Ein spannendes Interview hat Egon Zehnder mit Edgar Schein geführt. Darin wendet sich der große Vordenker der Organisationspsychologie gegen ein in unserem Wirtschaftsmodell nach wie vor stark auf Einzelpersönlichkeiten ausgerichtetes Führungsverständnis, das ganz auf Richtungsvorgaben, auf Kommando und Kontrolle, baut.
Das größte Hemmnis für Menschen in Führungspositionen ist, dass sie nicht wirklich wissen, was sie neu und besser machen wollen. Manchmal fehlt eine klare Vorstellung. Oder ihre Sichtweise, was neu und besser wäre, basiert nicht auf Tests mit Kollegen und direkten Erfahrungen, sondern erweist sich als überhaupt nicht umsetzbar. Der Grund liegt auf der Hand: In einer immer komplexeren Welt wissen Führungskräfte einfach nicht genug, um alleine zu entscheiden, was neu und besser ist. Führung ist deshalb ein Gruppensport und keine individuelle heroische Aktivität.
Führung, die in dieser ausgeprägten Weise aufeinander und auf die Mitarbeitenden angewiesen ist, lebt von der Fähigkeit, eine gemeinsame Verantwortung zu entwickeln. Die Vorstellung, dass alle einer einzigen und einheitlichen Zielsetzung folgen, gehört für Schein ebenfalls zu den Missverständnissen, die die heutige Managementkultur immer noch prägt.
Der Begriff »Purpose« und sein Konzept kommen aus der Psychologie. Ich habe festgestellt, dass das meiste, was aus der Psychologie kommt, in der menschlichen Arena ziemlich nutzlos ist. Ich bin selbst Psychologe, also darf ich das sagen. Die Psychologen haben nie verstanden, dass jede innere Motivation auf die Sozialisation in einer Kultur, Gruppe oder in einem Stamm zurückgeht. Und auf diese Stammesregeln kommt es an. Der »Purpose«, die Zielsetzung, ist wichtig, wenn mein Stamm sagt, dass ich dies oder jenes tun soll. Denn wenn ich es nicht mache, wird mir das sofort signalisiert. Ich betrachte den Einzelnen als das Ergebnis vieler Ebenen der Sozialisation und des Lernens von den Gruppen, zu denen er oder sie gehört hat. Unsere stärksten Motivationen und Persönlichkeitsmerkmale sind das Ergebnis unserer Gruppenerfahrungen, angefangen bei der Familie.
[…] Lassen wir also das ganze psychologische Zeug fallen und konzentrieren uns mehr auf Kultur: Ethnografie, Stämme, Gruppen – also darauf, wie die Dinge wirklich funktionieren. Und da findet Führung statt, in der Gruppe.
Schein hält dem rollenbasierten Sozialmodell, das dem alten Verständnis von Führung und Leadership zugrundeliegt und das die Menschen zueinander auf Distanz hält, ein Modell enger persönlicher Beziehung, des „Persönlichmachens“, entgegen.
Das nennen wir dann eine »Level-2-Beziehung« oder auch »professionelle Nähe«. Wenn die Führungsperson nicht erkennt, dass sie auf diese Art von Beziehungen angewiesen ist, um etwas zu bewegen, dann wird nichts passieren. Stattdessen wird sie lamentieren: »Die Bürokratie hat mich schon wieder ausgehebelt.« Dabei stärkt sie selbst die Bürokratie dadurch, dass sie auf Distanz bleibt. Der Knackpunkt ist also: Wir kommen wir einander näher? Das ist gar nicht so schwer. Stellen Sie ein paar einfache Fragen: Wo wohnen Sie? Wie gefällt es Ihnen hier? So machen wir unsere Beziehung persönlich. Aber nicht dadurch, dass Sie mir mehr von Ihrer Arbeit erzählen. Anschließend ist es einfacher zusammenzuarbeiten, denn wenn ich Sie dann frage, wie es in Ihrem Arbeitsbereich wirklich läuft, sagen Sie mir die Wahrheit. Wenn ich aber auf Distanz bleibe, denken Sie: »Ich frage mich, was Ed hören will. Ich sage ihm lieber etwas, das ihm gefällt.« Im Ergebnis arbeite ich mit blinden Flecken. Die wichtigste Antwort auf die Frage, was wir anders machen müssen, lautet also: persönliche Beziehungen aufbauen.
Ein lesenswertes Interview mit vielen erhellenden Beispielen aus Scheins Beratungspraxis.