„Wir wissen nicht mehr, wer wir sind,“ meinte Markus Gabriel kürzlich im SWR2 Interview zu seinem neuen Buch mit dem Titel „Der Mensch als Tier“. Er möchte die geisteswissenschaftliche Entwicklung der letzten 50 Jahre zwischenbilanzieren und – ganz unbescheiden – ein neues Menschenbild beschreiben, das uns wieder Orientierung verleihen könne.
Der Mensch ist dasjenige Lebewesen, das tun kann, was es tut, im Lichte einer Vorstellung von sich selbst und der Einbettung in eine Umgebung.
Das unterscheide uns von allen anderen Lebewesen. Der Mensch sei das Lebewesen, das ein Bild von seiner Animalität habe. Mit unserer Vorstellung unterjochten wir alles andere. Wir zwängen die anderen Tiere in unsere Vorstellung, was ein Tier ist.
Wir haben Wissenschaft und Technik entwickelt, die dazu geführt haben, dass wir uns an den Rand der Selbstzerstörung gebracht haben, unter anderem in der Form sozialer Netzwerke, wie z.B. Facebook. Wie können wir diesen Akt der Selbstzerstörung stoppen? Es gelte, so Gabriel, das zerstörerische Menschenbild durch ein gesünderes zu ersetzen.
Seit der Mensch glaubt, er gehört zur Natur, zerstört er sie.
Die Vorstellung, der Mensch sei Teil der Natur, sei eine moderne Vorstellung. Lange Zeit habe sich der Mensch als geistiges Lebewesen verstanden, das nicht zur Natur gehört. Der Mensch müsse hingegen erkennen, dass er nicht vollständig Teil der Natur sei, sondern ein freies und geistiges Lebewesen. Diese Bewusstheit betrachtet Gabriel als Voraussetzung, um die Umwelt- und Naturzerstörung abzuwenden. Er fordert eine Ethik des Nichtwissens. Er möchte Abschied nehmen von der Vorstellung, dass wir durch Wissenschaft und Technik alles unter Kontrolle bekommen können. Wir sollten bescheiden sein, angesichts dessen, was wir nicht wissen. Wir wissen z.B. von 95% des Universums, der dunklen Materie und Energie, nicht, woraus sie besteht. Wir wissen z.B. auch sehr wenig über das Reich der Viren und Bakterien.
Wir müssen aufhören zu glauben, dass wir am Ende der Geschichte sind und fast alles wissen und nur noch unsere Wirtschaft anpassen müssen, damit wir ewigen Wohlstand erlangen.
An die Stelle dieses Glaubens soll eine Ethik des Nichtwissens und der Bescheidenheit treten – und eine Dankbarkeit dafür, dass uns andere kritisieren können. Technik und Naturwissenschaft haben wir vom humanen, moralischen Fortschritt entkoppelt. Wir haben das Versprechen der Aufklärung, die Philosophie und Ethik ins Zentrum der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu rücken, aufgekündigt. Wir versuchen immer wieder durch Geld, Technik und Naturwissenschaft alles zu beherrschen. Das sei genau das Problem und nicht die Lösung.
„Mit dem Begriff Natur kann man nichts anfangen (Latour)“
Wenn ich Gabriel so zuhöre, wächst bei mir der Eindruck, dass wir es mit einem wolkigen Naturbegriff zu tun haben. Es hat den Anschein, als ob Gabriel sich von Bruno Latour distanziert, der sich bekanntlich in seinem Spätwerk unermüdlich mit dem Verhältnis des Menschen zu seinen Mitorganismen und zur Materie in seinem Lebensraum befasst hat. Latour hat den Begriff Natur gemieden, weil mit seiner Verwendung zwangsläufig die Unterscheidung zwischen Natur und Mensch oder Natur und Kultur aktiviert wird.

Die gemeinsamen Lebensbedingungen, die Menschen mit den anderen lebenden Organismen teilen, sind räumlich eng begrenzt.
Natur im weitesten Sinne kann das gesamte Universum, die Materie seit dem Urknall bezeichnen. Mit einem derart weiten Begriff kann man nichts anfangen.
Latour hat deshalb lieber den Begriff „Gaia“ – im Sinne der Gaia-Hypothese von Lovelock und Margulis – oder den Begriff „Kritische Zone“, den die Erdsystemwissenschaftler gebrauchen, bevorzugt. Damit sind die lebendigen Organismen und die in Lebensprozesse eingebundene Umwelt, etwa Luft oder Boden, gemeint. Der Mensch wirkt mit seiner Existenz auf dieses komplexe Beziehungsgeflecht ein, ohne es zu wollen und ohne die Konsequenzen zu überblicken. Wir sind, so Latour, überhaupt nicht darauf eingestellt, dass die Erdgeschichte derart eng mit der Menschheitsgeschichte verknüpft ist. Die Suche nach einer neuen Orientierung und unsere Vorstellung von der Zukunft ist in dieser Situation, folgt man Latour, geprägt von einem Wechsel von einer zeitlichen zu einer räumlichen Perspektive. Sie sei, so Latour, entscheidend mit der Frage verbunden: Wo werden wir leben und mit wem?
Die „Große Trennung“
Für die weitere Erkundung der Mensch-Natur-Beziehung in der Moderne greife ich auf einen Essay von Fabian Scheidler über „Die große Trennung“ zurück, der sich der Geburt der technokratischen Weltsicht und der planetarischen Krise widmet. Er geht – ähnlich wie Gabriel – von einem systemischen Umbruch aus, der sich nach jahrhundertelangen Kämpfen im 17. Jahrhundert vollzogen hat: die Geburt des modernen, kapitalistischen Weltsystems. Im Kern dieses Systems sieht er erstens die endlose Vermehrung von Kapital in einem ununterbrochenen Zyklus von Profit und Reinvestition und zweitens den modernen Militärstaat. Die von Europa ausgehende Kolonisierung der Welt war eine systemische Notwendigkeit, um die Maschinerie der Akkumulation in Gang zu halten. Diese Entwicklung schuf den Nährboden, auf dem die modernen Naturwissenschaften gedeihen konnten.
Berechenbarkeit wurde zu einer entscheidenden Kategorie für Militärs, staatliche Beamte, Buchhalter und Investoren. Daher ist es kein Wunder, dass auch in der damaligen Forschung das Messen und Zählen immer mehr Vorrang vor qualitativen Betrachtungen bekam. Die Kultur, in der die modernen Wissenschaften geboren wurden, war vom Rechnen geradezu besessen, denn davon hing der militärische, politische und ökonomische Erfolg entscheidend ab. …
Christliche Mission, Kapitalakkumulation, koloniale Gewalt und Wissenschaft formierten sich zu einer Quadriga der Welteroberung und der Beherrschung der „niederen Geschöpfe“
Die Welt sei, so Scheidler, zu einem Spielfeld aus Ressourcen und Risiken geworden. Die Natur sei von einem lebendigen Netz, in das die Menschen eingebettet waren, allmählich zu einem Objekt geworden, das ihnen gegenüberstand. Während Giordano Bruno noch die Auffassung vertrat, dass das Universum durchgehend beseelt sei, stand Johannes Kepler eine Generation später bereits an der Schwelle zu einem mechanistischen Weltbild. Er wollte „zeigen, dass die Himmelsmaschine nicht einem göttlichen Organismus gleicht, sondern einem Uhrwerk.“ So Kepler 1605 in einem Brief an einen Freund. Nach und nach setzte sich „die große Trennung“, wie Scheidler mit Rückgriff auf den französischen Anthopologen Philippe Descola die Entwicklung hin zum modernen, mechanistischen Weltbild beschreibt, in dem Maße durch, wie die gesamte Gesellschaft, von der Schule über die Landwirtschaft bis zur Fabrik, nach dem Modell der Maschine umgebaut wurde.
In der Malerei setzte sich die bis heute prägende Zentralperspektive durch. Als Hilfsmittel zur Konstruktion der Perspektive sei oft ein Fadengitter benutzt worden, das die Welt in Planquadrate zerlegte. Die Obsession der Zerlegung habe zum einen eine unerhörte Genauigkeit der Untersuchung ermöglicht, die zum Erfolg der Naturwissenschaften erheblich beigetragen habe. Andererseits habe dieser Fokus viele Zusammenhänge und vor allem die Kreislaufprozesse in der Natur unsichtbar gemacht. Erst in den 1940er Jahren seien mit der Kybernetik die komplexen Wirkungskreisläufe beschrieben worden, auf denen lebende Systeme beruhen. Man kann ineinander verschlungene Kreisläufe in einzelne Kausalvorgänge zerlegen. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, so Scheidler, die Zusammensetzung solcher Teilstücke würde am Ende eine lineare Kausalkette ergeben. Der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft zeigt das überdeutlich.
Die ökologische Vernichtung, die am Ende dieser Entwicklung steht, ist keine zufällige „Nebenwirkung“, sondern die zwingende Konsequenz, wenn man lebendigen Kreisläufen mit Methoden zu Leibe rückt, die dafür ersonnen wurden, die Flugbahnen von Kanonenkugeln zu errechnen.
Wie der Mensch in dieser Entwicklung selbst zum Objekt wird, zeigt Scheidler am Beispiel des Sklavenhandels, der Hexenverfolgung oder der gewaltsamen Bildung von Arbeitsmärkten. Disziplinareinrichtungen, wie Schule und Militär, arbeiten an der Abspaltung der Innenwelten. Jeder Mensch wird so allmählich sein eigener Kommandant, um aus sich selbst maximale Vorteile im globalen Wettbewerb herauszuschinden. Der eigene Körper, die eigene Seele, der eigene Geist wird zum Objekt, zur Ressource.
Die „Große Trennung“ hatte sich mit der Kolonialisierung auf der gesamten Welt ausgebreitet. Händlier, Militärs und Missionare arbeiteten Hand in Hand, um sich natürliche Ressourcen anzueignen, Arbeitskräfte auszubeuten und über Jahrhunderte gewachsene kollektive Sinngefüge oder Kosmologien auszulöschen.
Die Zerstörung gewachsener Sinngefüge durch die Expansion der modernen Megamaschine hat in vielen Teilen der Erde ein kosmologisches Vakuum hinterlassen.
Diese „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) ging jedoch nicht von den Wissenschaften selbst aus, so Scheidler, sondern von dem hier nur angedeuteten gewaltsamen traumatischen Prozess.
Wo das Gewebe menschlicher Beziehungen durch strukturelle und physische Gewalt zerrissen wurde, wo die kosmologischen Gefüge in Trümmern liegen, erwächst in den Menschen eine Sehnsucht nach dem Ganzen, nach Teilhabe an einem größeren Sinnzusammenhang, in dem das eigene Leben seinen Platz findet.
Die Überwindung der Großen Trennung – eine Überlebensfrage
Die jüngste Etappe dieser Maschinisierung unserer Lebenswelten sei die Digitalisierung. Menschliche Beziehungen würden Schritt für Schritt in Apparate hineinverlagert, an die Stelle direkter sinnlicher Wahrnehmung und Kommunikation träten digitale Schnittstellen. An die Stelle einer verbundenen Mitwelt tritt, so sieht es Scheidler, eine programmierte Weltersatzmaschine. Alles, was Menschen darin noch erleben können, sei für sie von anderen präfiguriert worden.
In einem zweiten Teil des Essays mit dem Titel „Systemwandel oder Klimakollaps“ geht Scheidler der Frage nach, wie die „Große Trennung“ überwunden werden kann. Die beklagten Phänomene sieht er in der Gegenwart besonders durch die großen Kapitalgesellschaften verkörpert. Sie verfolgten nur ein einziges Ziel, die Geldvermehrung. Sie seien unfähig, die Interessen der anderen Lebewesen zu berücksichtigen. Sie entzögen sich systematisch jeder Verantwortung für die Zerstörungen, die sie hinterlassen.
Scheidler schließt mit seiner Kritik an der „Großen Trennung“ und seiner Suche nach einem neuen Verständnis des Menschen in der Natur oder als Akteur der Natur im wesentlichen an die Gemeinwohl- oder Postwachstumsökonomie an. Probleme in der praktischen Umsetzung wachstumskritischer Konzepte hatten wir in meinem letzten Blog-Beitrag über Ulrike Herrmann betrachtet. Ich kann mich gut an die Nuller-Jahre erinnern, in denen in Management- und Beraterkreisen das Schlagwort von der „Corporate Social Responsibility“ (CSR) in Mode war. Die zaghaften Bemühungen, sozialökologische Verantwortung in den Konzernen zu verankern, sind seinerzeit ohne größere Spuren zu hinterlassen in der Versenkung verschwunden. Zu stark war der Druck, den Shareholder Value oder die Gewinne zu maximieren. Die Hoffnung auf eine andere Wirtschaft wird nicht ausreichen, um die „Große Trennung“ zu überwinden. Für die Große Transformation braucht es mehr.
Wie kommen wir zu einer Ethik der Bescheidenheit?
Egal, ob man die „Große Trennung“ von Mensch und Natur wie Gabriel als vormoderne Erscheinung oder wie Scheidler als typisch für die Moderne auffasst, es geht um ein anderes Verständnis vom Menschen im Beziehungsgeflecht seiner Mitbewohner in dem begrenzten Lebensraum auf der Erde. Die philosophische Betrachtung, die Markus Gabriel dem Diskurs hinzufügt, könnte helfen, den einseitigen Blick auf die Ökonomie als Schlüssel zur Abkehr von dem verhängnisvollen Pfad zu weiten. In einem ausführlichen Gespräch beim Philosophischen Radio auf WDR 5 hinterlässt Gabriel ein paar Spuren, wie seine Vorstellung einer Ethik der Bescheidenheit praktisch werden kann.
Damit der Mensch von dem Pfad der Selbstausrottung herunterkommt, müssen wir den Sinn, der in der Wirklichkeit schon steckt, wieder erkennen lernen.
Das ist sozusagen das Lernprogramm, das ihm vorschwebt. Er zeigt sich überzeugt, dass eine Variation des Menschenbildes möglich sei. Es gebe auch heute nicht nur ein Menschenbld. Das moderne, nihilistische Menschenbild europäischer Prägung sei global betrachtet eine randständige Auffassung. In dem verbreiteten Wunsch, sich mit Indigenen zu befassen, sei bereits Ausdruck des Unbehagens, dass mit dem Menschenbild etwas nicht stimme.
Der Sinn des Lebens besteht darin, dass wir imstande sind, gemeinsam das moralisch Richtige zu tun. Die moralische Fortschrittsfähigkeit des Menschen ist der Sinn des menschlichen Lebens.
Gabriel berichtet über seine Begegnung mit Indigenen in Südamerika. Dort basiere die Gemeinschaft auf moralischer Überlegung. Ethische Probleme würden, z.B. bei den Kogi, in der Community ständig diskutiert. Sie säßen stundenlang beieinander und redeten nur darüber, was die Gottheit von ihnen möchte. Das Göttliche sei dort eine Mischung aus transzendenten Göttern und Natur.
Auf der globalen Ebene gebe es besonders in Krisen oder danach Momente globaler Solidarität, wie z.B. die Erklärung der Menschenrechte nach dem 2. Weltkrieg oder auch die ersten Wochen der Corona-Pandemie. Das sei die gemeinsam erlebte Stimmung gewesen. In solchen Momenten spürten wir, so Gabriel, dass wir hier gemeinsam vor demselben Problem stehen. Es gelte, daraus Kraft zu schöpfen für Handeln angesichts der Situation, in der sich die Menschheit heute befindet.
Unser wissenschaftliches Bewusstsein von der Wirklichkeit und unser moralisches Wissen darum, dass wir unser Verhalten radikal ändern können, gibt es bei den anderen Lebewesen nicht. Das macht uns zu etwas Besonderem, aber auch zu Lebewesen, die den Auftrag haben, sich genau deswegen um die anderen Lebewesen zu kümmern, weil wir es können.
Gabriel plädiert für eine radikale Diversität, also für eine andere Art der „Großen Trennung“, wenn man so will. Der Mensch, so schlägt er vor, solle sich als freies, geistiges Lebewesen auffassen, das radikal anders ist, als die anderen uns bekannten Lebewesen.
Wenn wir diese radikale Diversität anerkennen, haben wir den Menschen in einen anderen Bestimmungshorizont versetzt.
Gabriel spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Aufklärung. Es gebe hier Elemente der Aufklärung – der Mensch als Wesen, das einen moralischen Auftrag habe, aber ohne die eurozentrischen Fehler der französischen Revolution. Dass mit Technik nicht alles lösbar sei, hätten wir inzwischen gelernt, meint Gabriel voller Zuversicht. Jetzt komme es darauf an, mit der existenzialistischen Grundidee der radikalen Freiheit Ernst zu machen und die dann auch politisch umzusetzen. Die scharfe Trennlinie bedeute nicht, dass wir im Kontrollsitz des Lebens sitzen. Gleichwohl gebe es das rationale Ich. Als organisch verfasste Lebewesen sei unsere Vernunft, unsere Rationalität, unser Geist immer wieder eine Errungenschaft, bis wir dann, kurz vor unserem Tod, alle daran scheitern, unser eigenes Leben zu führen. Zum Sinn unseres Lebens gehöre es, zumindest zu versuchen, gemeinschaftlich Bedingungen herzustellen, dass jeder Mensch das moralisch Richtige überhaupt tun kann.
Das gilt es zuerst einmal zu verdauen. Jedenfalls können wir uns darin üben, aus einer Zukunft zurückzuschauen und uns einen in diesem Sinne freien Menschen vorzustellen, der aus ethischen und moralischen Gründen an der Erzeugung dieser gemeinschaftlichen Bedingungen arbeitet. Von dem Nachruf auf Bruno Latour, den Milo Rau für die taz geschrieben hat, könnten wir uns inspirieren lassen und sagen: Wir haben im Rückblick aus einer Zukunft gelernt, den Blick nicht mehr allein auf die Tatsachen zu werfen, sondern auf das „Netzwerk“ zu richten, in dem die Tatsachen entstehen.
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