Zukünfte (5): Der Mensch als Natur

„Wir wissen nicht mehr, wer wir sind,“ meinte Markus Gabriel kürzlich im SWR2 Interview zu seinem neuen Buch mit dem Titel „Der Mensch als Tier“. Er möchte die geisteswissenschaftliche Entwicklung der letzten 50 Jahre zwischenbilanzieren und – ganz unbescheiden – ein neues Menschenbild beschreiben, das uns wieder Orientierung verleihen könne.

Der Mensch ist dasjenige Lebewesen, das tun kann, was es tut, im Lichte einer Vorstellung von sich selbst und der Einbettung in eine Umgebung.

Das unterscheide uns von allen anderen Lebewesen. Der Mensch sei das Lebewesen, das ein Bild von seiner Animalität habe. Mit unserer Vorstellung unterjochten wir alles andere. Wir zwängen die anderen Tiere in unsere Vorstellung, was ein Tier ist.

Wir haben Wissenschaft und Technik entwickelt, die dazu geführt haben, dass wir uns an den Rand der Selbstzerstörung gebracht haben, unter anderem in der Form sozialer Netzwerke, wie z.B. Facebook. Wie können wir diesen Akt der Selbstzerstörung stoppen? Es gelte, so Gabriel, das zerstörerische Menschenbild durch ein gesünderes zu ersetzen.

Seit der Mensch glaubt, er gehört zur Natur, zerstört er sie.

Die Vorstellung, der Mensch sei Teil der Natur, sei eine moderne Vorstellung. Lange Zeit habe sich der Mensch als geistiges Lebewesen verstanden, das nicht zur Natur gehört. Der Mensch müsse hingegen erkennen, dass er nicht vollständig Teil der Natur sei, sondern ein freies und geistiges Lebewesen. Diese Bewusstheit betrachtet Gabriel als Voraussetzung, um die Umwelt- und Naturzerstörung abzuwenden. Er fordert eine Ethik des Nichtwissens. Er möchte Abschied nehmen von der Vorstellung, dass wir durch Wissenschaft und Technik alles unter Kontrolle bekommen können. Wir sollten bescheiden sein, angesichts dessen, was wir nicht wissen. Wir wissen z.B. von 95% des Universums, der dunklen Materie und Energie, nicht, woraus sie besteht. Wir wissen z.B. auch sehr wenig über das Reich der Viren und Bakterien.

Wir müssen aufhören zu glauben, dass wir am Ende der Geschichte sind und fast alles wissen und nur noch unsere Wirtschaft anpassen müssen, damit wir ewigen Wohlstand erlangen.

An die Stelle dieses Glaubens soll eine Ethik des Nichtwissens und der Bescheidenheit treten – und eine Dankbarkeit dafür, dass uns andere kritisieren können. Technik und Naturwissenschaft haben wir vom humanen, moralischen Fortschritt entkoppelt. Wir haben das Versprechen der Aufklärung, die Philosophie und Ethik ins Zentrum der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu rücken, aufgekündigt. Wir versuchen immer wieder durch Geld, Technik und Naturwissenschaft alles zu beherrschen. Das sei genau das Problem und nicht die Lösung.

„Mit dem Begriff Natur kann man nichts anfangen (Latour)“

Wenn ich Gabriel so zuhöre, wächst bei mir der Eindruck, dass wir es mit einem wolkigen Naturbegriff zu tun haben. Es hat den Anschein, als ob Gabriel sich von Bruno Latour distanziert, der sich bekanntlich in seinem Spätwerk unermüdlich mit dem Verhältnis des Menschen zu seinen Mitorganismen und zur Materie in seinem Lebensraum befasst hat. Latour hat den Begriff Natur gemieden, weil mit seiner Verwendung zwangsläufig die Unterscheidung zwischen Natur und Mensch oder Natur und Kultur aktiviert wird.

Wandteppich, Rijksmuseum Amsterdam – http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.21199, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=83359929

Die gemeinsamen Lebensbedingungen, die Menschen mit den anderen lebenden Organismen teilen, sind räumlich eng begrenzt.

Natur im weitesten Sinne kann das gesamte Universum, die Materie seit dem Urknall bezeichnen. Mit einem derart weiten Begriff kann man nichts anfangen.

Latour hat deshalb lieber den Begriff „Gaia“ – im Sinne der Gaia-Hypothese von Lovelock und Margulis – oder den Begriff „Kritische Zone“, den die Erdsystemwissenschaftler gebrauchen, bevorzugt. Damit sind die lebendigen Organismen und die in Lebensprozesse eingebundene Umwelt, etwa Luft oder Boden, gemeint. Der Mensch wirkt mit seiner Existenz auf dieses komplexe Beziehungsgeflecht ein, ohne es zu wollen und ohne die Konsequenzen zu überblicken. Wir sind, so Latour, überhaupt nicht darauf eingestellt, dass die Erdgeschichte derart eng mit der Menschheitsgeschichte verknüpft ist. Die Suche nach einer neuen Orientierung und unsere Vorstellung von der Zukunft ist in dieser Situation, folgt man Latour, geprägt von einem Wechsel von einer zeitlichen zu einer räumlichen Perspektive. Sie sei, so Latour, entscheidend mit der Frage verbunden: Wo werden wir leben und mit wem?

Die „Große Trennung“

Für die weitere Erkundung der Mensch-Natur-Beziehung in der Moderne greife ich auf einen Essay von Fabian Scheidler über „Die große Trennung“ zurück, der sich der Geburt der technokratischen Weltsicht und der planetarischen Krise widmet. Er geht – ähnlich wie Gabriel – von einem systemischen Umbruch aus, der sich nach jahrhundertelangen Kämpfen im 17. Jahrhundert vollzogen hat: die Geburt des modernen, kapitalistischen Weltsystems. Im Kern dieses Systems sieht er erstens die endlose Vermehrung von Kapital in einem ununterbrochenen Zyklus von Profit und Reinvestition und zweitens den modernen Militärstaat. Die von Europa ausgehende Kolonisierung der Welt war eine systemische Notwendigkeit, um die Maschinerie der Akkumulation in Gang zu halten. Diese Entwicklung schuf den Nährboden, auf dem die modernen Naturwissenschaften gedeihen konnten.

Berechenbarkeit wurde zu einer entscheidenden Kategorie für Militärs, staatliche Beamte, Buchhalter und Investoren. Daher ist es kein Wunder, dass auch in der damaligen Forschung das Messen und Zählen immer mehr Vorrang vor qualitativen Betrachtungen bekam. Die Kultur, in der die modernen Wissenschaften geboren wurden, war vom Rechnen geradezu besessen, denn davon hing der militärische, politische und ökonomische Erfolg entscheidend ab. …

Christliche Mission, Kapitalakkumulation, koloniale Gewalt und Wissenschaft formierten sich zu einer Quadriga der Welteroberung und der Beherrschung der „niederen Geschöpfe“

Die Welt sei, so Scheidler, zu einem Spielfeld aus Ressourcen und Risiken geworden. Die Natur sei von einem lebendigen Netz, in das die Menschen eingebettet waren, allmählich zu einem Objekt geworden, das ihnen gegenüberstand. Während Giordano Bruno noch die Auffassung vertrat, dass das Universum durchgehend beseelt sei, stand Johannes Kepler eine Generation später bereits an der Schwelle zu einem mechanistischen Weltbild. Er wollte „zeigen, dass die Himmelsmaschine nicht einem göttlichen Organismus gleicht, sondern einem Uhrwerk.“ So Kepler 1605 in einem Brief an einen Freund. Nach und nach setzte sich „die große Trennung“, wie Scheidler mit Rückgriff auf den französischen Anthopologen Philippe Descola die Entwicklung hin zum modernen, mechanistischen Weltbild beschreibt, in dem Maße durch, wie die gesamte Gesellschaft, von der Schule über die Landwirtschaft bis zur Fabrik, nach dem Modell der Maschine umgebaut wurde.

In der Malerei setzte sich die bis heute prägende Zentralperspektive durch. Als Hilfsmittel zur Konstruktion der Perspektive sei oft ein Fadengitter benutzt worden, das die Welt in Planquadrate zerlegte. Die Obsession der Zerlegung habe zum einen eine unerhörte Genauigkeit der Untersuchung ermöglicht, die zum Erfolg der Naturwissenschaften erheblich beigetragen habe. Andererseits habe dieser Fokus viele Zusammenhänge und vor allem die Kreislaufprozesse in der Natur unsichtbar gemacht. Erst in den 1940er Jahren seien mit der Kybernetik die komplexen Wirkungskreisläufe beschrieben worden, auf denen lebende Systeme beruhen. Man kann ineinander verschlungene Kreisläufe in einzelne Kausalvorgänge zerlegen. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, so Scheidler, die Zusammensetzung solcher Teilstücke würde am Ende eine lineare Kausalkette ergeben. Der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft zeigt das überdeutlich.

Die ökologische Vernichtung, die am Ende dieser Entwicklung steht, ist keine zufällige „Nebenwirkung“, sondern die zwingende Konsequenz, wenn man lebendigen Kreisläufen mit Methoden zu Leibe rückt, die dafür ersonnen wurden, die Flugbahnen von Kanonenkugeln zu errechnen.

Wie der Mensch in dieser Entwicklung selbst zum Objekt wird, zeigt Scheidler am Beispiel des Sklavenhandels, der Hexenverfolgung oder der gewaltsamen Bildung von Arbeitsmärkten. Disziplinareinrichtungen, wie Schule und Militär, arbeiten an der Abspaltung der Innenwelten. Jeder Mensch wird so allmählich sein eigener Kommandant, um aus sich selbst maximale Vorteile im globalen Wettbewerb herauszuschinden. Der eigene Körper, die eigene Seele, der eigene Geist wird zum Objekt, zur Ressource.

Die „Große Trennung“ hatte sich mit der Kolonialisierung auf der gesamten Welt ausgebreitet. Händlier, Militärs und Missionare arbeiteten Hand in Hand, um sich natürliche Ressourcen anzueignen, Arbeitskräfte auszubeuten und über Jahrhunderte gewachsene kollektive Sinngefüge oder Kosmologien auszulöschen.

Die Zerstörung gewachsener Sinngefüge durch die Expansion der modernen Megamaschine hat in vielen Teilen der Erde ein kosmologisches Vakuum hinterlassen.

Diese „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) ging jedoch nicht von den Wissenschaften selbst aus, so Scheidler, sondern von dem hier nur angedeuteten gewaltsamen traumatischen Prozess.

Wo das Gewebe menschlicher Beziehungen durch strukturelle und physische Gewalt zerrissen wurde, wo die kosmologischen Gefüge in Trümmern liegen, erwächst in den Menschen eine Sehnsucht nach dem Ganzen, nach Teilhabe an einem größeren Sinnzusammenhang, in dem das eigene Leben seinen Platz findet.

Die Überwindung der Großen Trennung – eine Überlebensfrage

Die jüngste Etappe dieser Maschinisierung unserer Lebenswelten sei die Digitalisierung. Menschliche Beziehungen würden Schritt für Schritt in Apparate hineinverlagert, an die Stelle direkter sinnlicher Wahrnehmung und Kommunikation träten digitale Schnittstellen. An die Stelle einer verbundenen Mitwelt tritt, so sieht es Scheidler, eine programmierte Weltersatzmaschine. Alles, was Menschen darin noch erleben können, sei für sie von anderen präfiguriert worden.

In einem zweiten Teil des Essays mit dem Titel „Systemwandel oder Klimakollaps“ geht Scheidler der Frage nach, wie die „Große Trennung“ überwunden werden kann. Die beklagten Phänomene sieht er in der Gegenwart besonders durch die großen Kapitalgesellschaften verkörpert. Sie verfolgten nur ein einziges Ziel, die Geldvermehrung. Sie seien unfähig, die Interessen der anderen Lebewesen zu berücksichtigen. Sie entzögen sich systematisch jeder Verantwortung für die Zerstörungen, die sie hinterlassen.

Scheidler schließt mit seiner Kritik an der „Großen Trennung“ und seiner Suche nach einem neuen Verständnis des Menschen in der Natur oder als Akteur der Natur im wesentlichen an die Gemeinwohl- oder Postwachstumsökonomie an. Probleme in der praktischen Umsetzung wachstumskritischer Konzepte hatten wir in meinem letzten Blog-Beitrag über Ulrike Herrmann betrachtet. Ich kann mich gut an die Nuller-Jahre erinnern, in denen in Management- und Beraterkreisen das Schlagwort von der „Corporate Social Responsibility“ (CSR) in Mode war. Die zaghaften Bemühungen, sozialökologische Verantwortung in den Konzernen zu verankern, sind seinerzeit ohne größere Spuren zu hinterlassen in der Versenkung verschwunden. Zu stark war der Druck, den Shareholder Value oder die Gewinne zu maximieren. Die Hoffnung auf eine andere Wirtschaft wird nicht ausreichen, um die „Große Trennung“ zu überwinden. Für die Große Transformation braucht es mehr.

Wie kommen wir zu einer Ethik der Bescheidenheit?

Egal, ob man die „Große Trennung“ von Mensch und Natur wie Gabriel als vormoderne Erscheinung oder wie Scheidler als typisch für die Moderne auffasst, es geht um ein anderes Verständnis vom Menschen im Beziehungsgeflecht seiner Mitbewohner in dem begrenzten Lebensraum auf der Erde. Die philosophische Betrachtung, die Markus Gabriel dem Diskurs hinzufügt, könnte helfen, den einseitigen Blick auf die Ökonomie als Schlüssel zur Abkehr von dem verhängnisvollen Pfad zu weiten. In einem ausführlichen Gespräch beim Philosophischen Radio auf WDR 5 hinterlässt Gabriel ein paar Spuren, wie seine Vorstellung einer Ethik der Bescheidenheit praktisch werden kann.

Damit der Mensch von dem Pfad der Selbstausrottung herunterkommt, müssen wir den Sinn, der in der Wirklichkeit schon steckt, wieder erkennen lernen.

Das ist sozusagen das Lernprogramm, das ihm vorschwebt. Er zeigt sich überzeugt, dass eine Variation des Menschenbildes möglich sei. Es gebe auch heute nicht nur ein Menschenbld. Das moderne, nihilistische Menschenbild europäischer Prägung sei global betrachtet eine randständige Auffassung. In dem verbreiteten Wunsch, sich mit Indigenen zu befassen, sei bereits Ausdruck des Unbehagens, dass mit dem Menschenbild etwas nicht stimme.

Der Sinn des Lebens besteht darin, dass wir imstande sind, gemeinsam das moralisch Richtige zu tun. Die moralische Fortschrittsfähigkeit des Menschen ist der Sinn des menschlichen Lebens.

Gabriel berichtet über seine Begegnung mit Indigenen in Südamerika. Dort basiere die Gemeinschaft auf moralischer Überlegung. Ethische Probleme würden, z.B. bei den Kogi, in der Community ständig diskutiert. Sie säßen stundenlang beieinander und redeten nur darüber, was die Gottheit von ihnen möchte. Das Göttliche sei dort eine Mischung aus transzendenten Göttern und Natur.

Auf der globalen Ebene gebe es besonders in Krisen oder danach Momente globaler Solidarität, wie z.B. die Erklärung der Menschenrechte nach dem 2. Weltkrieg oder auch die ersten Wochen der Corona-Pandemie. Das sei die gemeinsam erlebte Stimmung gewesen. In solchen Momenten spürten wir, so Gabriel, dass wir hier gemeinsam vor demselben Problem stehen. Es gelte, daraus Kraft zu schöpfen für Handeln angesichts der Situation, in der sich die Menschheit heute befindet.

Unser wissenschaftliches Bewusstsein von der Wirklichkeit und unser moralisches Wissen darum, dass wir unser Verhalten radikal ändern können, gibt es bei den anderen Lebewesen nicht. Das macht uns zu etwas Besonderem, aber auch zu Lebewesen, die den Auftrag haben, sich genau deswegen um die anderen Lebewesen zu kümmern, weil wir es können.

Gabriel plädiert für eine radikale Diversität, also für eine andere Art der „Großen Trennung“, wenn man so will. Der Mensch, so schlägt er vor, solle sich als freies, geistiges Lebewesen auffassen, das radikal anders ist, als die anderen uns bekannten Lebewesen.

Wenn wir diese radikale Diversität anerkennen, haben wir den Menschen in einen anderen Bestimmungshorizont versetzt.

Gabriel spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Aufklärung. Es gebe hier Elemente der Aufklärung – der Mensch als Wesen, das einen moralischen Auftrag habe, aber ohne die eurozentrischen Fehler der französischen Revolution. Dass mit Technik nicht alles lösbar sei, hätten wir inzwischen gelernt, meint Gabriel voller Zuversicht. Jetzt komme es darauf an, mit der existenzialistischen Grundidee der radikalen Freiheit Ernst zu machen und die dann auch politisch umzusetzen. Die scharfe Trennlinie bedeute nicht, dass wir im Kontrollsitz des Lebens sitzen. Gleichwohl gebe es das rationale Ich. Als organisch verfasste Lebewesen sei unsere Vernunft, unsere Rationalität, unser Geist immer wieder eine Errungenschaft, bis wir dann, kurz vor unserem Tod, alle daran scheitern, unser eigenes Leben zu führen. Zum Sinn unseres Lebens gehöre es, zumindest zu versuchen, gemeinschaftlich Bedingungen herzustellen, dass jeder Mensch das moralisch Richtige überhaupt tun kann.

Das gilt es zuerst einmal zu verdauen. Jedenfalls können wir uns darin üben, aus einer Zukunft zurückzuschauen und uns einen in diesem Sinne freien Menschen vorzustellen, der aus ethischen und moralischen Gründen an der Erzeugung dieser gemeinschaftlichen Bedingungen arbeitet. Von dem Nachruf auf Bruno Latour, den Milo Rau für die taz geschrieben hat, könnten wir uns inspirieren lassen und sagen: Wir haben im Rückblick aus einer Zukunft gelernt, den Blick nicht mehr allein auf die Tatsachen zu werfen, sondern auf das „Netzwerk“ zu richten, in dem die Tatsachen entstehen.

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Mehr dazu
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Zukünfte (4): Entsteht eine ökologische Klasse?

Nichts wird uns retten, und ganz bestimmt nicht die Gefahr. Der Erfolg wird einzig von unserer Fähigkeit abhängen, die zufällig sich einstellenden Gelegenheiten beim Schopfe zu packen.

Mit diesem Zitat stimmt der Verlag potenziell Interessierte auf ein Memorandum ein, das Bruno Latour vor seinem Tod (gemeinsam mit Nikolaj Schultz) gewissermaßen als Vermächtnis zu Papier gebracht hat. Es widmet sich den Fragen: Wie kann die Ökologie in ihrem Zusammenhalt und ihrer Autonomie gestärkt werden? Wie kann sie die Politik organisieren statt nur eine soziale Bewegung neben anderen zu sein?

I

Das Memorandum verortet die ökologischen Anliegen heute in einer Vielzahl von Konflikten, die unverbunden nebeneinander exisitieren. Diese Vielfalt ist die Basis für eine als „Klasse“ formierte Ökologie. Dazu müsse die ökologische Bewegung die Konflikte zu einer für alle verständlichen Aktionseinheit zusammenschweißen. Anders als in früheren Klassenkämpfen habe man es bei der ökologischen Frage mit einem „Kampf um Klassifizierungen“ zu tun. Es herrsche Unklarheit, woraus die Klasse besteht, deren Teil man ist. Leute, so die Autoren, die derselben sozialen Klasse angehören, fühlen sich unter ihresgleichen als völlig Fremde, sobald ökologische Konflikte auftauchen. Die politische Ökologie müsse sich deshalb ständig die Frage stellen:

Wenn sich Auseinandersetzungen um die Ökologie drehen, wem fühlst Du Dich nahe und wem erschreckend fern?

S. 15

Neben dem Konflikt um die Klassifizierungen gibt es einen Konflikt um die materialistische Analyse unserer Existenzbedingungen. Ähnlich wie beim alten Klassenkampf geht es auch heute um die materiellen Existenzbedingungen. Nur handelt es sich, so Latour und Schultz, um eine andere Materialität. Während Marx die Produktion der materiellen Reproduktionsbedingungen als Fundament der sozialen Geschichte galt, wird unser Horizont nicht mehr ausschließlich durch die Produktion bestimmt. Wenn wir die materielle Existenz neu definieren, verlassen wir das dominante Koordinatensystem aus Produktion und Reproduktion. Die klimatischen Veränderungen zwingen uns dazu, die Prozesse neu zu beschreiben, kraft derer die Gesellschaften weiterbestehen. Wir erleben eine gewaltige Transformation der materiellen Basis unserer Gesellschaften. Es geht nicht mehr allein um die Existenzbedingungen der menschlichen Wesen.

Materialismus bedeutet heute, im Rahmen der Reproduktion der für den Menschen günstigen materiellen Bedingungen auch die Voraussetzungen für die Bewohnbarkeit der Erde zu berücksichtigen. Die Ökonomie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Einsatz von Ressourcen zum Zwecke der Produktion. Aber, so fragen die Autoren:

Existiert eine Ökonomie, die in der Lage ist, sich zurückzuwenden in Richtung des Erhalts der Bewohnbarkeitsbedingungen der terrestrischen Welt?

S. 21

Eine neue Ökonomie schaffen

Die Herausforderung für die neue ökologische Klasse sehen Latour und Schultz darin, eine neue Ökonomie zu schaffen, die der exklusiven Aufmerksamkeit für die Produktion den Rücken kehrt und sich neu ausrichtet auf die Suche nach den Bewohnbarkeitsbedingungen. Es gab in den letzten zwei Jahrhunderten zahllose Konflikte zwischen Liberalismus und sozialistischen Traditionen um die gerechte Verteilung der Erträge. Aber ihnen lag eine Einigkeit hinsichtlich der Erhöhung der Produktion zugrunde. Vorwärts, das war die Losung für beide Seiten.

Auf einmal erscheinen die Erhöhung der Produktion, der Begriff der Entwicklung selbst, der des Fortschritts als Wahnwitz, der abgestellt werden müsste.

S. 25

Die Lähmung, die wir überall spüren und erleben, erwächst aus der Verbindung von Produktion und Zerstörung der Bewohnbarkeitsbedingungen. Die mentale, moralische, organisatorische, verwaltungsmäßige und rechtliche Ausstattung war allzu lange mit der Entwicklung assoziiert. Jetzt büßt sie ihre Nützlichkeit ein. Aber eine neue Ausstattung ist noch nicht erarbeitet, die es möglich machen würde, zu handeln. Es ist, so die Autoren, die Aufgabe der ökologischen Klasse, diese Ausstattung zu liefern.

Wenn wir den Fokus unseres Wirtschaftens verschieben von der stetigen Steigerung der Produktion zur Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen unseres Lebensraums, reicht es nicht aus, den „Produktivismus“ einzuschränken. Mir kommt bei diesen Gedanken das „grüne Schrumpfen“ in den Sinn, wie es Ulrike Hermann vertritt. Es gehe darüber hinaus darum, sich völlig vom Horizont der Produktion abzuwenden. Dieses Prinzip der Konzentration auf die Produktion habe dazu geführt, dass alles als bloße Ressource betrachtet wurde. Es waren aber alle Lebewesen im Zusammenwirken mit Klima, Atmosphäre, Boden und Ozeanen, die über Milliarden Jahre den kontinuierlichen Fortbestand der von ihnen geschaffenen Existenz ermöglicht haben. Das Produktionssystem ist nur eine Randerscheinung in diesem Prozess des Erzeugens. „Erzeugen“ heißt, mit Sorgfalt die Wesen entstehen und fortbestehen lassen, von denen die Bewohnbarkeit der Welt abhängt.

Wir sind es gewohnt, Wachstum als einziges Mittel zu begreifen, um uns aus der Affäre zu ziehen, wobei wir vergessen, welche Zerstörungen es anrichtet. … Es geht nicht um „weniger Wachstum“, sondern darum, endlich zu prosperieren.

S. 27

Der Klassenkampf findet nicht mehr innerhalb des Produktionssystems statt, sondern zwischen dem Erhalt der Bewohnbarkeitsbedingungen und dem Produktionssystem. Mit einem Zitat von Pierre Chardonnier bringen die Autoren die Bestimmung der ökologischen Klasse auf den Punkt: Sie verbindet die Welt, in der wir leben, mit der Welt, von der wir leben.

“Die Ökologie wächst aus ihren Kinderschuhen heraus“

Die liberale und die sozialistische Tradition haben ihr Projekt der Entwicklung und des Fortschritts verraten, weil sie das Ausmaß der Katastrophe nicht vorherzusehen wussten. Sie haben damit, so die Autoren, die Legitimität verspielt, den Sinn der Geschichte zu definieren und den Respekt der anderen Klassen einzufordern. Es werde deshalb Aufgabe der ökologischen Klasse sein, den Horizont des Handelns über die Produktion und über den von den Nationalstaaten definierten Rahmen hinaus zu erweitern. Die ökologische Klasse müsse an zwei Fronten kämpfen: gegen die illusorische Globalisierung und gegen die Rückkehr in ein von Grenzen umgebenes Inneres.

Wie ist zu erklären, dass die seit Jahrzehnten offenlichtliche Dringlichkeit keine Mobilisierung der Massen auslösen kann? Der Hinweis auf Desinformationskampagnen, die Macht der Lobbys und die Trägheit der Mentalitäten reiche nicht aus. Wohlstand, Emanzipation und Freiheit waren die bestimmenden Werte. Wie sollte jetzt bei den bestimmenden Klassen Begeisterung aufkommen, wenn man ihnen sagt, dass diese Werte von Grund auf umgestaltet werden müssen? Sich für den Erhalt der Bewohnbarkeitsbedingungen einzusetzen, damit sei noch nichts assoziiert, was Begeisterung auslösen könnte. Wo ist die Garantie für Wohlstand? Wo das Versprechen, die Emanzipation voranzutreiben? Wie soll das Ideal der Freiheit aufrechterhalten werden?

Die Neubestimmung dieser Werte beruht auf einer Umkehrung. Wenn die ökologische Klasse den Erhalt der Bewohnbarkeit anstrebe, treffe sie auf ihre wahren Eigentümer.

„Es sind die Lebewesen, die definitionsgemäß Eigentümer ihrer selbst sind, da sie sich selbst geschaffen haben … anhand eines Prozesses, der … sich selbst erzeugt hat.“

S. 41

Auf einmal sei die Natur kein Opfer mehr, das es zu schützen gelte. „Sie besitzt uns.“ Aus dieser Umkehrung ziehe eine Armee von Juristinnen und Juristen gegenwärtig die Konsequenzen, bis in die Rechtsprechung hinein. Die Erzeugungspraktiken, die die Bewohnbarkeit der Lebensumstände wiederherstellen, aufrechterhalten und verstärken, werden wieder zu dem, was entdeckt und gepflegt werden soll.

Die Zeit arbeitet nicht für die ökologische Bewegung – und sie ist knapp. Der Aufstieg einer Klasse sei kein zwangsläufiger Prozess, stellen die Autoren mit Rückgriff auf Norbert Elias fest. So wenig eine Modernisierungsfront unabwendbar ist, so wenig ist es eine „Ökologisierungsfront“. Das Ausmaß der sich vollziehenden Katastrophe wird von sich aus keinen Bewusstseinswandel auslösen.

„Nichts wird uns retten, und ganz bestimmt nicht die Gefahr. Der Erfolg wird einzig von unserer Fähigkeit abhängen, die zufällig sich einstellenden Gelegenheiten beim Schopfe zu packen.“

S. 46

Wandel des Zeitverständnisses

Ziemlich radikal klingt, was die Autoren zum Wandel des Zeitverständnisses sagen. In der Moderne sei die Geschichte als Vorwärtsbewegung gedacht worden. Vor sich die Zukunft, die von der Vergangenheit abgeschnitten worden sei. Die ökologische Klasse sei hingegen gefordert, in vielfacher Art und Weise zu wohnen und sich um die Erzeugungspraktiken zu sorgen. Was zur Vergangenheit, zur Gegenwart oder zur Zukunft gehöre, sei dabei gleichgültig. Der Zeitpfeil der Geschichte werde abgelöst durch eine Zerstreuung in alle Richtungen.

Die Corona-Pandemie hat uns unsere Unfähigkeit vor Augen geführt, angemessen und schnell auf das neue Klimaregime zu reagieren. Das Modell der Moderne von der jederzeit beherrschbaren Natur habe sich in ein Virus verwandelt, das sich unaufhörlich von Mund zu Mund verbreitet, das ansteckend ist, mutiert, überrascht.

Wir sind nicht länger Menschenwesen in der Natur, sondern Lebewesen inmitten anderer Lebewesen in offener Entwicklung mit und gegen uns.

S. 49

Ist die ökologische Klasse potenziell in der Mehrheit?

Alle diese Lebewesen nähmen an demselben „Terraforming“ teil. Es gab, so die Autoren, im Verständnis der alten Welt einen Rahmen, der auf unser Handeln nicht reagierte. Jetzt plötzlich reagiert er auf allen Ebenen: Viren, Klima, Humus, Wälder, Insekten, Mikroben, Ozeane und Flüsse. Wir wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen. Die Fragen der Erzeugung übersteigen uns. Es sei Aufgabe der ökologischen Klasse, diesen Befund zu diagnostizieren und Therapien zu entwickeln.

Die potenziellen Mitglieder der ökologischen Klasse sehen Latour und Schultz schon in riesiger Zahl vorhanden. Sie zählen die Arbeitenden dazu, die den Reichtum produzieren. Oder die Bewegungen des Feminismus, die postkolonialen Bewegungen, die indigenen Völker und die Jugend, deren Zukunft die Babyboomer im voraus verschlungen haben, die Wissenschaftlerinnen, die auf verschiedene Weise in den neuen Erdsystemwissenschaften engagiert sind, die Ingenieure und Innovatoren, die ihrer Kapazitäten zum Erfinden beraubt worden sind, die Aktivistinnen, Protestler, Menschen guten Willens, gewöhnliche Bürger, Bäuerinnen, Gärtner, Industrielle, Investoren und alle, die mit eigenen Augen zuschauen mussten, wie ihr Territorium verschwand. „Sie alle könnten spüren, dass sie Teil dieser sich bildenden Klasse sind, auch wenn es ihnen vorerst noch schwer fällt, darin ihre Ideale zu erkennen.

Das Memorandum liest sich über weite Strecken wie eine schier endlose To-do-Liste für die sich formierende ökologische Klasse. Die Liste der Herausforderungen und Aufgaben ist lang. Der Kampf der Ideen hat dabei nach dem Eindruck der Autoren noch gar nicht richtig begonnen.

Die anderen Klassen veranstalten einen Höllenlärm, nehmen den gesamten Medienraum in Beschlag, besetzen die Zeitschriften, die Fernsehsender, die Tageszeitungen, monopolisieren die Ausbildung des Personals im höheren Staatsdienst, schaffen immer mehr Managementschulen und Lehrstühle für Wirtschaftswissenschaften – und wo sind die entsprechenden Organe der ökologischen Klasse?

S. 59f.

Es reiche nicht, allein die „ökologischen Interessen“ zu vertreten, um die Kämpfe um die Besetzung, die Beschaffenheit, den Gebrauch und den Erhalt der Territorien und der Subsistenzbedingungen zu gewinnen. Eine umfassende Bestandsaufnahme des kulturell Vorhandenen sei unabdingbar. Es gelte die Humanwissenschaften neu zu beleben und herauszufinden, wie die neue Erde sich äußert und empfunden wird. Auch die Künste gelte es, sich zu erschließen. Dichtung, Film Roman, Architektur – nichts dürfe der ökologischen Klasse fremd sein. Die Wissenschaften, besonders die Naturwissenschaften, soweit sie sich den strittigen Themen zum System „Erde“ widmeten, müsse man im Detail verfolgen.

Mit Blick auf das Politische weisen die Autoren des Memorandum schließlich darauf hin, dass die ökologische Klasse ihre Interessen nicht bestimmen könne, weil wir die konkreten Situationen nicht beschrieben haben, in denen wir stecken. Dieser erste Schritt sei unerlässlich, ungeachtet der Schnelligkeit und des Ausmaßes des sich vollziehenden grundlegenden Wandels. Die Staatsbürger stürzten sich angesichts dieses Befunds in die „trübsten Leidenschaften“: Klagen und Proteste. Diese richteten sich aber an den alten Staat, der zum Phantom geworden sei.

Die einen, unten, wissen nicht mehr, wie sie ihre Beschwerden artikulieren können, da ihnen die Kenntnis darüber fehlt, wo sie sich überhaupt befinden und wer ihre Feinde sind. Die anderen, oben, sind außerstande, dem zuzuhören, was sie gefragt werden … Stumme sprechen zu Tauben.

S. 79

Es gebe keinen Staat der Ökologisierung. Weder Beamte noch Abgeordnete seien in der Lage, anzugeben, wie der Wechsel von Wachstum zur Prosperität gelingen kann. Unerlässlich ist nach der tiefen Überzeugung der Autoren die Beschreibung der Lebensbedingungen, eine Selbstbeschreibung, die die Schieflage aufdeckt zwischen der Welt, in der wir leben, und der Welt, von der wir leben. Diese mit anderen geteilten Beschreibungen verändern die Positionen eines jeden und verwandeln die Politik weg von der Produktion, hin zur Wahrung der Bewohnbarkeit. „Das Politische kommt zurück.“

Einen Hauch von Utopie erlauben sich die Autoren des Memorandums im Nachwort. Es wäre tröstlich, wenn – wie in dem berühmten Freskenzyklus Allegorien der Guten und der Schlechten Regierung von Ambrogio Lorenzetti in Siena – nicht mehr künstlich unterschieden werden würde, zwischen dem, was zum Handel, zur Architektur, zur Landschaft, zur Kunst, zur Landwirtschaft oder dem städtischen Leben gehört. Bei der „guten Regierung“ sind alle Bereiche miteinander verwoben. Ähnlich wäre es bei einer ökologischen Politik. Ökologie und Ziviilisation wären gleichbedeutend.

Ambrogio Lorenzetti – Bad Government and the Effects of Bad Government on the City Life – Palazzo Pubblico, Siena – Erstellt zwischen 1338 und 1340 – Wikipedia

II

Wie können wir nun aus diesen gleichermaßen abstrakten wie anspruchsvollen Gedanken und Überlegungen auf Vorstellungen von der Zukunft schließen? Das Memorandum lese ich als Versuch, die Voraussetzungen eines Übergangs in eine Lebensweise zu beschreiben, die die Bewohnbarkeit unseres Lebensraums wahrt. Das Memorandum knüpft an frühere Schriften von Bruno Latour an, wie z.B. das Terrestrische Manifest, (das ich vor einiger Zeit hier vorgestellt hatte). Darin hatte er bereits auf die Notwendigkeit der Erkundung und Beschreibung unseres Territoriums und unserer Abhängigkeiten als Voraussetzung für die drängende Erneuerung des Politischen hingewiesen.

Wie kann man sich diese Erkundung und Selbstbeschreibung vorstellen? Während der Corona-Pandemie habe ich diesen Blog-Beitrag mit Beispielen für mögliche relevante Fragen der Selbstbeschreibung gepostet. Das Memorandum betont die Unverzichtbarkeit dieser Erkundungen, die neue Erkenntnisse über das Zusammenwirken mit den anderen Lebewesen als Akteure in unserem Lebensraum hervorbringen kann, Gemeinsamkeiten und Unvereinbarkeiten deutlich machen kann und das Politische neu beleben und auf die Ökologisierung ausrichten kann. Sich uns als erkundende und beschreibende Wesen vorzustellen – schon allein dies verändert die Vorstellung von einer gelungenen Zukunft.

Wir können mit diesem Memorandum dem Bild, das wir im letzten Blog-Beitrag gewonnen haben, einen Mosaikstein hinzufügen. Wir erinnern uns, dass Ulrike Herrmann kritisiert hatte, dass es zwar reichlich Beschreibungen einer Gemeinwohl- oder Postwachstumswirtschaft oder -gesellschaft gebe, aber keinerlei Forschung, wie der Übergang, die große Transformation, gestaltet werden könne. Sie schlug für das notwendige „grüne Schrumpfen“ den Rückgriff auf eine Wirtschaft vor, in der der Staat die Produktion rationiert. Sie sagte jedoch wenig über die politischen Voraussetzungen für dieses postkapitalistische Wirtschaften. Das Memorandum fügt diesem Bild von der ökonomischen Seite der Transformation einen Baustein hinzu: die Erneuerung der Politik von unten durch praktische Erkundung der Welt, in der wir leben, und durch das Mitteilen und Abgleichen der Selbstbeschreibungen mit anderen.

Eine praktische Handreichung für die Erkundung und Selbstbeschreibung hat kürzlich auch Maike Sippel, Transformationsforscherin an der Hochschule Konstanz, vorgelegt. Sie gibt 12 Ideen weiter, wie jeder und jede zum Gelingen der anstehenden sozialökologischen Transformation beitragen kann. Vielleicht können wir manches davon nicht nur 2023, sondern dauerhaft beherzigen.

Zukünfte (3): Wege und Übergänge. Über die Praxis der Transformation

Die Große Transformation – so nennen wir den Wandel der Gesellschaft und der Organisationen hin zu einer ökologischen Lebensweise. Im letzten Blog-Beitrag dieser Reihe zu möglichen Zukünften hatten wir festgestellt oder uns vorgestellt, dass friedliches menschliches Zusammenleben mit den lebenden Organismen der Biosphäre die Wachstumswirtschaft in einer näheren oder ferneren Zukunft überwunden haben wird. Die reine Beschreibung einer Welt ohne Wachstum klingt schlüssig. Wir ahnen aber auch, dass der Weg dahin steinig gewesen sein wird. Mit welche Brüchen wird die einschneidende Transformation verbunden gewesen sein?

Also drängt sich die Frage auf: Wie hat der Weg ausgesehen, auf dem wir diesen neuen Zustand überhaupt erreicht haben? Aus heutiger Sicht müssen wir nüchtern zwischenbilanzieren, dass wir mit den bis dato eingeleiteten und vollzogenen Schritten hinter der Vision eines Lebens im ökologischen Gleichgewicht weit zurückbleiben werden. Also wird irgendetwas grundlegend anders gelaufen sein müssen.

Hat das BIP ausgedient?

In dem ARTE-Beitrag „Brauchen wir Wirtschaftswachstum“ kommen die befragten kundigen Menschen zu ähnlichen Schlüssen, wie sie in meinem letzten Blogbeitrag anklangen. Die Bilanz in einer zukünftigen Gegenwart offenbart uns: Das Wachstum der Wirtschaft, auch die Vorstellung, grünes Wachstum sei möglich, ist überwunden, der Pro-Kopf-Verbrauch von fossilen Brennstoffen ist auf Null, der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch stark reduziert, Abfälle sind Ressourcen in einem kontinuierlichen Kreislauf.

Auf dem Weg dahin ist wesentlich, die volkswirtschaftliche Rechnung, die sich fast ausschließlich am Bruttoinlandsprodukt orientiert, grundlegend umzustrukturieren. Denn sie sagt was über die gesamte Wirtschaftsleistung, aber nichts über den Wohlstand einer Gesellschaft. Durch technischen Fortschritt sind Ressourcenverbräuche nicht geringer geworden. Dafür hat schon der Rebound-Effekt gesorgt, der hinter jeder technischen Innovation lauert. Grünes Wachstum funktioniert bisher nicht. Wenn wir das Wachstum zurückfahren und das politisch initiiert, könnte das die Klimakrise bremsen und sogar zu mehr Wohlstand führen, so wird in dem ARTE-Beitrag der Weltklimarat zitiert.

Weitere Strategien hat Marcia Bjornerud kürzlich in einem Radio-Beitrag von SWR2 Wissen über das Anthropozän aufgezählt. Steueranreize und Subventionen neu ausrichten auf diejenigen, die sich bei ihren Entscheidungen an den langfristigen Auswirkungen orientieren und nicht an der Ausbeutung der Erde, bis die Ressourcen aufgebraucht sind. Oder die Einrichtung eines Zukunftsministeriums, das die Prioritäten neu setzen würde. Oder die Organismen in der Biosphäre mit einklagbaren Rechten ausstatten, wie es z.B. Neuseeland im Falle des Whanganui-Flusses praktiziert hat.

Arbeit an der Weltbeziehung als Schlüssel zur Mäßigung?

Ein weiteres Beispiel liefert der Soziologe Hartmut Rosa aus soziologischer Sicht. Er hat sich mit dem Phänomen der Beschleunigung auseinandergesetzt. Er diagnostiziert – übrigens ähnlich wie Nico Paech – eine wachsende Zeitarmut als die Kehrseite des wachsenden Wohlstands (s. Video ab Min. 41). Wir kaufen viele Dinge, ohne sie zu nutzen, weil wir die Nutzung in unserem begrenzten Zeit- und Aufmerksamkeitsbudget gar nicht unterbringen. Der Wohlstand beruht darauf, dass wir jedes Jahr mehr produzieren, konsumieren und verteilen, als im Vorjahr. Wir können das Bestehende nur durch permanente Steigerung erhalten. Wir können uns das Ende in 1000 verschiedenen Varianten denken, haben aber keine Idee einer Alternative zum Wachstum. Unsere moralischen Vorstellungen haben sich von unserer Lebensform entkoppelt. Überall ist zu vernehmen, wie nachhaltig man sein will oder wie wichtig einem mehr Gerechtigkeit ist. Auf die Lebenspraxis schlägt das aber nicht durch.

Was ist seine Antwort auf diesen Befund? Er möchte die Motivation ändern. Wir sollten das sinnentleerte und ökologisch verheerende Wachstum erst gar nicht mehr wollen. Nicht noch mehr essen, noch mehr fliegen, noch mehr Autos fahren, T-Shirts noch schneller wechseln, noch schneller das neueste Handy kaufen.

Wir leben in einem Aggressionsverhältnis zur Welt. Wir sehen das auf drei Ebenen: in der Art, wie wir mit der Natur umgehen. … Auf der sozialen Ebene, wo wir wieder Krieg führen. … Wir haben auch ein Aggressionsverhältnis zu uns selbst.

Ab Min. 54

Bei Jugendlichen sei diese Haltung häufig zu beobachten: „Ich bin nicht schnell genug, ich bin nicht schön genug, ich bin nicht fit genug. …“ In dem trotz der Länge spannenden Gespräch bleibt letztlich offen, wie sich unsere Motivation ändern könnte. Rosa hat mit dem viel beachteten Resonanz-Konzept den Anspruch, eine Vision zu liefern, wie die Welt sein könnte. Offen bleibt jedoch auch bei ihm, wie der Weg dahin aussehen könnte. Sein Anspruch ist es erst gar nicht, einen Weg aufzuzeigen. Einen Anhaltspunkt liefert er gleichwohl, wenn er beklagt, dass Politik, die auf Ökonomen hört und auf Wachstum setzt, nur auf die Konsumseite blickt. Es sei ein neoliberaler Trick, alle sozialen und ökologischen Probleme dem Individuum aufzubürden.

Wir sind produzierende Wesen. Wir stellen unsere Lebensform und damit eine bestimmte Beziehung zur Welt her. Das machen wir nicht über das Konsumieren, sondern über das Produzieren. Menschen sind … stoffwechselnde Wesen. … Da könnte eine Diskursverschiebung helfen.

ab Min. 104

Stärker auf die Produktionsseite der Wirtschaft schauen. Damit sind Politik und Wirtschaft als Akteure angesprochen, die einen wesentlichen Schlüssel in der Hand halten, der die Tür zu einer Gemeinwohlwirtschaft öffnen könnte.

Rationierung des Ressourcenverbrauchs?

Ulrike Hermann gehört zu den Stimmen, die die Zielvorstellung und Vision eines Genug oder einer Mäßigung teilen. Sie beklagt aber die fehlende Debatte über den Weg dahin. Deshalb hat sie sich mit ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ und in vielen Vorträgen aufgemacht, einen konkreten Vorschlag zu machen und darüber die überfällige Diskussion anzuregen.

Sie geht davon aus, dass der Kapitalismus kollabieren wird.

Wir haben alle vom Kapitalismus profitiert, weil er Wohlstand und Wachstum erzeugt hat. Es gibt leider ein Problem: Der Kapitalismus erzeugt nicht nur Wachstum, sondern er braucht auch Wachstum, um stabil zu sein.

Min. 5

In einer endlichem Welt könne es jedoch kein unendliches Wachstum geben. Im Augenblick leben die Europäer so, als könnten sie drei Erden verbrauchen. Wenn alle so leben würden, wie die Menschen in den USA bräuchten wir fünf, Katar als Maßstab würde bedeuten, wir bräuchten 33 Planeten. Der Kollaps ist bisher ausgeblieben, weil andere Länder, vor allem Afrika, ihren Anteil nicht ausreizen. Ulrike Herrmann macht zwei absolute Grenzen aus: die Rohstoffgrenze und die Umweltgrenze. Wir rotten die Arten aus, wir ruinieren die Böden, die Süßwasserreserven und die Meere.

Was tun? Die eine Idee: Wir reduzieren den Konsum. Nur: Da gibt es ein Problem. Wir alle kaufen, um das System zu stabilisieren und nicht nur, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Viele Gegenstände, die wir kaufen, nutzen wir nie oder selten. Wenn wir aber plötzlich mit dem Kaufen ohne Bedarf aufhörten, würde das Wirtschaftssystem zusammenbrechen. In der Corona-Krise haben wir alle miterlebt, wie der Staat mit 500 Mrd. € den Kollaps der Wirtschaft abwenden musste. Hätte er es nicht getan, wäre eine unaufhaltsame Abwärtsspirale in Gang gekommen. Ein solches chaotisches Schrumpfen würde zugleich unser demokratisches Zusammenleben extrem gefährden. Das will niemand, stellt Ulrike Herrmann treffend fest.

Deshalb die zweite Idee: Grünes Wachstum, das auf technologische Lösungen setzt. Praktisch alle Parteien, die EU-Kommission, die EZB, der IWF oder die Weltbank vertreten diese Idee, so Ulrike Herrmann. Die schlechte Nachricht wird ausgeblendet. Die Öko-Energie wird nicht reichen, um dieses grüne Wachstum zu befeuern. Es gibt nur zwei Technologien, um die Energie der Sonne einzufangen: Solarpaneele und Windräder. Nur Strom lässt sich ökologisch herstellen. Sämtliche Produktion muss deshalb auf Strom umgepolt werden. Technisch ist das möglich, so Herrmann, aber die Zahlen sprechen eine ernüchternde Sprache. Die Windenergie habe 2021 nur 4,7 % des Endenergieverbrauchs abgedeckt, die Solarenergie nur 2 %. Ökoenergie wird knapp und teuer bleiben, weil der Solarstromertrag saisonal stark schwankt, Windenergie wetterbedingt kaum planbar ist und deshalb aufwändige Speicher benötigt werden. Daraus zieht Herrmann den bitteren Schluss.

Es geht nicht um grünes Wachstum, sondern um grünes Schrumpfen.

Es wurden bisher keine Modelle entwickelt, die durchgerechnet hätten, wie eine Wirtschaft aussähe, die an die verfügbare Menge an Ökostrom angepasst ist. Deshalb nimmt Herrmann beispielhaft an, die Wirtschaft müsste sich halbieren. Dann würden wir bei einer Wirtschaftsleistung vergleichbar dem Jahr 1978 landen. Wenn wir vergleichen, wie unser Lebensstil damals ausgesehen hat, können wir annehmen, dass auch mit einer Wirtschaft in dieser Größenordnung ein zufriedenstellendes Leben möglich wäre.

Die Gretchenfrage, die Ulrike Herrmann umtreibt: Wie kommen wir von einer auf Wachstum angewiesenen Wirtschaft zu einer ökologisch verträglichen Kreislaufwirtschaft, ohne auf dem Weg dahin schwere Wirtschaftskrisen mit Millionen von Arbeitslosen zu produzieren und eine populistische Demokratiefeindlichkeit zu provozieren?

Dieser Übergang, häufig auch die „große Transformation“ genannt, ist alles andere als trivial und bisher überhaupt nicht erforscht. Im Mittelpunkt stehe, so Herrmann, die Frage: Wofür wird die Öko-Energie reichen? Herrmann scheut sich nicht, zu unterscheiden. Einige Beispiele, was nach ihrer Einschätzung nicht mehr geht, weil die Öko-Energie dafür nicht reicht: Fliegen. Bio-Kerosin herzustellen, ist schlicht zu energieaufwendig, und es erzeugt auch Kondensstreifen, die die Wärmeabstrahlung behindern. 850.000 Menschen sind in Deutschland in diesem Feld direkt oder indirekt beschäftigt. Oder Auto fahren. Nicht jeder kann ein e-Auto fahren, weil der Öko-Strom dafür nicht reicht. Viel mehr Menschen werden auf Busse und Bahnen angewiesen sein. In dieser Branche sind 1,75 Mio. Menschen beschäftigt. Auch Dienstleistungen würden sich völlig verändern. Banken und Lebensversicherungen würden in einer schrumpfenden Wirtschaft zwangsläufig zusammenbrechen, weil Kredite nur zurückgezahlt und Lebensversicherungen einen Überschuss erwirtschaftet werden können, wenn es Wachstum gibt. Oder Medien. In einer schrumpfenden Wirtschaft würde niemand mehr Anzeigen in Zeitungen schalten. Wenn Waren knapp werden, braucht man keine Werbung mehr dafür machen. Auf der anderen Seite würden viele neue Arbeitsplätze entstehen, z.B. im Ökolandbau oder in der Forstwirtschaft. Es könnten alle Arbeit haben, aber nicht mehr das gleiche Einkommen, wie bisher.

Eine Transformation dieses Ausmaßes und dieser Konsequenz scheint beispiellos. Doch ein Blick in die Geschichte lohne sich, so Herrmann. Sie findet ein Beispiel für eine schrumpfende Wirtschaft im Kapitalismus in der britischen Kriegswirtschaft ab 1939. Damals hatten die Briten angesichts der Bedrohung durch Nazi-Deutschland innerhalb von Wochen ihre gesamte Wirtschaft in eine private, demokratische Planwirtschaft umgestellt. Im Gegensatz zur zentralen Planwirtschaft sowjetischen Typs setzten die Briten auf private Wirtschaftsakteure. Der Staat hatte Vorgaben gemacht, was noch produziert wird. So wurden die Kapazitäten frei, die man für die Rüstungsindustrie brauchte. Die erzeugten Güter wurden vom Staat verteilt. Es wurde rationiert. Jeder bekam das Gleiche. Es war in der Krisensituation ein großer Erfolg. Die Menschen nahmen die Einschränkungen entspannt hin, weil sie wussten, dass alle gleich behandelt werden. Die Briten hatten an dem erfolgreichen Modell bis 1954 festgehalten (siehe im Video ab Min. 28).

Die Klimakrise wird Rationierungen auch bei uns erzwingen, was bei der Wasserknappheit während Hitzeperioden mancherorts schon greifbar nahe liegt. Die Erfahrung lehrt, dass in solchen Knappheitssituationen bei Gütern der Grundversorgung der Ruf nach dem Staat, der entscheidet, wer wieviel verbrauchen darf, sehr nahe liegt. Die Frage ist, so Ulrike Herrmann, steigen wir rechtzeitig und geordnet aus dem Kapitalismus aus, um die schlimmsten Folgen der Klimakrise zu vermeiden oder ziehen wir einen chaotischen Prozess vor, der ebenfalls in eine Krisenwirtschaft führt, wenn der Kapitalismus zusammengebrochen ist?

Wandel muss politisch regulierend begleitet werden

Es gibt auch andere Stimmen, die die Situation ähnlich einschätzen. „Wenn unsere Wirtschaft durch eine große Transformation geht, … dann ist es normal, aber auch notwendig, diesen Wandel politisch eng und mit einer Regulierung zu begleiten, die sich immer wieder den neuen Umständen anpasst. Die eine große Lösung gibt es nicht.“ Das sagen der Historiker Frank Uekötter und die Historikerin Katja Patzel-Mattern im ZEIT-Interview. Sie setzen auf die Stärken des demokratischen Diskurses, der zum nötigen breiten Konsens für eine tiefgreifende Klimapolitik führen kann. Die historische Erfahrung lehre, dass sich die Bereitschaft für einschneidende Maßnahmen schnell und unerwartet bilden kann: „Wir haben gelernt, existenzielle Konflikte durch Teilhabe vieler Menschen an der politischen Debatte friedlich zu lösen.“

In den Medien sind derzeit viele besorgte Stimmen zu vernehmen. Sie versuchen sich aber nur zaghaft an konkreten Vorschlägen. Die Debatte wirkt häufig richtungslos und unsicher. Sie oszilliert zwischen allgemeinen Forderungen nach institutionellen Reformen, nach einer anderen Steuerpolitik, der Ausstattung der Biosphäre mit einklagbaren Rechten, Reformen der Finanzmärkte, der Abkehr von der Verzichtsrhetorik durch neue Narrative und natürlich vielen Ideen für technische Innovationen.

Es ist die große Stärke von Ulrike Herrmann, dass sie sich damit nicht zufrieden gibt. Sie vermittelt nach meinem Eindruck ein erstes greifbares Bild von einer Wirtschaft der nahen Zukunft, das die Illusionen zu überwinden versucht und die Alternativen angesichts der Begrenzheit unseres Lebensraums ungeschminkt und konsequent zu benennen versucht.

Zukünfte (2): Verzicht, Genügsamkeit, Unterlassen

Wachstumskritik nimmt in der Debatte über die Klimakrise und den Möglichkeiten, aus ihr herauszukommen, einen breiten Raum ein. Auf der Suche nach Zukunftsbildern könnte es sich deshalb lohnen, in einem ersten Schritt einen Blick auf die Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum zu werfen. Die besorgten Stimmen sagen: Es gibt kein unendliches Wachstum in einer endlichen Welt.“ Die Biosphäre, in die wir und alles uns bekannte Leben eingebettet sind und an der wir teilhaben, ist nicht mehr als eine dünne Membran. Darauf hat der kürzlich verstorbene Soziologe und Philosoph Bruno Latour unermüdlich hingewiesen. Die sorglosen Stimmen sagen: „Klimaneutralität erlangt man nur über wirtschaftlichen Fortschritt. Nicht Verzicht ist die Lösung, sondern Wachstum und Fortschritt.“ So Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich bei den 150. Baden-Badener Unternehmergesprächen (BNN vom 12.9.2022).

Wenn wir über Leben in der Zukunft reden, scheint das eine Schlüsselfrage zu sein. Was passiert mit dem Wachstum? Müssen wir davon abrücken? Müssen wir verzichten? Was bedeutet es, genügsam zu leben? Wie können wir unterlassen? Das Haus am Dom in Frankfurt hat dazu im Herbst 2021 eine Tagung veranstaltet, in der drei „besorgte“ Stimmen – eine ökonomische, eine buddhistische und eine christliche – zu Wort kamen.

Für eine Kultur des Genug traten alle drei Vortragende ein. Zunächst stellte Niko Paech, Ökonomieprofessor an der Universität Siegen, seine Wachstumskritik vor und zeigte die Grundzüge einer Postwachstumsökonomie auf. Seine Kritik richtet sich gegen die einseitige Fokussierung auf die Angebotsseite, die davon ausgehe, dass es genüge, die Technik und die Unternehmensseite der Wirtschaft zu verändern, um die ökologische Krise zu bewältigen. Das reiche jedoch nicht aus. Die Reduktionspotenziale auf der Nachfrageseite seien wichtiger. Paech zeigt sich skeptisch, ob die parlamentarische Demokratie in der Lage ist, diese Potenziale zu erschließen. „Wir müssen es selbst tun,“ meint er mit Blick auf die Zivilgesellschaft. Das Schlüsselwort sei Suffizienz.

Suffizienz ist das Gegenteil des Konsums

Mit Subsistenzwirtschaft, Regionalökonomie und Umbau einer mit der Transformation verkleinerten Industrie kann die Angebotsseite einen wichtigen Beitrag zu einer Postwachstumsökonomie leisten. Auf der Nachfrageseite ist es die Suffizienz, die in der Transformation gefragt ist. Paech stellt klar: Suffizienz ist das Gegenteil des Konsums. Es geht hier nicht um nachhaltigen Konsum, sondern um die Kunst der Genügsamkeit. Man könnte auch sagen, des Unterlassens. Das passiert praktisch, wenn wir das Anspruchsniveau reduzieren, also nur noch einmal die Woche Fleisch essen oder nur einmal jährlich in Urlaub fahren. Eine weitere Möglichkeit ist die Selbstbegrenzung. Man begnügt sich mit einem bestimmten Versorgungsniveau, obwohl eine Steigerung finanziell möglich wäre. Etwa Kleiderkauf nur noch, wenn Ersatz nötig ist. Die dritte Möglichkeit wäre die vollständige Entsagung, wenn z.B. jemand komplett ohne Fleischkonsum, ohne Flugreisen oder ohne Auto lebt. Die Suffizienzdebatte ist eng mit der Idee der Entschleunigung verbunden, weil jede Reduktion von Konsumhandlungen zugleich als Streckung der Zeitabstände zwischen Konsumhandlungen gesehen werden kann.

Ethisch lässt sich Suffizienz auf vier verschiedene Weisen begründen. Auf der Seite der Verantwortung könnten wir zu dem Schluss kommen, ökologische Grenzen könnten nur durch Verzicht eingehalten werden. Oder wir könnten für uns einen „verdienten“ Wohlstand definieren. Auf der Seite der Selbstsorge liefert die Resilienz eine Begründung für Suffizienz, sowohl in ihrer ökonomischen als auch psychologischen Ausprägung. Individuelles Wohlbefinden verlange danach, sich hie und da Grenzen zu setzen.

Zur Einhaltung ökologischer Grenzen gibt es keine Alternative, wenn wir die ökologische Tragfähigkeit wahren wollen. Allzu lange dachten wir, wir könnten unseren Wohlstand von den ökologischen Grenzen entkoppeln. Paech legt den Finger in die Wunde.

Alle bis heute unternommenen Versuche, über technologischen Fortschritt unseren ohne Wachstum nicht zu stabilisierenden Wohlstand zu entkoppeln von ökologischen Schäden, sind nicht nur gescheitert. Sie waren kontraproduktiv.

Wir dachten zudem allzu lange, durch endloses Wachstum würde sich der Wohlstand der Industrienationen im globalen Norden über alle Kontinente ausbreiten. Beim Bundeskanzler (Quelle: s.o.) klingt das so: Man werde keinen Einwohner der aufstrebenden Länder in Südamerika und Afrika dazu überreden, „nicht genau so viel Auto zu fahren, wie wir. Aber wir können ihnen sagen, dass wir die Technik haben, die es ermöglicht, dass Klima und Biodiversität darunter nicht leiden.“

Paech macht demgegenüber deutlich, dass globale Fairness geradezu Voraussetzung ist für unser aller Überleben. Wenn uns nur noch ungefähr 750 Mrd. t CO2-Äquivalente verbleiben, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, ist es eine einfache Rechnung, die zeigt, dass ein individueller CO2-Fußabdruck von 12 t für alle unmöglich ist. Das kann nur bedeuten, dass sich die Menschen in den wohlhabenden Ländern eine Lebensführung zulegen müssen, die für globale Gerechtigkeit innerhalb der ökologischen Grenzen sorgt. Wir haben damit, so Paech, die soziale Frage des 21. Jahrhunderts vor uns. Wer darf sich von dieser ökologisch noch halbwegs verträglichen Verteilungsmasse noch wieviel nehmen, ohne über seine Verhältnisse zu leben.

Nachhaltige Entwicklung kann nichts anderes sein, als globale Verteilungsgerechtigkeit innerhalb unverhandelbarer ökologischer Grenzen.

Die politischen Ansätze gehen von einer Gleichverteilung aus. Pro Kopf bedeutet das, jeder lebende Mensch darf 1 t CO2/Jahr emittieren. Ob wir das geschafft haben werden, können nur die persönlichen CO2-Bilanzen zeigen.

„Grünes“ Wachstum weist, so Paech weiter, die Verantwortung für Nachhaltigkeit nicht den Einzelnen zu, sondern den Maschinen, Häusern und Motoren. Sparsam soll der Verbrennungsmotor sein oder das Haus, aber nicht der Mensch. „Magisches Denken“ nennt Paech diesen Glauben an die Technik, der Politikern Wählerstimmen bringt. Ob wir global gerecht leben, könne sich aber nur daran bemessen, wieviel CO2 wir in einem Menschenleben verursachen.

Sogenanntes „grünes“ Wachstum setzt eine absolute Entkopplung der CO2-Emissionen und der Wertschöpfung voraus. Dabei werden, so Paech, gleich vier Probleme aufgerissen: die systematische Überschätzung des technischen Fortschritts, die systematische Unterschätzung der Rebound-Effekte, die Inkongruenz des Zielsystems und die systematische Handlungsunfähigkeit der Politik. Politiker würden sagen: Wir haben Erfolge erzielt im Klimaschutz, weil wir 10% mehr Zulassungen von E-Autos haben. Oft steckt dahinter ein ökologischer Ablasshandel. Seit 20 oder 30 Jahren wachse alles, was sich mit Klimaschutz in Verbindung bringen lässt. Trotzdem werden in den Industrieländern Jahr für Jahr neue Höchstwerte in der Inanspruchnahme knapper Ressourcen erreicht.

Wir können den ökologischen Ablasshandel nur auflösen, wenn wir uns in den Medien, in Wissenschaft und in der Wirtschaft nicht mehr an Objekten orientieren, sondern an konkreten ökologischen oder CO2-Rucksäcken.

Ein weiteres Problem ist die Handlungsunfähigkeit der Politik. So wenig wie eine Entkopplung eine politische Option sei, so wenig sei es wohl auch eine politische Steuerung in Richtung Nachhaltigkeit. Arthur Pigou, so Paech, habe alles Wichtige schon 1922 gesagt. Man muss die Stellgrößen so steuern, dass die Menschen anfangen, nachhaltiger zu leben. Die Politik habe nur versucht, umweltfreundlichere Artefakte für die Konsumenten attraktiver zu machen. Also ein Elektroauto statt eines Verbrenners oder ein mit Wasserstoff statt mit Kerosin angetriebenes Flugzeug. Wenn diese Alternativen jedoch nicht mehr Nachhaltigkeit erzeugen, müsste die Politik eigentlich dafür sorgen, dass die Menschen weniger Auto fahren oder fliegen. Da Politiker wiedergewählt werden wollen, tun sie das nicht.

Unser Wohlstand ist das Ergebnis einer dreifachen Entgrenzung oder Plünderung, wie Paech ungeschminkt ausspricht. Wir haben es mit einer zeitlichen Entgrenzung zu tun. Wir sind im Kollektiv permanent verschuldet. Die Verschuldung der Staaten sei die Grundlage unseres Wohlstandes. Wenn wir die gerechten Preise für unsere Grundbedürfnisse, für Ernährung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen bezahlen müssten, bliebe für Flugreisen nichts mehr übrig. Die physische Entgrenzung durch Maschinisierung, Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung sei der Motor des Wohlstandszuwachses, nicht menschliche Arbeitskraft und nicht menschliches Wissen. Die räumliche Entgrenzung, also die globalisierten Wertschöpfungsketten, der Zugriff auf die Ressourcen des globalen Südens, sei der dritte Faktor für unseren andauernden Wohlstandszuwachs.

Wenn man diese Sichtweise teilt, ändert sich auch die Auffassung, Suffizienz bedeute „Verzicht“. Wie können wir auf etwas verzichten, das uns nie zugestanden hat? Wie kann etwas „gerecht“ verteilt werden, das in einer gerechten Welt nie hätte entstehen dürfen, weil es auf Raubbau basiert?

Es spricht aber, folgt man Paechs Argumentation, noch ein anderer Punkt für Suffizienz. Wir haben mit den globalen Wirtschaftsbeziehungen ein störanfälliges Gebilde, ähnlich einem Kartenhaus, aufgebaut. Die Coronakrise hat gezeigt, was ein Virus in Wuhan auslösen kann. Resilienz, also Krisenstabilität, rückt wieder mehr in den Vordergrund. Paech definiert Resilienz als die Fähigkeit eines Systems, egal ob Gesellschaft, Funktionssystem, Organisation oder Individuum, Krisen zu überstehen, ohne die ursprüngliche Funktionsfähigkeit zu verlieren. Resiliente Systeme beruhen auf kurzen Versorgungsketten und sind kleinräumig, genügsam, autonom, flexibel, vielfältig.

Aber nicht nur die ökonimische Resilienz ist uns abhanden gekommen, sondern auch die psychologische Krisenfestigkeit. Forschungen zeigen, dass die Lebenszufriedenheit zu Beginn stark ansteigt, dieses Wachstum der Zufriedenheit jedoch mit zunehmendem Wohlstand gegen null tendiert. Wirtschaftliche Betätigung bringt also die größten Effekte in den ärmsten Ländern.

Der Bedarf an Selbstbegrenzung wächst mit dem Reichtum

Kein Konsum sei also keine Lösung, aber – auch hier gelte – die Dosis macht das Gift. Bei einer Überdosis Konsum drohe ein Konsum-Burnout. Die bisherige Konsumforschung weise einen blinden Fleck auf: die Abhängigkeit des Konsumnutzens von der Zeit. Der Mensch ist nicht in der Lage, seine Aufmerksamkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt auf mehrere Aktivitäten aufzuteilen. Die Konsumzeit ist also begrenzt, d.h. je mehr Güter wir konsumieren, umso weniger Zeit haben wir für das einzelne Gut. Es besteht die Gefahr, dass wir in einen Konsum-Burn-Out abrutschen.

Suffizienz habe., so Paech, zwei Begründungsebenen. Die Sollens-Ebene: Wer am stärksten über die Stränge schlägt, hat auch die größte Suffizienz-Last zu tragen. In armen Ländern brauchten wir nicht über Suffizienz reden. Der Bedarf an Selbstbegrenzung, die notwendig sei, um die ökologische Überlebensfähigkeit zu sichern, wachse mit dem Reichtum. Der Gradmesser für die Selbstbegrenzung sei die individuelle Öko- oder CO2-Bilanz. Die großen Brocken sind die Mobilität, die Digitalisierung und teilweise auch die Ernährung. Wir sollten, so Paech, effizient reduzieren, also dort, wo Luxus zu Buche schlägt.

Was wir als verzichtbaren Luxus betrachten, können wir nur in einem herrschaftsfreien Diskurs klären. Wir könnten dadurch ökonomische Effizienz mit sozialpolitischer Integrität verbinden – und wir könnten uns vor dem Konsum-Burn-Out bewahren.

Die einzige Möglichkeit, den Genuss zu sichern, ist, langsam zu bleiben.

Für eine Kultur des Genug

Der Pädagoge Manfred Folkers knüpft indirekt an diesen Befund an und verbindet ihn mit der Verbundenheit als Basis der buddhistischen Lehre – Verbundenheit in einem begrenzten Lebensraum Erde.

Wir sitzen in einem Boot, aber, wir rudern in die falsche Richtung.

Wie kann ich Kriterien finden, um die heutige Lage zu verstehen? Nach den Worten des Buddha sind es Gier, Hass und Verblendung, die unsere Situation prägen. Das Haben-Wollen sei ein ökonomisches Prinzip geworden. Ähnlich habe sich ein Konkurrenzprinzip entwickelt, das bewirke, dass alle gegeneinander wirtschaften und sich die Sache immer mehr beschleunigt. Wir schauen weg, wollen nicht wahrhaben, was passiert, wenn wir so weitermachen. Die Bagatellisierung ist seinerseits zu einem Prinzip des gesellschaftlichen Systems geworden. Folkers bringt es mit einem Zitat von Hans Jonas aus dessen Werk „Das Prinzip Verantwortung“ auf den Punkt.

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.

Oder mit Buddha gesprochen: Heilsames tun, Unheilsames lassen.

Den Verzicht begehren?

Mit einem kritischen Blick nähert sich die Theologin Andrea Günter dem Thema Verzicht. Sie geht davon aus, dass der Mensch ein begehrendes Wesen ist. Deshalb hinterfragt sie den Titel der Veranstaltung „All you need is less“, weil er die Logik einfach nur umgedreht, aber nicht durchbricht. Nun werde das Begehren auf das Weniger, auf den Verzicht, gerichtet. Aus einer christlich-feministischen Haltung heraus sucht sie nach Wegen, alte Dichotomien aufzubrechen. Sie bekennt sich zum Haben-Wollen, allerdings unter anderen Vorzeichen.

Die Gedanken sind natürlich verlockend, weil wir sie leicht als entlastend abhaken können nach dem Motto: Wenn wir so sind, dann können wir doch weitermachen, wie bisher. Günter wäre jedoch gründlich missverstanden, wenn wir es uns in dieser Weise bequem machten. Wir sehen uns bei ihr stattdessen mit dem hohen Anspruch konfrontiert, eine Transformation zum Genug von einem Bekenntnis des Begehrens und der Wertschätzung der Güter her zu denken, die der Mensch geschaffen hat. Es fehlt uns, so Günter, bisher eine Sprache dafür. Menschen sind strebende Wesen. Dies bleiben wir auch, meint sie, wenn wir nach dem „Genug“ suchen.

Wenn wir sagen, „All you need is less“, begehren wir das Weniger. Wenn wir begehren, laufen wir Gefahr, dass wir getrieben werden. Darum geht es Andrea Günter. Das Ziel sei es, nicht Getriebene zu sein. Begehren sei Bedingung für Vervollkommnung. Die Aufgabe bestehe darin, das Begehren zu kultivieren. Dazu gehört zunächst, vom homo oeconomicus als Mangelwesen abzurücken und einen anderen Ausgangspunkt zu wählen. Es ist ein Unterschied, ob wir mehr vom Selben wollen oder mehr zum Selben.

Kein Dualismus zwischen Haben oder Sein, sondern neu lernen, was Haben bedeutet; das ist die Herausforderung. Wie können wir das Hab und Gut auf neue Weise haben? Lassen wir uns von unserem Begehren treiben oder wird es kultiviert? Wie transformieren wir das, was ist, in eine neue Zeit hinein?

Damit sieht Günter einen Schlüsselfaktor für ein anderes Verständnis des Begehrens und Habens in der Zeitdimension. Im Rückgriff auf die Güterethik nach Platon und Hannah Arendt versteht sie Begehren als eine genealogische Struktur, die mitten im Generationengefüge stattfindet. Mit Blick auf die Vergangenheit ist alles, was entstanden ist, Güter. Es öffenen sich damit andere Fragen.

Wie werden die Dinge übergeben? Wie werden sie aufgegriffen? Wie übernehmen die Jüngeren das Alte? Wie transformieren wir das, was ist, in eine neue Zeit hinein?

Sie wählt bewusst historische Phänomene wie Autobahnen, Atomkraftwerke, Verbrennermotoren oder Schlachthöfe als Beispiele für Güter, auf die wir die Fragen anwenden könnten: Warum sind sie geworden? Warum sind und waren sie gut? Was wollen wir weiter mit ihnen tun? Stimmen die guten Gründe noch? Wie tradieren wir das Gute, ohne das Ding tradieren zu müssen? So zu fragen führt zu einem völlig anderen Wachstumsverständnis. Es geht nicht mehr darum, die Güter zu mehren, sondern das Gute an den Gütern, die wir in der Vergangenheit geschaffen haben, zu mehren und an kommende Generationen zu übergeben.

Wohin soll die Reise gehen?

Die Anforderungen an einen gesellschaftlichen Dialog, der „mitten in der Zeit“ Antworten auf diese Fragen findet, erscheinen aus dieser Perspektive sehr hoch. Jedenfalls können wir von der politische Kommunikation, wie wir sie derzeit praktizieren, kaum erwarten, so souverän mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umzugehen. Wo finden diese Güterabwägungen statt? Bleibt uns nur, auf die Zivilgesellschaft zu hoffen?

Obwohl die globalen Grenzen vielfach hartnäckig negiert werden, scheint sich die Einsicht in die Notwendigkeit, mit Weniger auszukommen, auch im politischen Raum langsam zu verbreiten. Es ist schon erstaunlich, wenn das britische House of Lords in einem Report zur Klimakommunikation feststellt, dass – anders als in der Politik oft behauptet – rein angebotsseitige Lösungen nicht ausreichen werden. Die übergroße Mehrheit der Menschen wolle sich ökologie- und klimagerecht verhalten. Der Staat solle solches Verhalten begünstigen und ermöglichen.

Priority behaviour change policies are needed in the areas of travel,
heating, diet and consumption to enable the public to adopt and use green
technologies and products and reduce carbon-intensive consumption.

Aus den Fehlern und Erfolgen früherer Krisen, auch aus der COVID-19-Pandemie, so der Report, sollte die Regierung lernen, wie wirksame Verhaltensänderungen im Zusammenspiel mit der Zivilgesellschaft und lokalen Akteuren erreicht werden können.

Wir können also bei unserer Suche nach möglichen Zukünften die vorläufige Prognose wagen, dass eine gute Zukunft von einer Kultur des Genug geprägt sein wird. Ob man von Verzicht spricht oder auf dieses Reizwort verzichten, ist dabei nachrangig. Fragt sich nur, wie kommen wir dahin? Wie kommen wir von unserer heutigen Kultur des grenzenlosen Wachstums zu einer Kultur des Genug oder des Guten?

Dazu in einem nächsten Blog-Beitrag mehr.

Zukünfte (1): Über den Mangel an Visionen, positiven Utopien und Zukunftsbildern

Thomas Morus: Utopia. Frontispiz der Ausgabe von 1518. CC BY-SA 4.0

Die „große Transformation“ ist voll im Gange, aber es fehlt an Klarheit, wo die Reise hingehen könnte. Ebenso unklar ist, wo die Reise hingehen sollte. Weder unsere gewünschte Zukunft, noch unsere wahrscheinliche Zukunft ist für uns greifbar. Es geht um Klimaschutz und Ökologie. Es geht um Digitalisierung. Und es geht immer um Wirtschaft. Soviel ist klar. Nur, was dabei herauskommen soll, bleibt hartnäckig im Unklaren.

Zukunftsforschung ist schwierig. Wir können die Zukunft schlecht erforschen, weil sie ja noch nicht geschehen ist. Zukunftsforschung ist eine Paradoxie. Der Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“, dessen Veröffentlichung sich in diesem Jahr zum 50. mal jährt, gibt Anlass, in einer Serie unregelmäßiger Beiträge hier in meinem Blog auf Spurensuche zu gehen. Wie blicken wir heute in die Zukunft? Welche Zukünfte können wir uns vorstellen? Wie wahrscheinlich sind unterschiedliche Zukünfte? Welche Szenarien, Utopien, Zukunftsbilder und Visionen könnten uns Orientierung bieten?

Ökologische Krisen – einfach wegfedern?

Der Erdsystemwissenschaftler Wolfgang Lucht hat kürzlich in einem Interview mit klimareporter.de beklagt, es regiere die verführerische Annahme, wir könnten die ganzen Veränderungen um uns herum einfach so wegfedern. Lebende Systeme hätten zwar in gewissem Maße die Fähigkeit, sich an die Veränderung von Umweltsystemen, wie der Ozeanströmung oder dem Gletschereis, anzupassen. Aber:

Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass eine komplexe Gesellschaft wie die unsere, die von zahlreichen Netzwerken abhängig ist – von Lieferketten, Spezialwissen, von funktionierenden Institutionen und einer stabilen Energieversorgung – von sich aus resilienter sei gegen die Folgen unseres Energie-, Material- und Raumverbrauchs als das Klima oder die Ökosysteme.

Der Mensch habe sogar die Fähigkeit, vorauszuplanen und innovativ zu sein. Aber diese Fähigkeit zur Anpassung habe Grenzen. Wenn die Grenzen der Anpassungsfähigkeit erreicht seien, komme es zu Zusammenbrüchen – bis hin zum Kollaps und letztlich zum Absterben.

Die Herausforderung für demokratische Gesellschaften sei, Mecahnismenn zu etablieren, die die Nachhaltigkeit und die Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Gesellschaften absichern. In dieser abstrakten Dimension scheinen die Dinge klar zu sein. Nur lässt sich davon wohl niemand leiten

Wie ist die Selbstgewissheit und Ignoranz des Menschen zu erklären?

In einem Essay für DIE ZEIT hat sich Nils Markwardt kürzlich auf die Suche danach begeben, weshalb nur die akuten Krisen bekämpft werden, während es die eher verborgenen, existenziellen Krisen nur mit Mühe in die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit schaffen. Er hat eine Reihe von Gründen ausgemacht, die die Unentschlossenheit im Umgang mit den existenziellen Krisen erklären können.

  • Die psychlogische Erklärung. Kurzfristige Konsuminteressen werden gegenüber langfristigen ökologischen Interessen bevorzugt. Auch wenn extreme Folgen der Klimakrise wissenschaftlich gründlich erforscht sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten können, mögen manche immer noch davon ausgehen, dass es für sie schon nicht so schlimm kommt.
  • Das Präventionsparadox. Vorbeugung erscheint überflüssig, gerade weil Vorbeugung in einer konkreten Krisensituation erfolgreich war. Bei den Corona-Maßnahmen ist das Phänomen gut zu beobachten. Manche Kritiker halten sie für verfehlt, weil es ja nicht so schlimm gekommen sei, wie manche prognostiziert hätten. Die Wirkung der unangenehmen Maßnahmen werde übersehen. Nach dem gleichen Muster würden auch Energiekrise und Klimakrise als hysterische Übertreibung abgetan.
  • Als weiteren Grund führt Markwardt den unterentwickelten Umgang mit Worst-Case-Szenarien an, weil sie im Zweifelsfall teuer seien, mit Grundrechten kollidierten und ihr Nutzen bis zum Ernstfall unklar bleibe.
  • Die Langfristigkeit der ökologischen Krisen. Sie kommen ausgerechnet in der Phase, in der Maßnahmen noch möglich sind, langsam und eher schleichend daher. Katastrophenereignisse lassen sich räumlich, zeitlich und in ihrer Dimension erst spät klar vorhersagen.
  • Die Bewertung politischen Handelns. Sie sei stets mit einer spezifischen Weltperspektive verbunden. Man könne die Dinge vom Ideal abwärts oder vom Chaos aufwärts betrachten. Am Beispiel der Corona-Krise könne man also z.B. eine verkorkste Impfkampagne und fehlende Filter in Klassenzimmern beklagen oder man könne das Ausbleiben der Worst-Case-Szenarien als historischen Erfolg feiern. Wenn die Dinge jedoch gleichzeitig schlecht und gut sind, hätten die Wähler Anlass, wütend zu werden, aber keinen Anlass, sich verantwortungsvollen Politikern zuzuwenden.
  • Einen weiteren Grund findet Markwardt im Primat des Konsums, der sich – befeuert durch den Neoliberalismus – eingestellt habe.

Konsum spielte [in früheren Gesellschaften] … eine untergeordnete Rolle, weil der klassische Liberalismus des 18. Jahrhunderts zwar den Handel predigte, dabei aber gleichzeitig Sparsamkeit und Verzicht einforderte.

Mit der Radikalisierung der Marktidee im Neoliberalismus habe sich das geändert.

Der Markt, so die neoliberale Grundannahme, sei nämlich die gesellschaftliche Sphäre, in der Freiheit und auch Demokratie hergestellt würden.

Der Einzelne sei aus dieser Warte nicht mehr als politischer Bürger mit seinen demokratischen Rechten und Pflichten gefragt, sondern als Endverbraucher. Er soll seine Affekte nicht mehr zügeln, sondern ihnen auf dem Markt freien Lauf lassen. Neoliberalen Kräften ist es somit gelungen, jede staatliche Regulierung unter halbtotalitären Verdacht zu stellen. Demokratie erscheine Menschen, die sich die verführerische binäre Logik von gutem Markt und bösem Staat zueigen machen, nicht mehr als permanenter Prozess kollektiver Willensbildung. An die Stelle des demokratischen Diskurses, wie die Klimakrise bewältigt werden könnte, verlagert sie die Debatte ins Grundsätzliche, ob der Staat (wer sonst?) Verbote verbieten und den Verzicht auf Verzicht gebieten soll.

Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu unausweichlich, dass sich keine gemeinsame positive Zukunftsvision mehr herausbilden kann. Denn die beste Zukunft ist ja die, die sich durch unsere Konsumentscheidungen einstellt.

Wolfgang Lucht nennt übrigens im oben erwähnten Interview noch eine weitere Erklärung für die herrschende Lethargie: die Eigenheiten der Klimakommunikation. Wenn die Wissenschaft von einer „Destablisierung der Ökosysteme“ oder einer „Abschwächung der Zirkulationsströmung“ spreche, klinge das technisch und abstrakt.

Angesichts der sich häufenden Krisen, – nach der Corona-Pandemie nun der Ukraine-Krieg und die Gaskrise, von der alles überlagernden ökologische Krise ganz zu schweigen, – wächst die Sorge, wir könnten nicht hinreichend mit dieser explosiven Mischung unterschiedlichster Krisen umgehen. Wir seien in der Lage, meint Lucht, für einen Krieg oder gegen eine Pandemie zu mobilisieren, aber scheinbar versagen wir, wenn es darum geht, für erneuerbare Energie, einen reduzierten Ressourcenverbrauch und eine angepasste Lebensweise zu mobilisieren.

Die besorgte Zivilgesellschaft steht einer Politik und einer Wirtschaft gegenüber, die zögerlich nur das Nötigste bereit sind zu tun. Derweil wird die Zeit knapp, die noch verbleibt, um die drohende existenzielle Menschheitskrise abzuwenden. Diese Sorge geht mit einer scheinbaren Unbekümmertheit einher, mit der die Menschen an ihrem gewohnten Lebensstil festhalten und alle Warnungen von Wissenschaftlern und von den Sozialen Bewegungen der jungen Generation, wie z.B. Fridays for Future oder Last Generation, in den Wind schlagen.

50 Jahre „Grenzen des Wachstums“

SWR2 hat zum 50. Jahrestag des Berichts einen Radiobeitrag von 1972 aus dem Archiv geholt. Was hat dem Bericht damals die herausragende Bedeutung beschert? Erstmals hatten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen die neuen Möglichkeiten des Computers genutzt, um für die gesamte Menschheit Projektionen auf die langfristige Zukunft zu errechnen. Die große Resonanz, die der Bericht ausgelöst hat, lässt darauf schließen, dass das Unbehagen angesichts offensichtlicher Umweltprobleme damals schon weit verbreitet war.

In der Rückschau hat sich die Skepsis des Club of Rome bestätigt. Einwendungen, die Möglichkeiten der Wissenschaft und des technischen Fortschritts seien nicht genügend berücksichtigt worden, hat der Club damals zurückgewiesen. Zurecht, wie wir heute wissen. Diese Möglichkeiten könnten, so die Befürchtung der Mitglieder des Club of Rome, wahrscheinlich zu spät genutzt werden, um Übervölkerungs- und Umweltkatastrophen abzuwenden. Sie könnten wahrscheinlich Krisen nur verzögern, aber nicht verhindern. Denn die uns bedrohenden Probleme seien nicht nur auf technischem Wege zu lösen. Der Radiobeitrag von 1972 schließt mit einer Bemerkung über die Utopie der Zeit.

Die Unausweichlichkeit neuer Maßstäbe und neuer Zielorientierungen menschlichen Verhaltens und menschlichen Zusammenlebens ist wissenschaftlich in dieser Eindeutigkeit und klaren Verständlichkeit bisher noch nirgendwo konstatiert worden. Die Reflexion dieses Sachverhalts führt zu dem Paradoxon, dass sich als die eigentliche Utopie unserer Epoche die Vorstellung erweist, der Status Quo ließe sich noch aufrechterhalten. Wie vorgestern, so könne man auch morgen noch in den Tag leben.

Was leisten Projektionen, Modelle, Prognosen?

Die „Grenzen des Wachstums“ bildeten erstmals den Versuch, die Zukunft der Menschheit mit Hilfe der neuen Möglichkeiten des Computers in Szenarien zu erfassen. So gelang es, die Begrenztheit des Lebensraums und der Lebensgrundlagen auf der Erde in ein breites Bewusstsein zu bringen. In der Rückschau zeigt sich, dass besonders die Aussagen zur CO2-Belastung der Atmosphäre ziemlich genau zutrafen, während andere Aussagen, z.B. zur Erschöpfung der Erdöl-Vorkommen, daneben lagen. Aber kommt es bei dieser Art der Zukunftsbetrachtung überhaupt darauf an, die Zukunft möglichst treffsicher vorherzusagen?

In einem weiteren Beitrag hat sich SWR2 Wissen mit 50 Jahren versuchter Zukunftsforschung beschäftigt. Wissenschaftliche Modelle können Wahrscheinlichkeiten unter bestimmten Bedingungen errechnen. Sie können aber die Komplexität zukünftigen menschlichen Verhaltens nicht berechnen. die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Klimamodelle können sehr gut vorhersagen, was jeweils mit hoher Wahrscheinlichkeit passiert, wenn der Eintrag von Klimagasen weiter ansteigt oder gleich bleibt oder sinkt.

Es lässt sich auch heute kaum vorhersagen, wie solche Szenarien oder Projektionen menschliche Entscheidungen beeinflussen. Wir sehen allerdings, dass die Reaktion auf negative Szenarios nicht unbedingt die Entscheidungen beflügelt, die eine Balance menschlichen Lebens in der begrenzten Biosphäre anstreben, sondern gleichermaßen Entscheidungen beflügelt. die darauf zielen, am gewohnten Lebensstil mit all seinen negativen Auswirkungen festzuhalten.

So ist eine Situation entstanden, die zu verbreiteter Orientierungslosigkeit geführt hat. Die Zukunftserwartungen haben sich stetig verdüstert. Es bleibt jede Aufbruchstimmung aus. Die langjährige Untätigkeit hat eine Situation heraufbeschworen, die Endzeit-Szenarios wahrscheinlicher werden lässt. Die Zeit ist schon lange knapp.

Nicht viel besser sieht es übrigens bei der Digitalisierung aus. Es gibt Dystopien, die mögliche Konsequenzen unseres unbefangenen oder blauäugigen Umgangs mit der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz aufzeigen. Solange uns aber eine Vorstellung fehlt, wie wir in Zukunft leben wollen, können wir uns auch nicht vorstellen, wofür wir für ein gutes Leben digitale Systeme brauchen und wofür nicht.

Fünf Zukünfte

Die Zukunft ist ungewiss. Wir können sie aber nicht einfach auf uns zukommen lassen. Unsere Entscheidungen treffen wir um Alltag typischerweise nach unseren kurzfristigen Bedürfnissen. Wir blenden mögliche langfristige Wirkungen gerne aus. Das hat auch damit zu tun, dass Zukunftsarbeit mit Aufwand verbunden ist. Wenn wir uns nicht mit dem Befragen des Orakel begnügen, sondern uns der Mühe stellen wollen, können wir zunächst verschiedene Zukünfte unterscheiden. Wovon reden wir eigentlich, wenn wir in der Gegenwart aus ausgewählten Erinnerungen an die Vergangenheit die Ungewissheit der Zukunft erforschen wollen?

Eine grundlegende Unterscheidung von Betrachtungsmöglichkeiten der Zukunft liefert z.B. das „Eltviller Modell“ der Unternehmensberatung FMG. Es unterscheidet fünf Arten von Zukünften. Wahrscheinliche Zukünfte beschreiben Annahmen über die Zukunft, unerwartete Zukünfte nehmen Überraschungen in den Blick, mit denen niemand rechnet, denkbare Zukünfte beschäftigen sich mit Chancen, die in der Zukunft erkennbar sind, gewünschte Zukünfte werden Visionen genannt und schließlich beschreiben wir Strategien als Ausdruck geplanter Zukünfte.

Es scheint mir sinnvoll, solche Unterscheidungen im Hinterkopf zu haben, um die Blickwinkel leichter ändern zu können und um Zukunftsbetrachtungen einordnen zu können. Der Bericht des Club of Rome von 1972 wäre nach dieser Unterscheidung überwiegend der Betrachtung wahrscheinlicher Zukünfte zuzuordnen. Resilienzforschern und Katastrophenschützern überlassen wir es gerne, sich mit unwahrscheinlichen Zukünften zu beschäftigen. Wer beschäftigt sich eigentlich mit Chancen, die in der Zukunft liegen? Und wie entstehen daraus Visionen?

Zukunftkunst

Die „Große Transformation“ findet statt. Ob menschliches Leben in der Biosphäre der Zukunft noch möglich ist, hat die Menschheit selbst in der Hand. Sie gestaltet die Transformation, ob sie will oder nicht. Sich verweigern heisst, sich für Endzeitszenarien entscheiden und die Strategien daran ausrichten. Wir können uns der Zukunft aber auch stellen und versuchen, unserer Verantwortung als der Spezies, die im Anthropozän die Lebensbedingungen in der Biosphäre prägt, gerecht zu werden.

Mit der Vielschichtigkeit der verschiedenen Blickwinkel auf Zukünfte umzugehen, ist eine Kunst, „Zukunftskunst“, wie der Wuppertaler OB Uwe Schneidewind noch zu seiner Zeit als Direktor des Wuppertaler Instituts dargelegt hat. Alle Mensch und Organisationen seien Zukunftskünstler. Aber kein Mensch muss die Welt allein retten. Es geht um ein gemeinsames Kunstwerk, um die Kunst der Zusammenarbeit. Ist nicht allein diese Vorstellung schon eine wunderbare Vision?

„Es geht nicht mehr um Produktion, sondern um die Bewohnbarkeit der Erde.“

Der französische Soziologe Bruno Latour hat sich zum Abschluss eines langen Interviews bei ARTE an einer Botschaft an seinen Enkel versucht. Angesichts der Untätigkeit der vorherigen Generationen werde die Enkelgeneration unter den von den Naturwissenschaften vorhergesagten Katastrophen leiden. Die Transformation werde Zeit brauchen. Deshalb möge sich der Enkel mit allen notwendigen therapeutischen Mitteln versorgen, um die Ökoangst 20 Jahre lang aushalten zu können. In 40 Jahren, so die Annahme von Latour, werden die Menschen angekommen oder, wie er zu sagen pflegt, „gelandet“ sein. Sie werden ihre politischen Institutionen angepasst haben, ebenso ihre juristischen Definitionen, die Künste, die Wissenschaft und letztlich auch die wirtschaftlichen Bedingungen. In 40 Jahren werde der Prozess der Zivilisation, der gegenwärtig ausgesetzt sei, wieder in Gang gekommen sein. Man werde mit Verwunderung zurückblicken auf die Zeit der Unkenntnis und Verweigerung.

Digitale Demokratie (1): Bessere Krisenkommunikation durch Teilhabe?

Der Evaluationsbericht zur Corona-Pandemie schlägt bessere Datennutzung und Risikokommunikation vor

Mit der Corona-Pandemie durchlebt die Gesellschaft eine fundamentale Krise, deren Bekämpfung mit Auswirkungen verbunden war und immer noch ist, die sich außerhalb von Fachkreisen kaum jemand ausmalen konnte. Aus der Krise zu lernen, steht an. Ein Sachverständigenausschuss ist deshalb beauftragt worden, den politischen Akteuren einen Evaluationsbericht vorzulegen. Nun liegt der Bericht vor und die Frage steht im Raum, ob er irgendwie ein Lernen auslöst.

Ziemlich schnell ist der Bericht als gescheitert kritisiert und zur Seite gelegt worden. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – lohnt es sich, dem Dokument besondere Beachtung zukommen zu lassen. Vielleicht lässt sich hier beobachten, wie Lernen auf gesellschaftlicher Ebene als Antwort auf die Krisen unserer Zeit funktioniert. In diesem Blog-Beitrag möchte ich einen Blick auf die Nutzung von Gesundheitsdaten für die Pandemiebekämpfung und die Kommunikation der Maßnahmen werfen. Beide Themen betrachtet der Sachverständigenausschuss als Schlüssel zu einer besseren Pandemiebewältigung. Sie können wohl darüber hinaus als besonders relevant für gesellschaftliche Lernprozesse auch in den anderen Krisenerscheinungen unserer Tage betrachtet werden. Was lässt sich aus den Erfahrungen der Pandemie für die viel beschworene Digitalisierung eines so sensiblen Bereichs wie der Gesundheit lernen? Was sagt der Bericht über eine gute Krisenkommunikation? Wie lassen sich die Erkenntnisse aus dem Bericht verallgemeinern und auch auf die anderen Krisen unserer Zeit übertragen?

Virologische, epidemiologische, klinische und soziale Daten in einen Zusammenhang setzen

Mit Blick auf Lernprozesse ist zunächst interessant, dass der Sachverständigenausschuss selbst die versäumte und vernachlässigte Beobachtung und Bewertung der Maßnahmen in der Corona-Pandemie beklagt. Notwendig sei in der Zukunft eine mitlaufende Evaluation.

Im Gegensatz zum Vorgehen in einigen anderen Ländern wurde in Deutschland eine fachübergreifende Begleitforschung während der Corona-Pandemie noch nicht erreicht. So gibt es noch immer kein nationales Forschungskonzept im Bereich Public Health. Eine solch fachübergreifende Begleitforschung ist aber zwingend nötig, um Entscheidungen des Krisenmanagements auf eine bessere Wissensgrundlage zu stellen.

S. 9

Erst mit einer fortlaufenden Bewertung der Maßnahmen, die die „richtigen Fragen nach deren Wirkung“ stelle, ließen sich wirksame von unwirksamen Maßnahmen unterscheiden. Der Bericht weist darauf hin, dass eine Betrachtung der unmittelbaren Wirkung der Maßnahmen noch nicht ausreichen würde. Er mahnt ein Lernen der 2. Ordnung auf der strukturellen Ebene an.

Es muss ebenfalls analysiert werden, wie die Qualität und Wirksamkeit dieser Maßnahmen von den gegebenen institutionellen und normativen Strukturen sowie gesellschaftlichen Faktoren – wie dem Vertrauen in staatliche Maßnahmen und der Qualität der Risikokommunikation – abhängen, innerhalb derer sie beschlossen und implementiert werden.

S. 9/10

Eine Begleitforschung auf der Grundlage eines nationalen Public-Health-Forschungskonzepts, wie sie im Bericht gefordert wird, setzt eine ausgedehnte Datenerhebung voraus. Der Ausschuss denkt an virologische, epidemiologische, klinische und soziale Daten. Weil in einer Pandemie schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, dies aber auf fundierter Grundlage geschehen soll, plädiert der Ausschuss für eine systematische Erfassung, die der Sensibilität von Gesundheitsdaten angemessen Rechnung tragen solle. Dafür sei ein

… datengesichertes bundesweites Vorgehen etwa durch die Einführung einer elektronischen Patientenakte, eines nationalen Impfregisters oder einer Registrierung, Auswertung und gezielten Ansprache der Versicherten durch ihre jeweilige Krankenkasse notwendig.

S. 10

Die Frage, wie diese Datensicherheit in dem höchst sensiblen Feld der Gesundheit konkret erreicht werden könnte, bleibt offen. Der Bericht verzichtet leider auf weitere Ausführungen zur Angemessenheit der Datenerfassung und der Sekundärverwendung für andere Zwecke oder andere Akteure. Von der Antwort auf diese Frage hängt aber wesentlich ab, ob die Gesellschaft einen Pfad zu einer demokratisch legitimierten Krisenbewältigung findet oder ob sich der schleichende Prozess des Überwachungskapitalismus fortsetzt.

In einem ZEIT-Interview mit Shoshana Zuboff wird deutlich, was hinter der Frage nach der Angemessenheit der Datenerfassung und -verwendung steckt. Es geht um eine Gratwanderung, deren Gelingen oder Misslingen über den Fortbestand unserer Demokratie entscheidet. Der herkömmliche Kapitalismus habe sich in einen Überwachungskapitalismus verwandelt. Viele haben sich daran gewöhnt, dass die Tech-Konzerne die Privatsphäre der Menschen ausbeuten und sie zu Zwecken für den Handel mit ihren privaten Erfahrungen und Gefühlen macht.

Das Private ist ohne seine Verankerung in der Geschichte der Demokratie gar nicht zu denken. … Die Privatheit ist seit der Aufklärung in einer Geschichte der Individualisierung entstanden, gleichzeitig mit der Idee der unantastbaren Menschenrechte und mit der Demokratie als politischer Ordnung, in der souveräne Individuen handeln. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht in einzelne Bestandteile auflösen. Privatheit muss geschützt werden, weil in ihr zum Ausdruck kommt, dass jeder Mensch natürlicherweise den Respekt verdient, dessentwegen er individuelle Rechte innehat.

Der Überwachungskapitalismus wolle totale Gewissheit über die Zukunft des Verhaltens erlangen, befürchtet Zuboff. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Fehlentwicklung des Internets, die zur Bedrohung der Privatsphäre und unserer demokratischen Grundordnung geführt hat, auch auf das Feld der „Public Health“ ausstrahlt. Wenn sich die digitalen Giganten für ihre Geschäftszwecke privater Daten nach Belieben bemächtigen, warum sollte man sie nicht auch für den guten Zweck der Pandemiebekämpfung nutzen?

Was es bedeuten würde, wenn die Demokratie erodierte und Gesundheits-Apps willkürlich zur Verhaltenssteuerung missbraucht würden, zeigt aktuell das Beispiel des totalitären Regimes in China, wo die Corona-App zweckfremd genutzt wird, um den Verhaltens- und Bewegungsspielraum der Menschen willkürlich einzuschränken.

Kommunikation als Risiko

Gelingende Krisenkommunikation – der Bericht spricht von „Risikokommunikation“ – ist ein entscheidender Faktor jeder Krisenbewältigung, weil Legitimität und Akzeptanz der Maßnahmen davon abhängig ist, wie Gefahren oder Risiken wahrgenommen werden. Im Falle der Corona-Pandemie schätzt der Bericht die Potenziale der Risikokommunikation als „weitgehend ungenutzt“ ein.

Die Kommunikation solle den Stand des Wissens vermitteln, die Grenzen des Wissens aufzeigen, transparent und „auf Augenhöhe“ stattfinden, kontroverse Meinungen zulassen. Die Sachinformation solle für unterschiedliche Zielgruppen verständlich und für ihren Alltag anschlussfähig sein.

Absolute Zahlen sollen immer ins Verhältnis zur Bezugspopulation gesetzt werden. Aussagekräftige Vergleiche und Visualisierungen durch Grafiken oder Tabellen helfen der Informationsvermittlung von Daten und erleichtern das Verständnis …“

s. 11

Mehr noch: Der Sachverständigenausschuss will weg von top-down-, hin zu dialogischen Kommunikationsstrategien und partizipativen Prozessen. Das ist ein ziemlich hoher Anspruch an Kommunikation „als staatlicher Aufgabe“ in „enger Kooperation mit lokalen Akteuren“. Damit wird Krisenkommunikation auch zu einer zivilgesellschaftlichen Angelegenheit der demokratischen Gesellschaft. Aber wie?

Engere Kooperation zwischen den kommunizierenden Organisationen

Der Bericht zeichnet ein Bild der Krisenkommunikation, das einerseits Korrekturen der bisherigen Top-Down-Praxis vorsieht, und das andererseits die einseitige Konzentration dieser klassischen Kommunikationsmethoden aufbricht zugunsten einer gleichwertigen Nutzung partizipativer Ansätze.

Im Ergebnis sollte die Bekämpfung der Pandemie als gemeinsame Anstrengung zur Infektionsreduktion wahrgenommen und nicht primär als Befolgung staatlicher Vorschriften erlebt werden.

S. 60

Der Ausschuss denkt an eine Dachkampagne und Teilkampagnen in enger Kooperation mit lokalen Akteuren, an bessere Wortwahl, daran, Zahlen in einen aussagekräftigen Zusammenhang zu setzen und Zahlen zu visualisieren. Kampagnen sollten über alle verfügbaren Kanäle – z.B. Rundfunk, soziiale Medien, Kino, Plakate, Postwurfsendungen, persönliche Beratungen, Aktionen in Schulen, Betrieben oder Freizeiteinrichtungen, Wanderausstellungen, Haustür-Besuche oder Informationsscouts für schwer erreichbare Zielgruppen – verbreitet werden.

Für die Information über die sich ständig verändernden Sachverhalte fordert der Bericht eine klare Rollenverteilung ein. Die vorhandenen Strukturen seien in der Krisensituation vielfach ungenutzt geblieben oder unterlaufen worden. Das betreffe die Entscheidungsfindung durch Bund- und Länder-Exekutiven, ohne die Legislative angemessen zu beteiligen. Das betreffe aber auch Institutionen des Gesundheitssystems. So habe z.B. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von Aids sehr gute Erfahrungen mit Kampagnen, in der Corona-Pandemie aber weitgehend ausgeschlossen worden. Ähnliches schildert der Bericht über die Gesetzlichen Krankenkassen, deren langjährig praktizierte Lebenswelt-Prävention für die Corona-Prävention nicht genutzt wurde.

Mehr dialogische Kommunikation

Der Bericht setzt auf ein zweites Standbein der Kommunikation, das bisher in der Krisenbewältigung kaum eine Rolle gespielt hat, obwohl die Methode als wichtige Säule im gesundheitlichen Krisenmanagement betrachtet werde. Die Methode heißt RCCE (risk communication and community engagement) und setzt auf Bürgerbeteiligung, um die Akzeptanz für erforderliche Maßnahmen zu steigern.

Partizipation beinhaltet auch, Kritik und Skepsis ernst zu nehmen und sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Abweichende Meinungen wurden in der Corona-Pandemie oft vorschnell verurteilt. … Begreift man Kontroversen in der Krisensituation nicht als Hindernis, sondern als Chance, trägt dies zur konstruktiven, respektvollen und im demokratischen System unumgänglichen Debatte bei.

S. 63

Der Bericht geht leider nicht näher auf die Anwendung der Methode und die Gestaltung von Beteiligungsprozessen in der Praxis ein. Die Methode geht im Kontext von Covid-19 auf die WHO zurück und ist in einem Leitfaden ausführlich beschrieben.

Risikokommunikation – ein unterbelichtetes Thema

Mit Blick auf die vielfältigen Krisen, mit denen wir es zu tun haben und noch mehr zu tun bekommen, scheint Risiko- oder Krisenkommunikation ein dringendes Thema zu sein. Die demokratische Gesellschaft muss lernen, wie sie überlebensfähig bleiben kann, wenn ihr der Wind ins Gesicht bläst.

Der Verwaltungswissenschaftler Gunnar Folke Schuppert wies kürzlich in einem Vortrag darauf hin (ab ca. Min. 4), dass die Ge- und Verbote im Verlauf der Pandemie mehr und mehr verdrängt wurden durch Appelle an die Bürger, dass sie doch bitte das tun sollen, was die Regierung möchte. Mit Blick auf die Pandemiebekämpfung der vergangenen beiden Jahre greift er einen Begriff des norwegischen Politikwissenschaftlers Stein Ringen auf, der von der „powerlessness of powerful governments“ spricht. Herrschaft sei in der Pandemie durch Krisenkommunikation ausgeübt worden. Es reiche deshalb nicht aus, Gesetze zu erlassen, Steuern einzunehmen und auszugeben. Alle Formen von Krisen erforderten eine Krisenkommunikation, um die nötige Akzeptanz zu erzeugen. Er zitiert Armin Nassehi vom Beginn der Pandemie:

Wie in einem Brennglas lässt sich gerade beobachten, wie manche Grundlage der Gesellschaft funktioniert. Macht erkennt man normalerweise daran, dass diejenigen, über die man Macht hat, tun, was sie tun sollen. Machen die Leute aber das im Augenblick? Wann muss sich Politik extremer durchsetzen, wenn Politik nicht genügend Machtmittel über die Einsichtsfähigkeit der Bürger und Bürgerinnen hat? Wenn man sich im Augenblick die Pressekonferenzen der Politiker anschaut, sieht man, wie sie darum ringen.

ab ca. Min. 8

Grundlage jeder Risikokommunikation sind demnach das, was Schuppert Rechtfertigungsnarrative nennt. Das Ringen um die Wahl und Durchsetzung der Narrative, um eine Rechtfertigungsordnung, ist deshalb von höchster Bedeutung, weil sie Ansprüche auf Herrschaft und die Verteilung von Gütern und Lebenschancen begründen.

Mit Blick auf die Digitalität der Krisenkommunikation drängt sich zudem die Frage auf, ob die Sprache der Algorithmen auch als Herrschaftssprache in diesem Sinne zu verstehen ist. Jedenfalls begründeten sie eine Herrschaftsbeziehung zwischen denen, die die Algorithmen produzieren, und denen, die sie anwenden (müssen), so Schuppert. Wie weit beeinflussen oder prägen also die digitalen Giganten das Ringen um die Rechtfertigungsordnung?

Netzwerke können gleichermaßen als Verbreitungsmedien für Viren und Information gesehen werden. Hatten wir es nicht nur mit einer medizinischen oder epidemiologischen Pandemie zu tun, sondern zugleich mit einer Infodemie? In demselben Moment, wie sich das Virus viral verbreitete, verbreiteten sich im Internet viral Erklärungsversuche über Eigenschaften und Übertragungswege sowie Verschwörungsgeschichten, die von den netzwerkartigen Strukturen profitieren. Darauf weist Schuppert unter Rückgriff auf den Historiker Niall Ferguson hin, der in Doom über die Katastrophen der Menschheit schreibt und was man aus ihnen lernen könnte.

Mit der Risikokommunikation in der Pandemie ist die Herausforderung angesprochen, unsere demokratische Grundordnung unter den Bedingungen digitaler Netzwerke und universaler Krisen neu zu denken. Insofern ist zu hoffen, dass der Impuls des Sachverständigenausschusses für eine gelungenere Teilhabe der Bürger an der Wissenserzeugung und -verbreitung Gehör findet. Vielleicht gelingt es ja angesichts der akuten und latenten Bedrohungen durch die aktuellen und anstehenden Krisen, den digitalen Plattformen als Träger infrastruktureller Macht einen Impuls entgegenzusetzen, der die demokratische Ordnung auf dem Weg in die Digitalität stärkt. Nochmal Zuboff:

Es ist das alte Lied: Wissen ist seit eh und je Macht, und wir leben heute in einer Epoche von klaffender Ungleichheit an Wissen. Die Machtfrage zu stellen heißt heute, dreierlei zu fragen: Wer weiß? Wer entscheidet, wer weiß? Und: Wer entscheidet, wer entscheidet?

Warten auf die Aufbruch-Erzählung

In einem SWR2-Beitrag hat der Soziologe Stefan Selke kürzlich darauf hingewiesen, dass die Corona-Pandemie von drei Erzählungen geprägt gewesen sei: einer Dagegen-Erzählung, einer Anpassungserzählung und einer Questerzählung. Eine vierte Erzählung habe gefehlt, die Aufbruch-Erzählung.

Meine Tweets des Monats März 2022 | Die Zeitenwende und die politische Kommunikation

Zeitenwende – ein großes Wort hat Bundeskanzler Scholz gebraucht, als er nach dem russischen Angriff auf die Ukraine seine Regierungserklärung hielt. Seither fällt auf, dass die Zeitenwende in dem Medien häufig auf eine neue Sicherheitspolitik und das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr verkürzt wird. Der Beginn des Krieges am 24. Februar fühlte sich zwar an wie ein böses Erwachen in einer anderen Welt. Doch vielleicht ist es typisch für die Wahrnehmung von Krisen, dass immer wieder Momente damit verbunden sind, die das eingespielte Bewusstsein scheinbar plötzlich irritieren und liebgewordene Gewohnheiten schlagartig infragestellen.

Hinter der Zeitenwende verbergen sich eine ganze Reihe von Krisen, die zudem miteinander eng verzahnt sind. Darauf hat Bernd Ulrich in einem Beitrag für DIE ZEIT hingewiesen: Artensterben, Klimawandel, Corona, Krieg, Massenflucht aus Ost und Süd. Die Liste ließe sich leicht verlängern, wenn man an die globale Nahrunsmittelknappheit, die Inflation, die Krise der Globalisierung und der westlichen Demokratien denkt. Die Krisen seien „kumulativ, mitunter exponentiell, sie interagieren, verstärken sich teils gegenseitig, und sie werden so bald nicht enden“, so Ulrich.

Dass es unter diesen Bedingungen blauäugig ist, eine Politik der Rückkehr zu einer wie immer gearteten Normalität zu betreiben, liegt auf der Hand. Die Politik sollte langsam beginnen, so Ulrich, über die Dinge so zu reden, wie sie sind und nicht, wie sie waren. Das allein käme nach meinem Eindruck schon einer politischen Zeitenwende gleich. Wir haben es mit Krisen zu tun, die uns dauerhaft beschäftigen werden, für die es keine einfachen Lösungen gibt.

Besonders wichtig ist, Lösungen zu finden, die mehreren dieser Krisen zugleich begegnen. Das sei schmerzhaft, so Ulrich im SWR2-Interview. Wenn wir uns dazu nicht aufraffen könnten, würden wir ohnmächtig. Wir finanzierten den Ukraine-Krieg Russlands, der unsere Demokratie bedrohe, an der Tankstelle. Es sei Zeit, die politische Kommunikation umzustellen und nicht mehr so zu tun, als redete man mit Kindern, mit 80 Millionen Prinzessinnen auf 80 Millionen Erbsen. Gefordert sei eine Kommunikation zwischen Erwachsenen.

Wir werden aber, so fürchte ich, noch für einige Zeit viel Politik erleben, deren Lösungen eine Krise zu entschärfen suchen, indem sie andere verschärfen. Bernd Ulrich nennt als Beispiele die Verwendung von ökologischen Brachflächen für den Nahrungsmittelanbau oder den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken. Politiker bevorzugen bisher solche „einfachen“ Lösungen, weil sie sich gut „verkaufen“ lassen. Ob sich das mit der „Zeitenwende“ ändert?

Hoffnungsvoll leben in der kognitiv-sozialen Krise | Meine Tweets der Wochen 4 und 5/2022

Aus dem bunten Strauß von Themen, die mich in den vergangenen Wochen zu Tweets angeregt haben, möchte ich eines herausgreifen: die Hoffnung. In meinem Blog habe ich mich häufiger (s.u.) mit der Frage beschäftigt, wie Hoffnung möglich ist, angesichts der begrenzten Wahrscheinlichkeit, die Klimakrise in dem knappen verbleibenden Zeitfenster zu bewältigen.

Die Philosophin Lea Ypi meinte in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel, um hoffnungsvoll leben zu können, brauche es die Überzeugung, dass wir tatsächlich handeln können. Reicht das aus? Bisher waren unsere Handlungen nicht dazu geeignet, die Hoffnung auf die Lösung der Klimakrise zu mehren. Die Hoffnung schwindet in dem Maße, wie die verbleibende Zeit bis zur Überschreitung von Kipppunkten verrinnt. Wenn wir annehmen können, dass wir noch handeln können, es aber nicht oder nicht hinreichend tun, was dann? Wie lässt es sich mit dem Bewusstsein, dass kritische Kippunkte mit hoher Wahrscheinlichkeit überschritten werden, hoffnungsvoll leben? Vielleicht sollten wir in Abwandlung des berühmten Imperativs von Heinz von Foerster – nach folgendem Imperativ leben: „Handle stets so, dass sich die Hoffnung mehrt.“ Egal, was passiert.

Wenn ich den Blog-Beitrag von Gitta Peyn über die „Geisteskrise“ vor diesem Hintergrund lese, wird mir deutlich, welch kostbare Zeit wir mit unseren Sozialspielen, wie sie es ausdrückt, verschwenden. Sie sieht viele von uns in unsere Arbeitsumgebungen und New-Work-Spiele dermaßen verwickelt, dass wir gar nicht merken, wie wir nachlässiger werden, wie Qualität und unsere Leistung sinkt.

Das Entsetzen, das mit dieser Erkenntnis verbunden ist, geht tief, denn es bedeutet, dass mit jedem sozialen Eingewickeltsein Verlust an Lebensenergie und Hoffnung verbunden ist und anhaltend Gefahr besteht, unterzugehen.

Gitta Peyn sieht uns alle in einer tiefen kognitiv-sozialen Krise stecken. Wie kommen wir raus aus den Marketing- und Konditionierungsroutinen, die uns den Blick verstellen? Auch wenn nachhaltige Krisenarbeit von den meisten abgewehrt wird, sieht sie Grund zur Hoffnung. Der Krisendruck mache es wahrscheinlicher, dass die Gesellschaft den Qualitätssprung schaffen könne. Zwei Ansätze schlägt sie vor. Erstens: Bildung. Jede Organisation sollte, sofern sie langfristig handeln wolle, ihre Mitarbeitenden und ihre Manager völlig neu auszubilden. Zweitens: Sozialarchitekturen. Die Gesellschaft brauche andere Sozialarchitekturen, die es jedem ermöglichten, seine Intelligenz, seine Fähigkeit, mit Komplexität umzugehen und seine Kreativität zu trainieren. Ihr Praxistipp:

Suchen Sie nach Denkern und Systemanalysten, die auf höchstem Niveau arbeiten. … Suchen Sie die Leute, die das Offensichtliche sagen können.

Wir werden diese Stimmen brauchen, egal, wie tief wir in die existenzielle Krise schlittern.


Mehr dazu

Sensoren (24): In Hoffnung leben

Sensoren (17): Hoffnung – unser Sinn für die Möglichkeiten des Guten

Sensoren (16): Der Klimawandel und die Hoffnung – zum Dritten

Sensoren (15): Nochmnal – der Klimawandel und die Hoffnung

Sensoren (14): Der Klimawandel und die Hoffnung

Leben wir im Anthropozän? | Meine Tweets der Wochen 1 bis 3/2022

Anthropozän – ein umstrittener Begriff. Leben wir in einem vom Menschen geprägten Erdzeitalter? Oder leben wir nach wie vor im Holozän, das uns in den letzten 10.000 Jahren die Lebensbedingungen beschert hat, die wir gerne erhalten würden? Damit befassen sich direkt oder indirekt einige Tweets, denen ich in den letzten Wochen Aufmerksamkeit geschenkt habe.

Natürlich lässt sich unter Geologen trefflich streiten, ob der Begriff gerechtfertigt ist. Gemessen an der Zeitlichkeit der geologischen Epochen erscheint die Phase, in der der Mensch als Lebensform auftaucht, zu kurz, um von einem erdgeschichtlich prägenden Phänomen sprechen zu können. Andererseits verändert der Mensch die Existenzbedingungen für andere Lebensformen und sich selbst in einem Ausmaß und für Zeiträume, die wir mit unserer alltäglichen Zeitlichkeit nicht erfassen können. Selbst die Geologen beschäftigen sich mittlerweile mit den langfristigen Auswirkungen, die wir durch die massive Umwandlung der Erdkruste durch Bergbau, Siedlung, Warenproduktion und Müll auslösen.

Von einem vom Menschen geprägten Erdzeitalter auszugehen, hilft nach meinem Eindruck, sich der Bedeutung der wechselseitigen Interaktion der Lebensformen für die Lebensbedingungen in der „kritischen Zone“ bewusst zu werden. Der Begriff Anthropozän wird angesichts der Krisen unserer Biosphäre wohl kaum Allmachtsgefühle auslösen können. Vielmehr nährt er aus meiner Sicht die Hoffnung, dass wir unsere Abhängigkeit von Symbiosen mit anderen Lebensformen erkennen und lernen, uns als „Erdlinge“ wahrzunehmen.

Sensoren (26): Wir sind ökologisch

Kürzlich hat Konstantin Sakka in der NZZ einen Gastkommentar über das Massenaussterben verfasst, das wir Menschen derzeit möglicherweise herbeiführen und erleben. Er beklagt, dass es „säkulare protestantische Größenphantasien“ gebe, wonach die Menschen durch von ihnen ausgelöste physikalische Prozesse das System Erde beherrschten. Hingegen sei es normal, dass Lebewesen in die Natur eingriffen. Unwahrscheinlich sei jedoch, dass „das Naturierte ‚die Natur‘ selbst auslöschen könne“. Also alles in Ordnung? Abwarten, was „die Natur“ mit uns macht? Einfach weitermachen und als Lebewesen weiterhin beherzt in „die Natur“ eingreifen?

Die Diskussion, ob wir als Menschen das sechste Massenaussterben auf der Erde auslösen, hat eine differenziertere Betrachtung verdient. Es geht nach meinem Verständnis keineswegs darum, mit dem Begriff „Anthropozän“ Größenphantasien zu bedienen. Vielmehr will dieser Begriff verdeutlichen, dass wir mit unserer Lebensweise die Lebensbedingungen so massiv verändern, dass mit der Vielfalt der miteinander verbundenen Lebensformen unsere über Jahrtausende stabilen Lebensbedingungen verloren gehen. Ob der Mensch die Existenzkrise, die mit seiner Lebensweise verbunden ist, bewältigen kann, ist fraglich. Ob man von „Schuld“ spricht und eine „Apokalypse“ dämmern sieht, scheint mir für die Frage, welche Entwicklungen des Erdsystems sich abzeichnen und wie sich der Mensch dazu verhält, unbedeutend.

Die planetare Schwelle

Nach allem, was der Mensch weiß, ist ein Massenaussterben vielleicht nicht unausweichlich, aber wahrscheinlich. Das haben die Forschungen der Erdsystemwissenschaften gezeigt. Die beiden Schaubilder aus einer Studie, die renommierte Klimaforscher und Geowissenschaftler 2018 veröffentlicht haben, veranschaulichen die Situation eindringlich. Mit seiner Lebensweise hat der Mensch durch die Emission der sog. „Treibhausgase“ den glazialen-interglazialen Zyklus unterbrochen. Das Erdsystem hat diesen Zyklus verlassen und ist auf einen Pfad der Klimaerwärmung eingeschwenkt. Es lassen sich vom aktuellen Zustand aus für die Zukunft zwei Pfade unterscheiden. Wenn die Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 2° gelingt („Stabilized Earth“), ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich das Erdsystem unterhalb einer planetaren Schwelle stabilisiert. Wo genau diese Schwelle liegt, ist unklar. Je mehr sich das Erdsystem der 2°-Schwelle nähert oder sie überschreitet, umso wahrscheinlicher wird es, dass Kipppunkte überschritten werden, die ähnlich einem Dominoeffekt eine Kaskade von Feedbackprozessen auslösen. Das Erdsystem würde dadurch auf einen irreversiblen Pfad („Hothouse Earth“) einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung einschwenken.

In der zweiten Darstellung wird das Ausbrechen des Erdsystems aus dem glazialen-interglazialen Zyklus veranschaulicht, das durch die von Menschen ausgelösten Emissionen verursacht wurde. Das Erdsystem bewegt sich auf die planetare Schwelle zu, deren Überschreiten sich selbst verstärkende Rückkopplungen auslösen würde. Verantwortung zu übernehmen für das Gleichgewicht des Erdsystems ist Voraussetzung, um die Weichen vom Pfad der Erderhitzung auf einen stabilisierenden Pfad zu stellen und Bedingungen zu erhalten, wie sie im Holozän geherrscht haben.

Wenn der stabilisierende Pfad verfehlt und die Schwelle überschritten wird, ist letztlich die Bewohnbarkeit des Lebensraums auf der Erde für Menschen bedroht. Ob man angesichts solcher Szenarien von einem Massenaussterben sprechen kann, ist sicherlich umstritten. Die Autoren der Studie tun es nicht. Die Auswirkungen, die in ihrem Bericht nur angedeutet werden, legen dennoch den Schluss nahe, dass ein Massenaussterben wahrscheinlich ist. Sie weisen darauf hin, dass die Auswirkungen eines solchen Erhitzungsszenarios gerne mit der globalen Megadürre vor 4.200 bis 3.900 Jahren verglichen werden. Diese Schreckensereignisse haben sich jedoch innerhalb des schmalen Temperaturkorridors des Holozän von plus/minus 1° ereignet.

Das Wesen des ökologischen Notstands

Es lohnt sich vor dem Hintergrund solcher Szenarien, sich mit der Möglichkeit eines Massenaussterbens zu beschäftigen. Aus philosophischer Sicht tut dies ausführlich und anregend Timothy Morton in seinem Buch „Ökologisch sein“.

Wir wissen, was zu tun ist: die Treibhausgasemissionen auf Null senken. Dennoch fragen wir uns ständig: Was sollen wir tun? Obwohl klar ist, was zu tun ist, bleibt die Angst und Ungewissheit angesichts der überwältigenden Dimension der ökologischen Krise unser ständiger Begleiter. Morton befasst sich mit den Dingen und unserer Beziehung zu ihnen. Wir haben lange Zeit die Dinge so entworfen, interpretiert und ausgeführt, dass der Mensch garantiert im Mittelpunkt stand. Ökologische Fakten handeln somit von uns. Von sich selbst Abstand zu gewinnen, gehört aber, so Morton, zu den schwierigsten Dingen überhaupt.

Wenn wir uns mit geologischen Erkenntnissen beschäftigen, stoßen wir schnell auf Schwierigkeiten mit den zeitlichen Größenordnungen. Nicht nur hat jegliches seine Zeit, wie die Bibel (Prediger 3) vermerkt. Jegliches hat auch seine eigene Zeitlichkeit. Morton weist auf die Unterscheidung hin zwischen „Vorgeschichte“ als der Zeit vor unserer Zivilisation und „Geschichte“ als der Zeitspanne der letzten 12.500 Jahre, in der die Zivilisation und der moderne Fortschrittsglaube entstanden sind. Nachdem das Erhabene der Menschheitsgeschichte entzaubert ist, wäre es naheliegend, alles, auch die sog. Vorgeschichte und das Heute, als Geschichte zu verstehen.

Morton sieht von der weiteren Verwendung des Begriffs Natur ab, nachdem er der Frage nachgegangen ist, wie Menschen diesen Begriff verwendet haben.

Natur ist schlicht agrikulturelle Logistik in Zeitlupe, die sich nett ausnehmende Steigerung zum Anthropozän …

Timothy Morton: Ökologisch sein. Berlin 2019, S. 76

Aus dem reibungslosen Funktionieren der als natürlich empfundenen Kreisläufe, wie sie mit der Ackerbaugesellschaft entstanden sind, hat einen Vorrang der Existenz hervorgebracht.

Existieren um jeden Preis. Die Existenz als solche setzt jede Qualität der Existenz außer Kraft – das heißt, der menschlichen Existenz, und zur Hölle mit allen Lebensformen, solange sie nicht zu unserem Vieh (cattle) gehören … Dies lässt sich an den riesigen Feldern beobachten, auf denen automatisiertes Agrargerät einsam und effizient seine Bahnen zieht. Man spürt es an den riesenhaft sinnlosen Rasenflächen, den gigantischen Parkplätzen, den übergroßen Mahlzeiten, die als Analogien zu den immensen Feldern zu verstehen sind. Es macht sich bemerkbar in dem allgemeinen Taubheits- oder Schockgefühl, mit dem dem Massenaussterben begegnet wird.

ebd., S. 78f

Aus dieser Diagnose entwickelt Morton eine Vorstellung, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der die Menschheit nur einen verschwindend kleinen Teil ausmacht.

Alles hängt mit allem zusammen

Morton möchte mit seinem Buch verdeutlichen, dass alles, was wir tun, sich in der Biosphäre ereignet. Es geht ihm darum, uns klar zu machen, dass wir nicht „ökologisch“ werden müssen. Denn wir sind es. So oder so. Alles in der Biosphäre ist ein Symptom dieser Biosphäre. Sie ist in unseren Projekten, Aufgaben, in unseren Vorhaben verankert. Auch geistige Angelegenheiten sind in diesem Sinne ökologisch, erklärt Morton unter Verweis auf Gregory Batesons „Ökologie des Geistes“. Wir können uns diese Vernetztheit der Biosphäre, die uns, unsere Körper und unsere Gedanken einschließt, selbst als Knoten in diesem Netzwerk denken. Nicht was wir denken, sondern wie wir denken, ist entscheidend.

Ähnlich ist auch häufig zu hören, das Ganze sei mehr als seine Teile. Das ist tückisch, weil wir uns damit gerne auf „höhere Mächte“ verlassen.

Wenn wir die Dinge, da sie ohnehin zusammenhängen, getrost ausblenden und uns nur auf das Überwesen konzentrieren können, das Netzwerk, das durch sie geschaffen wird, dann können wir das Aussterben ignorieren.

Ebd. S. 112

Der Glaubenssatz verleitet dazu, zu denken, es sei etwas Größeres am Werk, das wir ohnehin nicht beeinflussen können. Das scheint mir das Kernproblem zu sein bei Kommentaren zum Massenaussterben, wie dem eingangs erwähnten Text in der NZZ. Etwas anderes wird schon an die Stelle der ausgelöschten Lebensformen treten. Das Leben geht weiter.

Das Ganze ist weniger als seine Teile

In unserem hierarchischen Denken sind wir es gewohnt, die Dinge auf etwas Ganzes zu beziehen, ähnlich wie wir die Teile einer Maschine zu einem funktionierenden Ganzen zusammensetzen. Die Teile sind jedoch nicht spezifischer als ein Ganzes, sie sind vielmehr eine andere Art des Spezifischen. Morton macht dies am Bild vom „blauen Planeten“ deutlich. Wenn wir die aus dem Weltall betrachtete kleine, zerbrechliche Erde sehen und ihr die riesigen Bäume des Regenwalds gegenüberstellen, spüren wir eine seltsame Lücke. Zwischen beiden Bildern findet ein plötzlicher Perspektivensprung statt.

Morton verdeutlicht das an der Frage, wie wir uns als Mensch auf andere Lebensformen beziehen. Die ökologische Katastrophe habe der Mensch zum Zwecke des bloßen Überlebens oder der schieren Existenz ohne Rücksicht auf irgendeine Qualität der Existenz betrieben. Das habe uns und anderen Lebensformen geschadet. Wir reagieren mit Umweltschutz oder mit Tierrechten darauf. Einmal kümmern wir uns also auf Kosten des Individuums um das Ganze, im anderen Fall kümmern wir uns um das Individuum auf Kosten des Ganzen. Die beiden Formen von Reduktionismus können wir aufheben, wenn wir sehen, dass das, was wir Umwelt nennen, „nichts anderes als Lebensformen mit ihren erweiterten Genexpressionen – etwa Spinnennetze und Biberdämme – sind“.

Sich einstimmen

Ökologisches Bewusstsein heisst nach Morton, sich einzustimmen auf die Dinge, mit denen wir verbunden sind. Da die Erscheinung eines Dings nicht klar von seiner Realität zu unterscheiden ist, stelle die Einstimmung eine lebendige, dynamische Beziehung zu einem anderen Ding dar, die nicht aufhört. Man kann sich vorstellen, dass mit einer solchen Praxis massive Veränderungen verbunden sind. Und doch, so Morton, ist es ganz einfach. Wir müssen nicht ökologisch werden. Wir sind es.


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