clinics can function autonomously, cab companies can control a fleet of driverless cabs, a software development company can employ thousands of independent programmers. The list is quite large and a DAO model can be applied to almost any business.


Ein Beispiel aus der Welt der digitalen Medien liefert Forbes. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin experimentiert mit der Plattform für Blockchain-Journalismus Civil und verbindet damit die Hoffnung, das Vertrauen der Nutzer zu festigen, neue Formen der Interaktion mit den Lesern zu finden und die Reichweite zu erhöhen. Die Metadaten ausgewählter Artikel werden an die Blockchain geschickt und dort fälschungssicher archiviert. Ein Kennzeichen neben Artikeln auf forbes.com signalisiert, dass der Inhalt in die Blockchain eingetragen wurde und mit Civils journalistischen Werten übereinstimmt. Auf der Homepage von Civil heisst es:

Unlike Facebook and Google, newsrooms can trust Civil. It’s transparently owned and operated by an engaged community of people who care about journalism, not an all-powerful corporation with opaque motives. Newsrooms on Civil are committed and accountable to producing ethical journalism.

Abgerufen am 13.12.2018

III

Zurück zur Herausforderung solcher technologischer Entwicklungen für  Berater.

Dieser Bericht der Deutschen Welle stellt eine Beraterin vor, die Unternehmen über Blockchain und die damit verbundenen sozialen und ökonomischen Möglichkeiten informiert. Das Beispiel zeigt zugleich, wie Medien auf diese neue Stufe des digitalen Wandels aufmerksam werden. Wenn die Autorin des Beitrags die Expertin zu einer „Blockchain-Königin“ überhöht, zeigt sich darin gleichwohl auch, wie fremdartig und irritierend sich diese Entwicklung nicht nur für Berater, sondern auch für Journalisten anfühlt. 

Was können Berater in dieser Situation tun? Jan A. Poczynek sagt:

Die größte Herausforderung in der digitalen Transformation ist die unvermeidbare Selbstbetroffenheit, die eine existenzielle Bedrohung auslösen kann.

Angesichts dieser Selbstbetroffenheit empfiehlt er, zunächst neu hinzuschauen, mehr hinzuschauen, mit einem „Beginner’s Mind“ hinzuschauen und zu versuchen, loszulassen. Und dann: Handeln.

Übrigens haben der Stifterverband und McKinsey kürzlich eine Studie vorgelegt, in der sie einen Futur-Skill-Framework mit Kompetenzen vorstellen, die in den nächsten fünf Jahren wichtiger werden. Besonders interessant für Berater sind nach meinem Eindruck die „digitalen Grundfähigkeiten“:

Digital Literacy Grundlegende digitale Skills
beherrschen, z.B. sorgsamer
Umgang mit digitalen persönlichen Daten, Nutzen gängiger Software,
Interagieren mit KI
Digitale Interaktion Bei Interaktion über Online-Kanäle andere verstehen und sich ihnen
gegenüber angemessen verhalten
(„Digitaler Knigge“)
Kollaboration Unabhängig von räumlicher Nähe und über verschiedene Disziplinen und Kulturen hinweg effektiv und effizient in Projekten zusammen-
arbeiten, um als Team bessere
Resultate als Einzelpersonen zu
erzielen
Agiles Arbeiten In einem für ein Endprodukt
verantwortlichen Team iterativ
(„Rapid Prototyping“) genau das
erarbeiten, was dem Kunden
Mehrwert stiftet
Digital Learning Aus einer Vielzahl digitaler
Informationen valides Wissen zu
ausgewählten Themengebieten aufbauen
Digital Ethics Digitale Informationen sowie
Auswirkungen des eigenen
digitalen Handelns kritisch hinter-
fragen und entsprechende ethische Entscheidungen treffen


Was gute Führung ausmacht (14): Dirk Baecker über Erwartungsmanagement und die neue Selbstermächtigung der Organisation

Hierarchien spielen eine heilsame, stressreduzierende Rolle in den Prozessen der Selbstorganisation einer Organisation. Daran erinnert Dirk Baecker in einem aufschlussreichen Interview in der Online-Ausgabe der Zeitschrift Organisationsentwicklung. Der Prozess der Befreiung von Organisationen aus ihren Silostrukturen und ihrer Öffnung für Netzwerkstrukturen sei zwar keine Mode, sondern ein schon seit den 1930er Jahren laufender Prozess. Dieser Prozess widerspreche jedoch jahrtausendealten Erwartungen an Hierarchie und Einheit. Deshalb, so dämpft Baecker manche Euphorie in der aktuellen Debatte, werden wir auch noch einige weitere Jahrzehnte mit diesem Phänomen zu tun haben.

Doch natürlich hat sich vieles in den Organisationen verändert. Das lässt sich etwa an den gewachsenen Anforderungen an die Zusammenarbeit in und zwischen Teams, an „agilen“ Arbeitsweisen  und an der deutlich gewachsenen Eigenverantwortung der Mitarbeitenden ablesen. Dirk Baecker betont vor diesem Hintergrund zwei Aufgaben, die er der Führung zuschreibt. Beide dienen der Regulierung der Erwartungen der Mitarbeitenden. Die erste Aufgabe: die Mitarbeitenden zum eigenverantwortlichen Handeln befähigen.

Ich glaube, dass Führung im Wesentlichen Erwartungsmanagement ist: das Management der Erwartungen der Geführten. Nichts ist ja wichtiger als die Befähigung aller Mitarbeiter zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben und zur wachsamen Beobachtung aller dafür erforderlichen Umstände. Tendenziell macht sich Führung damit überflüssig. Aber eben nur tendenziell. Organisationen brauchen Führung als Adresse des Scheiterns von Erwartungen, dass man gesagt bekommt, was man zu tun hat.

Die zweite Aufgabe der Führung: starke Symbole setzen.

In welche Richtung kann es gehen? Welche Entwicklungen im Umfeld der Organisation sind wichtig, welche nicht? Mit welchen Ressourcen, welchem Mut zu Investitionen geht man neue Aufgaben an? Welche Einstellungen zu Experiment, Risiko und Scheitern werden gepflegt? Auch das ist Erwartungsmanagement, das es den Mitarbeiten ermöglicht, einzuschätzen, worauf sie sich mit eigenen Entscheidungen in der jeweiligen Organisation einlassen.

Und was machen Berater in einer in dieser Art ertüchtigten Organisation? Baecker sieht keinen Grund, sich um die Beraterzunft Sorgen zu machen. Doch er beobachtet, dass Organisationen aufhören, sich selbst zu entmächtigen und wieder mehr Mut aufbringen, über notwendige Veränderungen selbst nachzudenken und sie auch selbst umzusetzen.

Die Scrum-Beratung zeigt ja sehr schön, wie die Beratung viel stärker als in den Jahrzehnten zuvor in die zu beratende Organisation integriert wird und der Auftrag erst dann bewältigt ist, wenn die Organisation über eigene Scrum-Master verfügt. Ich halte das für eine interessante Entwicklung, weil sie wieder etwas mit der Selbstermächtigung von Organisationen zu tun hat. Wenn wir jetzt noch damit beginnen würden auch das Thema Macht wieder offen zu diskutieren, könnte man den Spuk der Beratung schon fast für ein historisches Phänomen halten.

 

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