Was gute Führung ausmacht (23): Climate Leadership

Lange Jahre konnte man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass sich die Unternehmen und die Verantwortlichen in der Wirtschaft der Klima- und Biodiversitätskrise durch Ignorieren entziehen wollten. In letzter Zeit mehren sich jedoch die Stimmen aus der Wirtschaft, die es mit der sozial-ökologischen Transformation ernst meinen und erkennen, dass sie ihr Unternehmen aktiv den Bedingungen der Erdverbundenheit anpassen müssen. Ist ein solcher für viele Akteure der Wirtschaft radikaler Wandel mit herkömmlicher Führung zu schaffen? Oder brauchen wir ein „Climate Leadership“?

I

Der Klimaforscher Michael Mann und der Wirtschaftswissenschaftler Thomas S. Bateman haben in einem Kommentar ihre Sicht auf die Führung unter den Bedingungen der derzeitigen und zukünftigen ökologischen Katastrophe dargelegt. Sie fordern mehr „Klimaführung“. Es sei unerlässlich, klügere Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen, schreiben sie, weniger autokratische Entscheidungen, dafür mehr Kontakte zu sachkundigen Interessengruppen.

Sie erkennen die Bedeutung des bewussten Umgangs mit der Komplexität der von der Physik und vom Menschen geprägten Ökosysteme. „We should think of leadership as a few top leaders plus a broader social attribute of a system — a widespread network of authorized and informal influencers and interconnected subsystems,“ so stellen sie den Netzwerk-Gedanken in den Mittelpunkt. Zusammenarbeit über etablierte Grenzen hinweg ist gefragt.

We need more climate leaders.

Sie betonen drei entscheidende Führungsmaßnahmen:

  • Brücken bauen, indem man künstliche Silos aufbricht und vielfältige, hochwirksame Koalitionen schmiedet. Ihnen schweben Beispiele vor, die Grenzen überwinden, wie etwa die Region der Großen Seen oder die Zusammenarbeit in Wassereinzugsgebieten oder die Zusammenarbeit von Umweltschützern und Gewerkschaften.
  • Einbindung relevanter Stimmen außerhalb der inneren Kreise. Sie denken dabei etwa an die überragende Macht der Fossilindustrie auf der COP-28 und anderen Treffen im Vergleich zur Machtlosigkeit des globalen Südens und anderer stark betroffener Bevölkerungsgruppen oder an die Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften bei der Entscheidung über die Holzernte, der Wiederherstellung von Flüssen oder der Rückgabe von Land.
  • Denken und Handeln im Namen der Zukunft. Ihnen schwebt vor, die Zukunft nicht länger zu vernachlässigen und den wahrscheinlichen langfristigen Folgen unserer Entscheidungen Beachtung zu schenken. Zukunft in Entscheidungsprozesse einzubringen, vor allem wenn der Elefant im Raum die nicht diskutierten langfristigen Risiken sind, sei ein entscheidender Akt der Führung, meinen Bateman und Mann.

Jeder Arbeitsplatz ein Klima-Job

Effektive Klima- und Nachhaltigkeitspraktiken seien in fast allen Branchen zu finden. Beispielsweise betrachte das Project Drawdown jeden Arbeitsplatz als einen Klima-Job und betone die Möglichkeiten der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit. Die beiden Autoren setzen auf die wachsende Zahl der Engagierten. Wenn sich mehr Menschen als Klimaschützer verstünden und entsprechend handelten, würde dies unterschiedliche Perspektiven und Lösungen zutage fördern, das Systemdenken stärken, Netzwerke und grenzüberschreitende Kooperationen fördern und disziplinäre, organisatorische oder geografische Silos überwinden.

II

Einen anderen Weg wählt das Institut für Systemische Beratung (ISB), das ein New Leadership Manifest herausgegeben hat. Es geht ebenfalls von der Annahme aus, dass aus der verbreiteten Unsicherheit und Komplexität eine neue Führung oder genauer: eine neue Führungshaltung entsteht. Neben dem Klimawandel und der Anhäufung von Krisen ist es hier die Digitalisierung, die eine neue Führung befördert. Das Manifest möchte diese Entwicklung hin zu einem neuen Führungsverständnis und -handeln mit einem Rahmen unterstützen, der den Dialog anregen und Führungsarbeit fördern soll.

„Leading People“ – Menschen führen oder führende Menschen?

Das Manifest stellt auch den Netzwerkgedanken in den Mittelpunkt. „Sustainable Leadership“, so heißt es hier, „vollzieht sich als begrenzte und geteilte Führungsverantwortung und im Führungsnetzwerk.“ Es scheut sich nicht, Wohlstandsverteilung, Eigentum und Teilhabe wie auch Arbeit und Wachstum als neu zu definierende Themen anzusprechen. Neue Führung stärkt die Kreislaufwirtschaft und eine humane Arbeitswelt. Führung „betrifft uns alle“.

Ambitionierte Sätze, die, wenn sie ernst gemeint sind und von vielen gelebt werden, mit massiven Konflikten und Kämpfen verbunden sind. Wenn die wie auch immer geartete neue Führung zu einem Richtungswechsel im Sinne einer sozial-ökologischen Balance und im Sinne der Verbundenheit der lebenden und nicht-lebenden Akteure in der Kritischen Zone führen soll, dürfte das auf einen Bruch mit dem bisherigen, häufig neoliberal geprägten Verständnis des Wirtschaftens verbunden sein. Oder ist vielleicht ein Übergang zu kooperativen Wirtschaftsmodellen doch in kleinen, überschaubaren Schritten denkbar? Reicht „respecting the planet“ aus, um der ökologischen Dimension allen Lebens und der Vernetzung mit nicht-menschlichen Akteuren in der Biosphäre das nötige Gewicht zu verleihen?

Ähnlich wie Timothy Morton darauf hinweist, dass wir nicht ökologisch werden müssen, weil wir es, egal was wir tun, immer schon sind, so liegt es nahe zu sagen: Leadership war schon immer auch Climate Leadership. Wir müssen es nicht erfinden. Wir sollten Führung und Management zulasten des Klimas und der Biodiversität lassen.

III

Der amerikanische Rechtswissenschaftler und Publizist Jedediah Purdy spricht in seinem engagierten Buch „Die Welt und wir. Politik im Anthropozän“ von drei Szenarien (S. 176f), die für den Umgang mit den Krisen unserer Zeit denkbar seien. Erstens: die Privatisierung. Die Reichen ziehen sich zurück, die Mittelklasse und die Akademiker versuchen, sich zu isolieren, ldie Arbeitenden und die Armen werden krank und sterben. Er sieht dieses Szenario in den USA im Werden.

Das zweite Szenario sieht er als politische Gegenreaktion darauf: ein Katastrophen-Nationalismus. Er liest die Corona-Krise als eine beschleunigte Version der Klimakrise. Die Vulnerabilität und Interdependenz, die in ihr sichtbar geworden ist, verschaffe, so Purdy, „jenen einen politischen Vorteil, die gerade die Hand am Hebel haben“. Er sieht darin ein Standardreaktionsmuster der Politik in einer instabilen Welt voller Gefahren, in der sich staatliche Macht vor allem auf nationaler Ebene auswirke und damit eine ständige Einladung zum Ethnonationalismus darstelle.

Das dritte Szenario: Solidarität. Was einem von uns schade, schade tatsächlich allen.

Im 21. Jahrhundert ist jedes Land darauf angewiesen, dass die ganze Welt zu grüner Energie und grüner Infrastruktur konvertiert und die Wirtschaft so umbaut, dass nicht der prekäre Wettlauf um den nächsten Job, den nächsten Profit, sondern Gesundheitsschutz und Gemeinwohl oberste Prioriät genießen.

S. 177

Eine gewaltige hoch komplizierte Infrastruktur sei nötig, damit wir einander und in letzter Konsequenz der Profitmaximierung dienen können: von Autobahnen über die Kreditmärkte bis zur globalen Handelsordnung. Die Hände und Köpfe, die diese Ordnung errichtet haben, seien zweifellos, so ist Purdy überzeugt, in der Lage, eine andere zu erbauen, in der das Gemeinwohl auf jeder Ebene an erster Stelle stehe: vom Einzelnen über die Gemeinden und das Land bis hin zum gesamten Planeten.

Vielleicht gelingt es tatsächlich, in diesem Sinne ein „Climate Leadership“ zu etablieren, das sich von einer vergleichsweise einfachen Orientierung an maximalen Profiten abwendet und auf die Komplexität eines häufig schwieriger zu greifenden Gemeinwohls einlässt.

Digitale Demokratie (1): Bessere Krisenkommunikation durch Teilhabe?

Der Evaluationsbericht zur Corona-Pandemie schlägt bessere Datennutzung und Risikokommunikation vor

Mit der Corona-Pandemie durchlebt die Gesellschaft eine fundamentale Krise, deren Bekämpfung mit Auswirkungen verbunden war und immer noch ist, die sich außerhalb von Fachkreisen kaum jemand ausmalen konnte. Aus der Krise zu lernen, steht an. Ein Sachverständigenausschuss ist deshalb beauftragt worden, den politischen Akteuren einen Evaluationsbericht vorzulegen. Nun liegt der Bericht vor und die Frage steht im Raum, ob er irgendwie ein Lernen auslöst.

Ziemlich schnell ist der Bericht als gescheitert kritisiert und zur Seite gelegt worden. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – lohnt es sich, dem Dokument besondere Beachtung zukommen zu lassen. Vielleicht lässt sich hier beobachten, wie Lernen auf gesellschaftlicher Ebene als Antwort auf die Krisen unserer Zeit funktioniert. In diesem Blog-Beitrag möchte ich einen Blick auf die Nutzung von Gesundheitsdaten für die Pandemiebekämpfung und die Kommunikation der Maßnahmen werfen. Beide Themen betrachtet der Sachverständigenausschuss als Schlüssel zu einer besseren Pandemiebewältigung. Sie können wohl darüber hinaus als besonders relevant für gesellschaftliche Lernprozesse auch in den anderen Krisenerscheinungen unserer Tage betrachtet werden. Was lässt sich aus den Erfahrungen der Pandemie für die viel beschworene Digitalisierung eines so sensiblen Bereichs wie der Gesundheit lernen? Was sagt der Bericht über eine gute Krisenkommunikation? Wie lassen sich die Erkenntnisse aus dem Bericht verallgemeinern und auch auf die anderen Krisen unserer Zeit übertragen?

Virologische, epidemiologische, klinische und soziale Daten in einen Zusammenhang setzen

Mit Blick auf Lernprozesse ist zunächst interessant, dass der Sachverständigenausschuss selbst die versäumte und vernachlässigte Beobachtung und Bewertung der Maßnahmen in der Corona-Pandemie beklagt. Notwendig sei in der Zukunft eine mitlaufende Evaluation.

Im Gegensatz zum Vorgehen in einigen anderen Ländern wurde in Deutschland eine fachübergreifende Begleitforschung während der Corona-Pandemie noch nicht erreicht. So gibt es noch immer kein nationales Forschungskonzept im Bereich Public Health. Eine solch fachübergreifende Begleitforschung ist aber zwingend nötig, um Entscheidungen des Krisenmanagements auf eine bessere Wissensgrundlage zu stellen.

S. 9

Erst mit einer fortlaufenden Bewertung der Maßnahmen, die die „richtigen Fragen nach deren Wirkung“ stelle, ließen sich wirksame von unwirksamen Maßnahmen unterscheiden. Der Bericht weist darauf hin, dass eine Betrachtung der unmittelbaren Wirkung der Maßnahmen noch nicht ausreichen würde. Er mahnt ein Lernen der 2. Ordnung auf der strukturellen Ebene an.

Es muss ebenfalls analysiert werden, wie die Qualität und Wirksamkeit dieser Maßnahmen von den gegebenen institutionellen und normativen Strukturen sowie gesellschaftlichen Faktoren – wie dem Vertrauen in staatliche Maßnahmen und der Qualität der Risikokommunikation – abhängen, innerhalb derer sie beschlossen und implementiert werden.

S. 9/10

Eine Begleitforschung auf der Grundlage eines nationalen Public-Health-Forschungskonzepts, wie sie im Bericht gefordert wird, setzt eine ausgedehnte Datenerhebung voraus. Der Ausschuss denkt an virologische, epidemiologische, klinische und soziale Daten. Weil in einer Pandemie schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen, dies aber auf fundierter Grundlage geschehen soll, plädiert der Ausschuss für eine systematische Erfassung, die der Sensibilität von Gesundheitsdaten angemessen Rechnung tragen solle. Dafür sei ein

… datengesichertes bundesweites Vorgehen etwa durch die Einführung einer elektronischen Patientenakte, eines nationalen Impfregisters oder einer Registrierung, Auswertung und gezielten Ansprache der Versicherten durch ihre jeweilige Krankenkasse notwendig.

S. 10

Die Frage, wie diese Datensicherheit in dem höchst sensiblen Feld der Gesundheit konkret erreicht werden könnte, bleibt offen. Der Bericht verzichtet leider auf weitere Ausführungen zur Angemessenheit der Datenerfassung und der Sekundärverwendung für andere Zwecke oder andere Akteure. Von der Antwort auf diese Frage hängt aber wesentlich ab, ob die Gesellschaft einen Pfad zu einer demokratisch legitimierten Krisenbewältigung findet oder ob sich der schleichende Prozess des Überwachungskapitalismus fortsetzt.

In einem ZEIT-Interview mit Shoshana Zuboff wird deutlich, was hinter der Frage nach der Angemessenheit der Datenerfassung und -verwendung steckt. Es geht um eine Gratwanderung, deren Gelingen oder Misslingen über den Fortbestand unserer Demokratie entscheidet. Der herkömmliche Kapitalismus habe sich in einen Überwachungskapitalismus verwandelt. Viele haben sich daran gewöhnt, dass die Tech-Konzerne die Privatsphäre der Menschen ausbeuten und sie zu Zwecken für den Handel mit ihren privaten Erfahrungen und Gefühlen macht.

Das Private ist ohne seine Verankerung in der Geschichte der Demokratie gar nicht zu denken. … Die Privatheit ist seit der Aufklärung in einer Geschichte der Individualisierung entstanden, gleichzeitig mit der Idee der unantastbaren Menschenrechte und mit der Demokratie als politischer Ordnung, in der souveräne Individuen handeln. Dieser Zusammenhang lässt sich nicht in einzelne Bestandteile auflösen. Privatheit muss geschützt werden, weil in ihr zum Ausdruck kommt, dass jeder Mensch natürlicherweise den Respekt verdient, dessentwegen er individuelle Rechte innehat.

Der Überwachungskapitalismus wolle totale Gewissheit über die Zukunft des Verhaltens erlangen, befürchtet Zuboff. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Fehlentwicklung des Internets, die zur Bedrohung der Privatsphäre und unserer demokratischen Grundordnung geführt hat, auch auf das Feld der „Public Health“ ausstrahlt. Wenn sich die digitalen Giganten für ihre Geschäftszwecke privater Daten nach Belieben bemächtigen, warum sollte man sie nicht auch für den guten Zweck der Pandemiebekämpfung nutzen?

Was es bedeuten würde, wenn die Demokratie erodierte und Gesundheits-Apps willkürlich zur Verhaltenssteuerung missbraucht würden, zeigt aktuell das Beispiel des totalitären Regimes in China, wo die Corona-App zweckfremd genutzt wird, um den Verhaltens- und Bewegungsspielraum der Menschen willkürlich einzuschränken.

Kommunikation als Risiko

Gelingende Krisenkommunikation – der Bericht spricht von „Risikokommunikation“ – ist ein entscheidender Faktor jeder Krisenbewältigung, weil Legitimität und Akzeptanz der Maßnahmen davon abhängig ist, wie Gefahren oder Risiken wahrgenommen werden. Im Falle der Corona-Pandemie schätzt der Bericht die Potenziale der Risikokommunikation als „weitgehend ungenutzt“ ein.

Die Kommunikation solle den Stand des Wissens vermitteln, die Grenzen des Wissens aufzeigen, transparent und „auf Augenhöhe“ stattfinden, kontroverse Meinungen zulassen. Die Sachinformation solle für unterschiedliche Zielgruppen verständlich und für ihren Alltag anschlussfähig sein.

Absolute Zahlen sollen immer ins Verhältnis zur Bezugspopulation gesetzt werden. Aussagekräftige Vergleiche und Visualisierungen durch Grafiken oder Tabellen helfen der Informationsvermittlung von Daten und erleichtern das Verständnis …“

s. 11

Mehr noch: Der Sachverständigenausschuss will weg von top-down-, hin zu dialogischen Kommunikationsstrategien und partizipativen Prozessen. Das ist ein ziemlich hoher Anspruch an Kommunikation „als staatlicher Aufgabe“ in „enger Kooperation mit lokalen Akteuren“. Damit wird Krisenkommunikation auch zu einer zivilgesellschaftlichen Angelegenheit der demokratischen Gesellschaft. Aber wie?

Engere Kooperation zwischen den kommunizierenden Organisationen

Der Bericht zeichnet ein Bild der Krisenkommunikation, das einerseits Korrekturen der bisherigen Top-Down-Praxis vorsieht, und das andererseits die einseitige Konzentration dieser klassischen Kommunikationsmethoden aufbricht zugunsten einer gleichwertigen Nutzung partizipativer Ansätze.

Im Ergebnis sollte die Bekämpfung der Pandemie als gemeinsame Anstrengung zur Infektionsreduktion wahrgenommen und nicht primär als Befolgung staatlicher Vorschriften erlebt werden.

S. 60

Der Ausschuss denkt an eine Dachkampagne und Teilkampagnen in enger Kooperation mit lokalen Akteuren, an bessere Wortwahl, daran, Zahlen in einen aussagekräftigen Zusammenhang zu setzen und Zahlen zu visualisieren. Kampagnen sollten über alle verfügbaren Kanäle – z.B. Rundfunk, soziiale Medien, Kino, Plakate, Postwurfsendungen, persönliche Beratungen, Aktionen in Schulen, Betrieben oder Freizeiteinrichtungen, Wanderausstellungen, Haustür-Besuche oder Informationsscouts für schwer erreichbare Zielgruppen – verbreitet werden.

Für die Information über die sich ständig verändernden Sachverhalte fordert der Bericht eine klare Rollenverteilung ein. Die vorhandenen Strukturen seien in der Krisensituation vielfach ungenutzt geblieben oder unterlaufen worden. Das betreffe die Entscheidungsfindung durch Bund- und Länder-Exekutiven, ohne die Legislative angemessen zu beteiligen. Das betreffe aber auch Institutionen des Gesundheitssystems. So habe z.B. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von Aids sehr gute Erfahrungen mit Kampagnen, in der Corona-Pandemie aber weitgehend ausgeschlossen worden. Ähnliches schildert der Bericht über die Gesetzlichen Krankenkassen, deren langjährig praktizierte Lebenswelt-Prävention für die Corona-Prävention nicht genutzt wurde.

Mehr dialogische Kommunikation

Der Bericht setzt auf ein zweites Standbein der Kommunikation, das bisher in der Krisenbewältigung kaum eine Rolle gespielt hat, obwohl die Methode als wichtige Säule im gesundheitlichen Krisenmanagement betrachtet werde. Die Methode heißt RCCE (risk communication and community engagement) und setzt auf Bürgerbeteiligung, um die Akzeptanz für erforderliche Maßnahmen zu steigern.

Partizipation beinhaltet auch, Kritik und Skepsis ernst zu nehmen und sich aktiv damit auseinanderzusetzen. Abweichende Meinungen wurden in der Corona-Pandemie oft vorschnell verurteilt. … Begreift man Kontroversen in der Krisensituation nicht als Hindernis, sondern als Chance, trägt dies zur konstruktiven, respektvollen und im demokratischen System unumgänglichen Debatte bei.

S. 63

Der Bericht geht leider nicht näher auf die Anwendung der Methode und die Gestaltung von Beteiligungsprozessen in der Praxis ein. Die Methode geht im Kontext von Covid-19 auf die WHO zurück und ist in einem Leitfaden ausführlich beschrieben.

Risikokommunikation – ein unterbelichtetes Thema

Mit Blick auf die vielfältigen Krisen, mit denen wir es zu tun haben und noch mehr zu tun bekommen, scheint Risiko- oder Krisenkommunikation ein dringendes Thema zu sein. Die demokratische Gesellschaft muss lernen, wie sie überlebensfähig bleiben kann, wenn ihr der Wind ins Gesicht bläst.

Der Verwaltungswissenschaftler Gunnar Folke Schuppert wies kürzlich in einem Vortrag darauf hin (ab ca. Min. 4), dass die Ge- und Verbote im Verlauf der Pandemie mehr und mehr verdrängt wurden durch Appelle an die Bürger, dass sie doch bitte das tun sollen, was die Regierung möchte. Mit Blick auf die Pandemiebekämpfung der vergangenen beiden Jahre greift er einen Begriff des norwegischen Politikwissenschaftlers Stein Ringen auf, der von der „powerlessness of powerful governments“ spricht. Herrschaft sei in der Pandemie durch Krisenkommunikation ausgeübt worden. Es reiche deshalb nicht aus, Gesetze zu erlassen, Steuern einzunehmen und auszugeben. Alle Formen von Krisen erforderten eine Krisenkommunikation, um die nötige Akzeptanz zu erzeugen. Er zitiert Armin Nassehi vom Beginn der Pandemie:

Wie in einem Brennglas lässt sich gerade beobachten, wie manche Grundlage der Gesellschaft funktioniert. Macht erkennt man normalerweise daran, dass diejenigen, über die man Macht hat, tun, was sie tun sollen. Machen die Leute aber das im Augenblick? Wann muss sich Politik extremer durchsetzen, wenn Politik nicht genügend Machtmittel über die Einsichtsfähigkeit der Bürger und Bürgerinnen hat? Wenn man sich im Augenblick die Pressekonferenzen der Politiker anschaut, sieht man, wie sie darum ringen.

ab ca. Min. 8

Grundlage jeder Risikokommunikation sind demnach das, was Schuppert Rechtfertigungsnarrative nennt. Das Ringen um die Wahl und Durchsetzung der Narrative, um eine Rechtfertigungsordnung, ist deshalb von höchster Bedeutung, weil sie Ansprüche auf Herrschaft und die Verteilung von Gütern und Lebenschancen begründen.

Mit Blick auf die Digitalität der Krisenkommunikation drängt sich zudem die Frage auf, ob die Sprache der Algorithmen auch als Herrschaftssprache in diesem Sinne zu verstehen ist. Jedenfalls begründeten sie eine Herrschaftsbeziehung zwischen denen, die die Algorithmen produzieren, und denen, die sie anwenden (müssen), so Schuppert. Wie weit beeinflussen oder prägen also die digitalen Giganten das Ringen um die Rechtfertigungsordnung?

Netzwerke können gleichermaßen als Verbreitungsmedien für Viren und Information gesehen werden. Hatten wir es nicht nur mit einer medizinischen oder epidemiologischen Pandemie zu tun, sondern zugleich mit einer Infodemie? In demselben Moment, wie sich das Virus viral verbreitete, verbreiteten sich im Internet viral Erklärungsversuche über Eigenschaften und Übertragungswege sowie Verschwörungsgeschichten, die von den netzwerkartigen Strukturen profitieren. Darauf weist Schuppert unter Rückgriff auf den Historiker Niall Ferguson hin, der in Doom über die Katastrophen der Menschheit schreibt und was man aus ihnen lernen könnte.

Mit der Risikokommunikation in der Pandemie ist die Herausforderung angesprochen, unsere demokratische Grundordnung unter den Bedingungen digitaler Netzwerke und universaler Krisen neu zu denken. Insofern ist zu hoffen, dass der Impuls des Sachverständigenausschusses für eine gelungenere Teilhabe der Bürger an der Wissenserzeugung und -verbreitung Gehör findet. Vielleicht gelingt es ja angesichts der akuten und latenten Bedrohungen durch die aktuellen und anstehenden Krisen, den digitalen Plattformen als Träger infrastruktureller Macht einen Impuls entgegenzusetzen, der die demokratische Ordnung auf dem Weg in die Digitalität stärkt. Nochmal Zuboff:

Es ist das alte Lied: Wissen ist seit eh und je Macht, und wir leben heute in einer Epoche von klaffender Ungleichheit an Wissen. Die Machtfrage zu stellen heißt heute, dreierlei zu fragen: Wer weiß? Wer entscheidet, wer weiß? Und: Wer entscheidet, wer entscheidet?

Warten auf die Aufbruch-Erzählung

In einem SWR2-Beitrag hat der Soziologe Stefan Selke kürzlich darauf hingewiesen, dass die Corona-Pandemie von drei Erzählungen geprägt gewesen sei: einer Dagegen-Erzählung, einer Anpassungserzählung und einer Questerzählung. Eine vierte Erzählung habe gefehlt, die Aufbruch-Erzählung.

Gespaltene Gesellschaft? | Meine Tweets der Woche 47/2021

Die Corona-Krise ist in eine kritische Phase eingetreten. Die große Mehrheit der Mitmenschen hat sich impfen lassen, um sich und andere zu schützen und dazu beizutragen, dass die Pandemie in eine endemische Phase übergehen kann. Doch eine relevante Minderheit verzichtet auf die Impfung. Das wiederum gefährdet die angestrebte Eindämmung des Virus. Die Fronten sind wegen der alternativlos erscheinenden Impfung verhärtet. Was treibt die Menschen um, die sich gegen eine Impfung entscheiden? Droht etwa eine gesellschaftliche Spaltung? Wie kann die wechselseitige Verständigung wieder hergestellt werden?

Der Blogger Dirk von Gehlen hat eine Erklärung versucht, weshalb eine sachliche Auseinandersetzung über das Impfen so oft misslingt, indem er das Phänomen des Meme, das aus der Netzkultur bekannt ist, auf den Impfverzicht anwendet. Gehlen kommt auf diesem Weg zu der Annahme, dass die Ablehnung der Impfung in erster Linie eine Möglichkeit sich abzugrenzen liefert. Die Impfverweigerung hilft für einen Moment aus der Identitätspanik, die in der unübersichtlich gewordenen Welt schnell um sich greifen kann.

Ich nehme an, dass das unausgesprochene Nein zur Impfung nicht das einzige Meme bleibt, das für temporäre Identität sorgt. In anderen Situationen, z.B. in der Klimakrise, sind es andere Memes, die vermutlich ähnlich wirken. In Zeiten, in denen Aufmerksamkeit weckende Themen häufig und schnell wechseln können, scheint mir deutlich zu werden, dass es weniger um eine Spaltung der Gesellschaft geht. Die Gesellschaft weist eher Brüche auf, die im häufigen Wechsel in den Vordergrund und wieder in den Hintergrund rücken.

Auf den ersten Blick haben meine beiden Tweets der vergangenen Woche nichts miteinander zu tun, obwohl es in beiden um die Gesellschaft geht. Der zweite Blick offenbart dann aber doch eine interessante Verbindung. Der Soziologe Julian Müller bespricht ein Buch von Vincent August mit dem Titel: Technologisches Regieren. Es geht um die historische Entwicklung der Kybernetik und ihren Einfluss auf das Politikhandeln. Wie kommt es, dass wir Gesellschaft heute überwiegend als Netzwerkgesellschaft betrachten?

Bei der Corona-Pandemie und der Debatte über die Impfung haben wir es genau mit dieser Netzwerkgesellschaft zu tun. Die informationstechnischen Netzwerke als die „Mechanik, die Memes befördert hat, greift immer mehr in Bereiche des öffentlichen Lebens ein“, schreibt Dirk von Gehlen.

Die Politik als funktionales System unter anderen kann in der Netzwerkgesellschaft nur begrenzt Einfluss nehmen. Das technologische Regierungshandeln setze deshalb, so zitiert Müller das rezensierte Buch, auf „Innovationsfähigkeit, Offenheit und Kreativität“.

Und was, wenn diese Tugenden nicht auszureichen scheinen, um die Krise zu bewältigen?

Unternehmensmodelle im Wandel (18): Ambidextrie

Ambidextrie – ein neuer Begriff macht sich in der Welt der Organisationen breit. Das angestammte Kerngeschäft zuverlässig betreiben und zugleich Innovationen zur Marktreife führen, die Routine pflegen und zugleich Grenzen überschreiten, die duale Organisation mit zwei „Betriebssystemen“ gleichzeitig betreiben – bimodale Organisation und Hybridstrategien sind in Zeiten umwälzender Herausforderungen durch disruptive Wirkung der rasanten technologischen Umbrüche und der einschneidenden Auswirkungen des Klimawandels angesagt.

Für Menschen mit Führungsaufgaben in den Organisationen ist damit häufig die Erwartung verbunden, „beidhändig“ zu führen. Dafür hat sich in Management- und Beraterkreisen neuerdings der Begriff Ambidextrie eingebürgert. Dabei ist das Phänomen gar nicht mal so neu. Spätestens seit dem Platzen der New-Economy-Blase im Jahr 2000 hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass sich eine auf Innovation ausgerichtete Organisationskultur von einer von Routine geprägten Kultur des laufenden Betriebs grundlegend unterscheidet. 

I

Johannes Thönnessen hat kürzlich auf Managementwissen-Online  unter Rückgriff auf einen Aufsatz von Thomas Schumacher und Rudi Wimmer in der Zeitschrift Organisationsentwicklung (1/2018) bekannte Organisationstheoretiker aufgelistet, die sich mit dieser Fähigkeit zur gleichzeitigen Anwendung widersprüchlicher Organisationskulturen beschäftigt haben.

  • Da ist z.B. Clayton Christensen mit dem Innovator’s Dilemma, der beschreibt, wie organisatorische Routine als Filter wirkt, um irritierende Signale aus der Umwelt auszublenden, und wie durch diese einseitige Fixierung auf das traditionelle Geschäft erfolgreiche Organisationen vom Markt verschwinden.
  • Oder John Kotter, der das Modell der eher informellen Netzwerke neben das der formalen Organigramme und Hierarchien stellt und zwei unterschiedliche „Betriebssysteme“ empfiehlt.
  • Eine wichtige Stimme ist James March, der den Wettstreit um Ressourcen für Exploitation oder Exploration betrachtet und bei Organisationen einen Hang zur Exploitation feststellt.
  • Clark Gilbert u.a. sehen die Notwendigkeit, eine Organisation gleichzeitig zwei Transformationen zu unterziehen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die notwendige Resilienz zu entwickeln, damit die Organisation die Bedrohung des disruptiven Wandels übersteht. 
  • Schließlich hat Karl Weick 1985 in seinem Klassiker „Der Prozess des Organisierens“ zwischen loser und fester Kopplung unterschieden. Innovationszentren sind danach häufig mit der traditionellen Organisation nur lose gekoppelt.

Thönnessen stellt zurecht fest, dass es sich hier eher um beschreibende Idealbilder handelt. Die grundlegende Erkenntnis, dass die Anpassung der Organisationen bei aller Widersprüchlichkeit zweigleisig zu betreiben ist, dürfte sich allerdings längst durchgesetzt haben. Für die Praxis liefern die Modelle erst dann einen Ertrag, wenn man etwas tiefer schürft. Der Begriff und der Gedanke dahinter sind keineswegs so neu, wie es scheint. Tushman und O’Reilly beschreiben in einem Aufsatz von 2014 die Genese des Konzepts der „Ambidexterity“. Danach hat Robert Duncan 1976 schon darauf aufmerksam gemacht, dass Unternehmen ihre Strukturen anpassen müssen, je nachdem, ob sie Innovationen anregen oder vollziehen wollen. Tushman und O’Reilly haben dann 1996 darauf hingewiesen, dass Organisationen diese beiden Fähigkeiten gleichzeitig beherrschen, also „beidhändig“ agieren, müssen. Sie stellen in ihrer Rückschau auf die vielfältige Forschung zu diesem Phänomen fest:

In uncertain environments, organizational ambidexterity appears to be positively associated with increased firm innovation, better financial performance, and higher survival rates.

Großen Unternehmen gelingt es dabei leichter, die Herausforderung der Ambidextrie zu meistern, weil sie eher über die erforderlichen Ressourcen verfügen. 

Aber wie lässt sich beidhändige Führung in der Organisation abbilden? O’Reilly und Tushman unterscheiden drei Ansätze. Frühere Studien gehen von einer sequential ambidexterity aus. Die nötige Anpassungsfähigkeit kann dadurch gesichert werden, dass die Strukturen von Zeit zu Zeit veränderten Umweltbedingungen oder Strategien angepasst werden. Spätere Studien schlugen vor, Strukturen zeitlich begrenzt anzupassen oder in einem bestimmten Rhythmus zwischen Zeiten des Ausschöpfens und des Anschiebens zu wechseln. Dahinter steht die Annahme, dass es Organisationen leichter fällt, zwischen verschiedenen Strukturen und Prozessen hin und her zu schalten, als die Kultur oder informelle Organisation zu verändern. Ford und Hewlett-Packard gelten als Beispiele, die diese Spielart zumindest zeitweise erfolgreich praktiziert haben. Bei HP kann jedoch der Wechsel vom PC zu Services als gescheitert betrachtet werden. Die Studien sagen wenig aus über die Risiken der Transition zwischen den Systemzuständen. Tushman und O’Reilly Sequentielle Beidhändigkeit scheint eher geeignet für stabile, sich langsamer verändernde Branchen, wie z.B. Dienstleistungen, und eher für kleinere Organisationen, die die Mittel für simultane Beidhändigkeit nicht aufbringen können. 

Der zweite Ansatz, die simultaneous oder structural ambidexerity, versucht, Exploration und Exploitation durch Nutzung getrennter Organisationseinheiten auszutarieren. Mit der Trennung der Bereiche ist häufig auch der Anspruch verbunden, gleichzeitig unterschiedliche Kompetenzen, Anreize, Prozesse und Kulturen zu leben. Was die autonomen Einheiten zusammenhält, ist die gemeinsame strategische Ausrichtung, ein übergreifender Wertekanon oder eine gemeinsame Vision und gezielte Vereinbarungen zur gemeinsamen Nutzung von Ressourcen. Im Kern geht es darum, durch diese Balance neue Chancen zu erkennen und zu ergreifen. Das sei mehr eine Frage der Führung (leadership) als der Struktur, so Tushman und O’Reilly. Führung müsse in der Lage sein, die unvermeidlichen Spannungen auszutarieren. Übrigens kommen Studien zu dem Ergebnis, dass die Fähigkeit, Exploration und Exploitation miteinander zu vereinbaren, steigt, wenn die interne Beidhändigkeit mit externen Partnerschaften verbunden wird. 

Anders als der sequenzielle oder strukturelle Ansatz versucht die contextual ambidexterity die Spannung auf der individuellen Ebene durch disziplinierte und vertrauensvolle Interaktion zu lösen. Notwendig ist dazu ein unterstützender Kontext, der die Menschen befähigt, selbst zu beurteilen, wie sie ihre Zeit am besten zwischen den konkurrierenden Anforderungen des Ausführens und Anpassens aufteilen. Die Beidhändigkeit setzt voraus, dass sich alle einig sind, ob ihr Bereich gleichermaßen auf Linie und anpassungsfähig ist. Welche organisatorischen Systeme oder Prozesse diese individuelle Anpassung ermöglichen, bleibt den Betroffenen im Detail verborgen. 

Die Studien zu dieser Spielart der Beidhändigkeit kommen zu verschiedenen Erklärungen. Eine Studie des Toyota Produktionssystems, in dem die Arbeiter die Montage fehlerfrei ausführen und zugleich ihre Arbeit kontinuierlich effizienter gestalten sollen, sieht die Vereinbarkeit der Anforderungen durch „Meta-Routinen“ gewährleistet. Andere erklären die Verbindung der beiden gegensätzlichen Anforderungen mit der Kultur, die Flexibilität und Kontrolle innerhalb des Bereichs fördert, so z.B. bei IDEO. In technologisch stabilen Verhältnissen ist es leichter, sich ein Gelingen dieser Zweigleisigkeit vorzustellen. Anders sieht es in technologisch disruptiven Branchen aus. Bei den Medien, etwa einem Zeitungsverlag, erfordert die Entscheidung, dass die gedruckte Zeitung auch im digitalen Raum antreten soll, eine grundlegende Umstrukturierung und Neuverteilung der Ressourcen. Solche Entscheidungen können nicht der operativen Ebene überlassen werden. Auch können Print-Journalisten die technischen Fähigkeiten, um Online-Nachrichten zu produzieren, nur erwerben, wenn das obere Management die nötige Erlaubnis und Investition tätigt. Darin ist ein wesentlicher Mangel dieser Art der Beidhändigkeit zu sehen. Der Blick auf das Individuum und das Team lenkt ab von der Betrachtung, wie ein Unternehmen gleichzeitig radikale Formen der Ausbeutung und Anpassung herbeiführen kann. Zu häufig begnügt sich die Führung mit der Annahme, dass neues Wissen irgendwo in der Organisation entwickelt werde und zur Verfügung stehe.  

Zusammenfassend kommen Tushman und O’Reilly zu dem Schluss, dass gerade die Kombination von struktureller und kontextueller Beidhändigkeit für die Anpassungsfähigkeit der ganzen Organisation entscheidend sein könnte.

Contextual ambidexterity within a business unit may promote the local innovation and change needed to continually adapt to small changes in the environment … Realistically, it may be that time is a crucial contingent variable. It appears that structural ambidexterity is crucial in creating the context where incumbent firms can explore in the context of their existing strategy and history. However, once the exploratory units gain traction, firms may take advantage of this capability by switching into more integrated structures …

Der Rückblick auf die Forschung der letzten Jahrzehnte verdeutlicht nach meinem Eindruck, weshalb das Thema jetzt so viel Aufmerksamkeit erregt. Organisationen waren schon immer herausgefordert, sich an veränderte Umweltbedingungen, egal ob neue Technologien, neue Märkte oder neue Wettbewerber, anzupassen. Sequentielle Ambidextrie scheint sich weithin überholt zu haben, weil die Komplexität und Vernetzungsdichte ebenso wie das Tempo des Wandels ständig zunehmen. Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung und des Klimawandels wird immer deutlicher, dass die Probleme schneller wachsen, als die Organisationen Lösungen erarbeiten können. Die Versuche mit beidhändiger Führung gehören ähnlich wie die Umstellung auf Prinzipien der Agilität zu dem Versuch, auf die Diagnose überfordernder Flüchtigkeit, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (VUKA), die passenden Antworten zu finden.

II

Breiten Raum hat in der Debatte über viele Jahre die Frage eingenommen, ob StartUps, Labore oder Inkubatoren, also getrennte Organisationseinheiten, für eine lebendige Innovation das Mittel der Wahl sind. Oder sollten doch eher kleine Teams in die Organisation gepflanzt werden, um die Anpassungsfähigkeit zu erhöhen. Guido H. Baltes, Direktor des Instituts für Strategische Innovation und Technologiemanagement an der Hochschule Konstanz, schlägt z.B. vor, mit „eingebetteten Unternehmerteams“ statt mit abgekoppelten StartUps zu arbeiten. 

Die Kernorganisation soll direkt von den Erfahrungen der Teams profitieren können und die Teams mit ihren „angestellten Unternehmern“ sollen die Ressourcen, die Kunden oder Technologie, der Kernorganisation nutzen können. 

Dauerhafter Wandel sei in Unternehmen durch Startups und Labore nicht möglich, meint auch Niels Pflaeging, Berater und leidenschaftlicher Kritiker des klassischen Managementverständnisses, in einem Dialog über „Organisationsphysik“:

Eine Insel der Glückseligkeit kann nicht auf den Rest der Organisation ausstrahlen – denn außerhalb der Insel gibt es ja abweichende Glaubenssätze und Logiken, die nur intern infrage gestellt werden können. Es gibt im Übrigen kein einziges Beispiel von organisationaler Transformation, das mit einem Labor oder Experiment begann. Transformation beginnt mit Herz und Hirn – und dann zur Hand. Nicht umgekehrt! Man kann nicht eine bessere Organisation zu bauen versuchen in der Hoffnung, dass sich das dazugehörige Denken irgendwann später entwickelt. Darum sind Labore, Piloten, Experimente oder Hacks keine Lösung. Sondern eher verschwenderischer Hokuspokus.

Provozierende Worte! Doch Pflaeging hat eine gute Botschaft. Informelle Strukturen, wie sie in StartUps als typisches Merkmal gelebt werden, gibt es überall.

Jede Organisation, egal wo, egal welcher Größe, hat diese drei Strukturen: Formelle Struktur, informelle Struktur und Wertschöpfungsstruktur. Leistung und Erfolg können nur in der letzten dieser drei Strukturen entstehen.

Bürokratisierung steht der Wertschöpfung im Wege.

Bürokratisierung geschieht fast immer unbeabsichtigt und überraschend. So wie eine starke Windböe einen Radfahrer quasi aus dem Nichts umfegen kann. Im Grunde sind die meisten Firmen heute aus Hilflosigkeit bürokratisch. Weil sie Symptome nicht von Problemen unterschieden und Kompliziertes mit Komplexem verwechseln. Diese Verwechslungen verleiten sie dazu, die völlig falschen bzw. unwirksame Organisationswerkzeuge einzusetzen. So etwa Planung und Zielvereinbarungen, um mit einer unvorhersehbaren Zukunft umzugehen.

Diese Art der Organisation, die aus einer Vielzahl von funktional integrierten Mini-Unternehmen besteht, sei möglich – und gebe es auch,

[…] bei Unternehmen wie Gore, Google, Southwest Airlines oder dm. Jedoch erfordert diese dezentralisiert, marktlich-selbstorganisierte Netzwerkorganisation sukzessive Zellteilung: also begrenzte Teamgrößen und nachhaltige, niemals endende Dezentralisierung von Entscheidungen hin zur Peripherie.

Pfläging beklagt, dass die Verantwortlichen in vielen Organisationen Symptome nicht von Problemen unterscheiden könnten und Kompliziertes mit Komplexem verwechseln. 

Diese Verwechslungen verleiten sie dazu, die völlig falschen bzw. unwirksame Organisationswerkzeuge einzusetzen. So etwa Planung und Zielvereinbarungen, um mit einer unvorhersehbaren Zukunft umzugehen.

Auslöser der organisationalen Versteinerung sei jedoch nicht nur das eigene Wachstum, sondern auch Krisen: Denn hier erfolgten reflexhaft Rufe nach „mehr Struktur“ und Bemühungen um „Professionalisierung“, Best Practices, Prozesse und Regeln. Dies seien jedoch allesamt Mittel formeller Struktur und damit völlig ungeeignet zur Verbesserung der Wertschöpfung. Gefordert sei ein ausgeprägtes Bewusstsein der Führung für die unterschiedlichen Strukturen einer Organisation. Eine Abkehr von der Fixierung auf das Organigramm, ein Gespür für die informellen Strukturen und eine konsequente Orientierung an der Wertschöpfungsstruktur der Organisation. 

III

Angetrieben wird dieser Bewusstseinswandel, so meine Vermutung, durch die Erkenntnis, dass die Welt am Scheideweg steht. Die Krise unserer Zeit, der Klimawandel und seine gravierenden Folgen, erzwingt massive Anpassungen. Die nötige Anpassungsfähigkeit und Innovationsfähigkeit setzt eine andere Haltung voraus. Der Wechsel des Menschenbildes, den Pfläging betont, ist nur eine Facette dieses Bewusstseinswandels. 

Der andere große Antreiber unserer Zeit ist die Digitalisierung. Der Diskurs über die Beidhängigkeit in der Unternehmensführung blendet bisher nach meinem Eindruck aus, dass wir in einem Epochenwechsel leben. Die Digitalisierung ist Ausdruck des Übergangs von der Buchdruckgesellschaft zur „nächsten Gesellschaft“. Dirk Baecker beleuchtet in seinem neuen Buch „4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt“ diese gesellschaftliche Transformation aus vielen Blickwinkeln. Mit Blick auf die Organisation der nächsten Gesellschaft hält er fest (S. 173): 

Die nächste Gesellschaft ist entweder Plattform oder agil. 

Er sieht die formale Organisation, die bisher die Auseinandersetzung um Rationalität und Irrationalität in der Organisation möglich gemacht hat, am Ende. Die formale Organisation sei im wesentlichen der schriftlichen Aktenführung, dem Fließband, dem Wissen um die Notwendigkeit der Disziplinierung der Arbeitskraft und einer informellen, die Disziplin kompensierenden Selbstorganisation verdankt. Sie habe jedoch jeden informellen Aspekt ihrer selbst absorbiert und darüber ihre Formalität verloren. Interferenzen zwischen Produkt und Image, Ökologie und öffentlicher Wahrnehmung, Technik und Kultur führten, so der Kulturtheoretker und Soziologe, zu einer Überforderung, in der nur noch helfe, sich auf die elektronischen und digitalen Medien selbst zu verlassen. 

Plattform und agiles Management wären beide ohne das elektronische Register und die digitalen Protokolle nicht möglich. Ein Großteil der Unsicherheitsabsorption, die in der modernen Organisation die Hierarchie geleistet hat, vollzieht sich jetzt über eine Einbindung organisationaler in technologische Abläufe, die sich nicht mehr an die traditionellen Grenzen der Organisation halten, sondern sie in Wertschöpfungsketten vom Lieferanten bis zum Kunden integrieren, an der jeder an jeder Stelle zugleich Kunde und Lieferant ist (S. 174). 

Der Technik gebe mittlerweile aber auch nicht mehr Sicherheit und verdiene auch nicht mehr Vertrauen als die Hierarchie. Die Plattform und das agile Management seien, so Baecker, die Formen, mit denen sich die Organisation der Ungewissheit und Komplexität der Vernetzung anpasse. 

Es wäre spannend, diese Gedanken weiter zu vertiefen. Mit Blick auf die Diskussion über die Ambidextrie lässt sich nach meinem Eindruck sagen, dass es lohnend scheint, mit der Annahme dieser Transformation der Organisation hin zu einer Plattform und der Führung in der Organisation hin zu agilem Management zu arbeiten. Die Ambidextrie beschreibt möglicherweise einfach das Phänomen des Übergangs, der von der allmählichen oder beschleunigten Durchdringung der Organisation mit digitaler Technologie und den damit verbundenen Brüchen geprägt ist.

Eine Frage zum Schluss: Wenn wir uns eine uns nahe stehende Organisation als agil geführte Plattform denken, wie unterscheiden wir dann zwischen Effizienz und Innovation oder zwischen Exploitation und Exploration?

Mehr dazu:

Unternehmensmodelle im Wandel (17): Digitalisierung, DAOs und die Disruption der Systemischen Beratung

Was gute Führung ausmacht (14): Dirk Baecker über Erwartungsmanagement und die neue Selbstermächtigung der Organisation

Unternehmensmodelle im Wandel (17): Digitalisierung, DAOs und die Disruption der systemischen Beratung

Digitalisierung gilt in fast allen Branchen als Herausforderung, die die Lebensfähigkeit der Organisationen bedroht. Bedrohlich ist diese Situation nicht zuletzt deshalb, weil sich viele Manager ziemlich ratlos diesem beispiellosen Phänomen ausgesetzt fühlen. Wer häufiger mit Unternehmensberatern zu tun hat, wird feststellen, dass auch viele Berater, auch die mit einem systemischen Hintergrund, ähnlich ratlos vor diesem Phänomen stehen, wie ihre Auftraggeber. Jan A. Poczynek, selbst Berater bei der OSB International, hat sich intensiv mit dem disruptiven Wandel der Beraterbranche selbst befasst.

I

Die Digitalisierung lässt keine Branche aus. Sie betrifft nicht nur die Wirtschaft. Die gesamte Gesellschaft durchläuft eine digitale Transformation. Auch die Beratung wird sich mit der Verbreitung von Künstlicher Intelligenz, Sensorik, dem Internet der Dinge, Blockchain und anderen Technologien grundlegend verändern. Berater müssen damit rechnen, dass auch ihre eigenen eingespielten Geschäftsmodelle von neuen Formen der Beratung verdrängt werden.

II

Dabei, meint Poczynek, sei gerade die systemtheoretisch fundierte Beratung wie geschaffen für die digitale Welt. Nur, das reiche nicht aus. Notwendig sei ein Verständnis für exponentielle Entwicklungen, die für den technologischen Wandel und disruptive Brüche typisch seien. Häufig sei gar nicht bekannt, was Disruption bedeute. Ein bekanntes Beispiel für eine exponentielle Kurve ist Moore’s Law. Neue Technologien erzeugten massenhaft neue Lösungen, Innovationen, aber auch neues Kundenverhalten.

Die Bedeutung der Technologiekompetenz ist ein blinder Fleck in der systemischen Community.

Wie weit die Wirkung neuer Technologien im angestammten Aktionsfeld systemischer Berater reichen kann, zeigt Poczynek u.a. am Beispiel der DAOs, Decentralized oder Distributed Autonomous Organizations. Für diese hybriden sozialtechnologischen Systeme fehlten uns Theorien und Interventionen.

Was passiert, wenn wir konventionelle Organisationen nicht mehr brauchen, weil reine Peer-to-Peer-Kommunkation das Problem löst?

Poczynek empfiehlt, hierzu eines der vielen Videos im Netz anzuschauen.

Dieses Video zeigt, wie gegenwärtige Organisationsformen schon längst dabei sind, sich in diesem Sinne zu verwandeln. Die Akteure der Plattformökonomie nutzen typischerweise heute schon hybride Organisationsformen, in denen klassische Unternehmensmodelle mit Modellen automatisierter und verteilter Organisation verbunden sind. 

Die Grundprinzipien von solchen verteilten Systemen sind Feedback, Selbstorganisation und Autonomie. Diese Systeme bauen auf die Blockchain-Technologie, die eine Kommunikation auf der Basis von Vertrauen ermöglicht.

Wie weitreichend die Protagonisten die Grundidee der DAO einschätzen, deutet ein Blog-Beitrag eines Blockchain-Anbieters an.   

We could have companies without CEOs or hierarchy. The uses for such an infrastructure are tremendous in scale. If regulatory structures permit, blockchain data could replace many public records like birth certificates, marriage certificates, deeds, mortgages, titles, sex offender records and missing persons. Healthcare clinics can function autonomously, cab companies can control a fleet of driverless cabs, a software development company can employ thousands of independent programmers. The list is quite large and a DAO model can be applied to almost any business.


Ein Beispiel aus der Welt der digitalen Medien liefert Forbes. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin experimentiert mit der Plattform für Blockchain-Journalismus Civil und verbindet damit die Hoffnung, das Vertrauen der Nutzer zu festigen, neue Formen der Interaktion mit den Lesern zu finden und die Reichweite zu erhöhen. Die Metadaten ausgewählter Artikel werden an die Blockchain geschickt und dort fälschungssicher archiviert. Ein Kennzeichen neben Artikeln auf forbes.com signalisiert, dass der Inhalt in die Blockchain eingetragen wurde und mit Civils journalistischen Werten übereinstimmt. Auf der Homepage von Civil heisst es:

Unlike Facebook and Google, newsrooms can trust Civil. It’s transparently owned and operated by an engaged community of people who care about journalism, not an all-powerful corporation with opaque motives. Newsrooms on Civil are committed and accountable to producing ethical journalism.

Abgerufen am 13.12.2018

III

Zurück zur Herausforderung solcher technologischer Entwicklungen für  Berater.

Dieser Bericht der Deutschen Welle stellt eine Beraterin vor, die Unternehmen über Blockchain und die damit verbundenen sozialen und ökonomischen Möglichkeiten informiert. Das Beispiel zeigt zugleich, wie Medien auf diese neue Stufe des digitalen Wandels aufmerksam werden. Wenn die Autorin des Beitrags die Expertin zu einer „Blockchain-Königin“ überhöht, zeigt sich darin gleichwohl auch, wie fremdartig und irritierend sich diese Entwicklung nicht nur für Berater, sondern auch für Journalisten anfühlt. 

Was können Berater in dieser Situation tun? Jan A. Poczynek sagt:

Die größte Herausforderung in der digitalen Transformation ist die unvermeidbare Selbstbetroffenheit, die eine existenzielle Bedrohung auslösen kann.

Angesichts dieser Selbstbetroffenheit empfiehlt er, zunächst neu hinzuschauen, mehr hinzuschauen, mit einem „Beginner’s Mind“ hinzuschauen und zu versuchen, loszulassen. Und dann: Handeln.

Übrigens haben der Stifterverband und McKinsey kürzlich eine Studie vorgelegt, in der sie einen Futur-Skill-Framework mit Kompetenzen vorstellen, die in den nächsten fünf Jahren wichtiger werden. Besonders interessant für Berater sind nach meinem Eindruck die „digitalen Grundfähigkeiten“:

Digital Literacy Grundlegende digitale Skills
beherrschen, z.B. sorgsamer
Umgang mit digitalen persönlichen Daten, Nutzen gängiger Software,
Interagieren mit KI
Digitale Interaktion Bei Interaktion über Online-Kanäle andere verstehen und sich ihnen
gegenüber angemessen verhalten
(„Digitaler Knigge“)
Kollaboration Unabhängig von räumlicher Nähe und über verschiedene Disziplinen und Kulturen hinweg effektiv und effizient in Projekten zusammen-
arbeiten, um als Team bessere
Resultate als Einzelpersonen zu
erzielen
Agiles Arbeiten In einem für ein Endprodukt
verantwortlichen Team iterativ
(„Rapid Prototyping“) genau das
erarbeiten, was dem Kunden
Mehrwert stiftet
Digital Learning Aus einer Vielzahl digitaler
Informationen valides Wissen zu
ausgewählten Themengebieten aufbauen
Digital Ethics Digitale Informationen sowie
Auswirkungen des eigenen
digitalen Handelns kritisch hinter-
fragen und entsprechende ethische Entscheidungen treffen


Unternehmensmodelle im Wandel (16): Open Data, Vielfalt und kollektive Intelligenz

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung kommt das Wort „Digitalisierung“ über 100 mal vor. Darauf hat der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen hat kürzlich in einem Thesenpapier hingewiesen, um darauf aufmerksam zu machen, wie sehr das Wort zur Parole verkommen ist. Digitalisierung im Wortsinne sei nur ein Teil der Computerisierung, die seit den 1970er Jahren anhalte. Sie sei, so gesehen, als politisches Ziel ungeeignet. Die Politik solle sich aus seiner Sicht beispielsweise um folgende Themen kümmern:

Systeme des ubiquitous computing, der Überallheit von Computersystemen, Big Data und der Aufbau nationaler Datenzentren und Medienportale, die Einschränkung der Wirkung oder gar die Zerschlagung der Datenmonopole der fünf US-amerikanischen Internet-Riesen, Strategien der Programmierung, Systementwicklung und der Entwicklung von Algorithmen, ein Wort, das im Vertrag nur drei mal vorkommt.

Ähnlich unbekümmert wie die Bundesregierung mit dem Schlagwort verfährt, scheinen  auch viele Unternehmen die Digitalisierung vordergründig ganz oben auf die Agenda zu setzen. Wer jedoch näher hinschaut, kann feststellen, dass die digitale Transformation in ihrer Dimension häufig noch gar nicht erkannt ist. Das zeigt eine GfK-Studie, über die der Unternehmensberater Wilms Buhse in einem Blogbeitrag berichtet. Nur 28% der befragten Unternehmen verstehen darunter einen grundlegenden Wandel des Geschäftsmodells oder von Werten. Für die meisten ist Digitalisierung immer noch eine IT-Angelegenheit. Buhse sieht die Defizite in der mangelnden Vernetzung.

Während das Management über eine gute Vernetzung zu den einzelnen Bereichen verfügt, bleibt die Querschnittsvernetzung der Fachabteilungen untereinander mangelhaft. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Managements unterscheiden sich gravierend und die Ergebnisse zeigten schon damals erschreckend deutlich, wie weit deutsche Unternehmen von einer vernetzten, offenen, partizipativen und agilen Unternehmenskultur entfernt sind.

Das Phänomen hinter der verkannten Tragweite will ich hier anhand der Überlegungen des Züricher Komplexitätsforschers Dirk Helbing betrachten. Er führt in seinem Buch The Automation of Society is next, auf das ich hier schon hingewiesen habe, näher aus, welche Chancen die horizontale Vernetzung von Organisationen von der operativen Basis einer Organisation aus eröffnet.

Was das Netzwerkdenken betreffe, könne man vom Silicon Valley lernen. Denn es bilde riesiges Informations-, Innovations- und Produktionsökosystem, fast eine Art „Superunternehmen“. Wenn ein Unternehmen insolvent sei, fänden die Mitarbeitenden schnell einen neuen Job.

In a sense, it is not unreasonable to think of people as being employed on a long-term basis in Silicon Valley rather than being employed on a short-term basis by its companies. […] The companies themselves are the niches, in which experimentation can take place and among which a lot of diversity can exist. (S. 191)

Aber: Die praktisch unbegrenzten Mengen an venture capital verleiten viele Investoren und Innovatoren dazu, nach globalen Monopolen zu streben. Es entstehen „wallet gardens“, zwischen denen kaum ein Austausch stattfindet. Die meisten Smartphone-Apps beispielsweise seien „walled gardens“, die kein Zusammenwirken mit anderen Apps zuließen. Komplexe Produkte würden durch Zukauf anderer Unternehmen ermöglicht. Dies mindere jedoch deren Nutzen für Dritte.

Europa könnte einen anderen Weg einschlagen. Letztlich solle das Wirtschaftssystem der Gesellschaft bestmöglich dienen. Wenn man bedenke, so Helbing, dass Daten massenhaft anfallen und immer billiger werden, wäre es sinnvoll, auf einen Open-Data-Ansatz und auf Open Innovation zu setzen. Dadurch würden „wallet gardens“ vermieden. Stattdessen würde der Informationsaustausch auf leistungsbezogenen Prinzipien beruhen. Geld würde durch das Herausfiltern von nützlichen Informationen aus Daten und von anwendbarem Wissen aus Informationen geschöpft. Im Gegensatz zum Silicon Valley könnten komplexe Produkte modular durch Projektnetzwerke geschaffen werden.

For such „super-projects“ to grow in a self-organized way, the interaction must be mutually beneficial and will often involve a mulitdimensional value exchange. (S. 192)

Helbing geht davon aus, dass sich früher oder später ein Paradigmenwechsel weg von auf sich selbst bezogenen Organisationsformen zu mehr nach außen bezogenen Organisationsformen durchsetzen wird, weil diese bessere Ergebnisse liefern. Er begründet diesen Paradigmenwechsel mit Erkenntnissen der Sozialpsychologie. Der homo socialis – der Mensch, der sich in andere versetzen kann – trifft Entscheidungen anders als der homo oeconomicus. Helbing spricht in diesem Zusammenhang auch von networked minds.

By taking the perspective, interests and success of others into account, „networked minds“ consider the externalities of their decisions. […] Thus, he/she tends to cooperate if just enough neighbors do so as well. […] homo socialis is able to harmonize competitive individual interests to make them more compatible with the efficiency of the overall system. […] in social dilemma situations or when creating common goods, everyone can get more, namely if everyone is other-regarding and cooperative. (S. 159)

Helbing zeigt sich tief überzeugt, dass wir auf eine neue Entwicklungsstufe der Wirtschaft zusteuern, nicht nur, weil die gegenwärtige Wirtschaft in vielen Teilen der Welt nicht mehr genügend Arbeitsplätze schafft, sondern weil die Informationssysteme und Sozialen Medien unsere Interaktionen verändert und völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Dazu, so Helbing, ist es notwendig, die kollektive Intelligenz anzuregen. Denn das Prinzip der „networked minds“ ermöglicht, die besten Ideen und Fähigkeiten zusammen zu bringen.

Als Beispiel für kollektive Intelligenz führt Helbing die Netflix challenge an. Damals hat sich gezeigt, dass das Ergebnis des Gewinnerteams übertroffen wurde, wenn man den Durchschnitt aus dessen Ergebnis und den Ergebnissen schlechterer Teams gebildet hat. Wenn komplexe Probleme gelöst werden müssen, gewinnt Vielfalt, nicht der Beste, so die Quintessenz.

Kollektive Intelligenz ist angesichts der Herausforderungen der globalisierten Welt unerlässlich. Sie kann nur gedeihen, wo eine vertrauenswürdige und unverzerrte Wissensbasis vorhanden ist. Notwendig hierfür sind ein Mindestmaß an Transparenz,   Maßnahmen zur Sicherung der Informationsqualität und ein partizipatorischer Ansatz, wie er beispielsweise von Wikipedia oder GitHub bekannt ist.

Wenn man diesen Gedanken folgt, hat das einschneidende Konsequenzen für die Struktur von Organisationen. Auch wenn die Hierarchie einer Top-Down-Struktur klare  Verantwortung begünstigt, schnelle Entscheidungen ermöglicht und zeitliche Koordination von Ressourcen über große Entfernungen erleichtert, so dauert das Sammeln und Auswerten von Informationen zu lange, weil die Information zu langsam entlang der Kommandowege nach oben fließt.

Eine dezentrale Bottom-Up-Struktur ist unter komplexen Bedingungen überlegen, weil sie mehr Informationen verarbeiten kann und die notwendige kollektive Intelligenz ermöglicht. Deshalb verbreitet sich dezentrale Bottom-Up-Organisation zusehends.

Während in der Vergangenheit die meisten von uns nicht an der Entwicklung der menschlichen Systeme teilhaben konnten, weil die Werkzeuge für die Koordination des Wissens und der Fähigkeiten von vielen Menschen fehlten, verändert sich das nun. Neue Informationssysteme und Organisationsprinzipien erlauben Individuen, sich aktiv als Bürger in die öffentliche Arena, als Mitarbeitende in Firmen, als Konsumenten und Nutzer in den Produktionsprozess einzubringen. Wenn die Teilhabe gut aufgesetzt wird, führt sie zu besserem Service, besseren Produkten, besserem Geschäft, besserer Nachbarschaft, klügeren Städten und klügeren Gesellschaften, so ist Helbing überzeugt. Passende Plattformen zur Koordination von Information und Handeln bewirken bessere Entscheidungen.

Unter dem inhaltsleeren Schlagwort der Digitalisierung lassen sich diese Prinzipien wohl kaum verwirklichen. Denn es geht keineswegs um die Einführung von Technologie nach altem Muster, wie sie jahrzehntelang praktiziert worden ist. Wir haben es mit einem tiefgreifenden Wandel der Unternehmensführung zu tun. Nochmal Helbing (S. 190):

For companies, this means that they need to communicate and cooperate more with their customers and suppliers. Next generation social media will provide suitable tools for this. Companies that manage to offer individually tailored, customized products and services will have a competitive advantage. Obviously, this requires more information to be shared, and in order for this to be viable in the long term, a trustworthy and fair system of bidirectional communication and collaboration is crucial. As a consequence, the business leaders of tomorrow will have to be well acquainted with „systems thinking“, an approach which integrates and balances different interests and perspectives. (S. 193)

 

 

 

Sensoren (1): Eine Welt ohne Grenzen – Parag Khanna im SRF-Interview

Das ZKM Karlsruhe hat ihr groß angelegtes Ausstellungsprojekt Globale mit einer Ausstellung über den Neustart der gescheiterten Moderne beendet: Reset Modernity! Der programmatische Kerngedanke war im Fieldbook zur Ausstellung so beschrieben:

Die Moderne bot eine Möglichkeit, zwischen Vergangenheit und Zukunft, Nord und Süd, Fortschritt und Rückschritt sowie radikal und konservativ zu unterscheiden. Doch in einer Zeit tief greifender ökologischer Veränderungen dreht sich dieser Kompass wild im Kreis, ohne noch groß Orientierung zu bieten. … Lassen Sie uns einen Moment innehalten und Verfahren, Procedures, anwenden, um nach anderen Sensoren zu suchen, mit denen wir unsere Detektoren, unsere Werkzeuge, neu kalibrieren können.

Diese Suche nach neuen Sensoren kam mir in den Sinn, als ich mir das Interview des SRF mit Parag Khanna angesehen hatte. Der Politikwissenschaftler wirft einen Blick auf die globale Vernetzung der Infrastruktur: das sind erstens Transportmittel, also z.B. Eisenbahnlinien, Straßen und Fluglinien, zweitens Energienetzwerke, also z.B. Pipelines und Stromnetze, und drittens Kommunikationsnetze. Diese Netze verbinden uns alle. Wir haben sie über Jahrhunderte aufgebaut. Sie sind älter als viele Staaten und werden Staaten, wenn sie zerfallen, überleben.

Khanna hat selbst in vielen Ländern gelebt und viele Kulturen kennen gelernt und ist häufig rund um den Globus unterwegs. Auf die Frage nach der Zugehörigkeit, sagt er ironisch:

Ich sammle die Identitäten.

Sein Blickwinkel lässt uns einen neuen Blick auf die gesellschaftlichen und globalen Entwicklungen gewinnen. Connectography nennt er diese Methode. Die Landkarte sei seit Jahrhunderten und bis heute ein Mittel, uns selber die Welt verständlich zu machen. Jede Karte stehe für eine Weltanschauung. Mit diesen Weltanschauungen, wie sie aus Karten sprechen, setzt er sich auseinander.

Geografie sei heute kein Schicksal mehr für Staaten. Heute sei vielmehr die Konnektivität, die Vernetztheit, die Verbundenheit Schicksal. Die politische Landkarte verändere sich ständig. Bei der Gründung der Vereinten Nationen habe es 150 Staaten gegeben, heute seien es über 200. Die Karte der Vernetzung biete in diesem rasanten Wandel Kontinuität.

Staatliche Grenzen sind sehr wichtig. Aber Geopolitik ist nicht der Kampf zwischen Staaten. Geopolitik ist das Verhältnis oder die Beziehung zwischen Raum und Macht. Es können ganz verschiedene Akteure diese Macht haben. Terroristische Gruppen, religiöse Einheiten, Firmen und Unternehmen und auch Staaten und Städte.

Diese Macht werde durchgesetzt über die Vernetzung. Macht verteile sich anders im Raum, als wir uns das gewöhnlich vorstellen, wenn wir allein an staatliche Grenzen als Machträume denken. Machtstrategien äußerten sich heute in Infrastrukturinvestitionen.

Die vielfältige Vernetzung erhöht die gegenseitige Abhängigkeit.

Je mehr Grenzen wir haben, desto grenzenloser wird die Welt.

Alle Länder sind in steigendem Maße auf Importe angewiesen. Das Gleiche trifft auch auf Organisationen zu. Sie sind von Zulieferungen und damit von freien Fluss der Ressourcen abhängig. Alle teilen letztlich wechselseitig das Interesse, diese Zulieferungen aufrecht zu erhalten und zu sichern.

Junge Menschen, so Khanna, tragen zu einem gewissen Teil das globale Denken in sich. Sie schätzen die Verbundenheit ebenso wie ihre nationale Identität. Die Asiaten, so sein Befund, stehen mehr für offene Grenzen und Freihandel als die Europäer und Amerikaner.

Europa ist nicht mehr nur eine Union der Staaten, sondern auch der Regionen. Der Brexit werde die Verbindungen Großbritanniens mit der Welt nicht beenden. Natürlich fahre der Eurostar weiterhin zwischen London und Paris.

Die Menschen wünschen sich mehr Abgrenzung und arbeiten gleichzeitig für globale Konzerne. Der Ausstieg eines Landes aus der EU oder aus Freihandelsabkommen wäre schlecht für die Bürger. Der Wille des Volkes und die Interessen der Unternehmen lägen, so meint Khanna, näher beieinander, als wir glaubten.

Staaten und große Organisationen können – ein langfristiger Prozess – weniger korrupt werden, weil sie Verantwortung haben für ihre Rolle in der globalen Versorgungskette, die mit gewissen Erwartungen verbunden ist, die erfüllt werden müssen. Dadurch erhöhe sich z.B. der Standard von Corporate Governance.

Zwischen dem Wunsch nach Abgrenzung und nach Teilhabe an der globalen Verbundenheit muss jeder Staat, jede Organisation einen ausgewogenen Weg finden.

Aus der wirtschaftlichen und demographischen Sicht sind wir eine Zivilisation der Städte. Die Städte werden in der Zukunft eine entscheidende Rolle in der Geopolitik spielen. Sie sind die Knoten in der vernetzten Welt.

Die Weltanschauung, die Sichtweise der Städte heisst: Mehr Verbundenheit bauen. Brücken bauen zu anderen Städten. Mehr Handel, mehr Talent, mehr Technologie, mehr Flugverbindungen usw. So sieht die Welt die Stadt.

Khanna bietet uns ein Beispiel für einen neuen Sensor, mit dem wir durch Betrachtung der globalen Netzwerke unsere Weltsicht bereichern können.

Noch einmal zurück zur Ausstellung „Reset Modernity“ im ZKM. Das Fieldbook schließt mit der Ermunterung, unseren Kompass nicht mehr auf den Globus, sondern auf die Erde auszurichten,

um zu kartieren, wo wir stehen, und um zu entscheiden, was sich zu verteidigen lohnt. […]

Neue Allianzen werden möglich: um schützende Um-Welten gemeinsam mit jenen zu errichten, die nach defensiven Identitäten suchen, und um eine Welt zu erforschen, die wesentlich vielschichtiger und komplexer ist als der einstige Globus.

Was gute Führung ausmacht (14): Dirk Baecker über Erwartungsmanagement und die neue Selbstermächtigung der Organisation

Hierarchien spielen eine heilsame, stressreduzierende Rolle in den Prozessen der Selbstorganisation einer Organisation. Daran erinnert Dirk Baecker in einem aufschlussreichen Interview in der Online-Ausgabe der Zeitschrift Organisationsentwicklung. Der Prozess der Befreiung von Organisationen aus ihren Silostrukturen und ihrer Öffnung für Netzwerkstrukturen sei zwar keine Mode, sondern ein schon seit den 1930er Jahren laufender Prozess. Dieser Prozess widerspreche jedoch jahrtausendealten Erwartungen an Hierarchie und Einheit. Deshalb, so dämpft Baecker manche Euphorie in der aktuellen Debatte, werden wir auch noch einige weitere Jahrzehnte mit diesem Phänomen zu tun haben.

Doch natürlich hat sich vieles in den Organisationen verändert. Das lässt sich etwa an den gewachsenen Anforderungen an die Zusammenarbeit in und zwischen Teams, an „agilen“ Arbeitsweisen  und an der deutlich gewachsenen Eigenverantwortung der Mitarbeitenden ablesen. Dirk Baecker betont vor diesem Hintergrund zwei Aufgaben, die er der Führung zuschreibt. Beide dienen der Regulierung der Erwartungen der Mitarbeitenden. Die erste Aufgabe: die Mitarbeitenden zum eigenverantwortlichen Handeln befähigen.

Ich glaube, dass Führung im Wesentlichen Erwartungsmanagement ist: das Management der Erwartungen der Geführten. Nichts ist ja wichtiger als die Befähigung aller Mitarbeiter zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben und zur wachsamen Beobachtung aller dafür erforderlichen Umstände. Tendenziell macht sich Führung damit überflüssig. Aber eben nur tendenziell. Organisationen brauchen Führung als Adresse des Scheiterns von Erwartungen, dass man gesagt bekommt, was man zu tun hat.

Die zweite Aufgabe der Führung: starke Symbole setzen.

In welche Richtung kann es gehen? Welche Entwicklungen im Umfeld der Organisation sind wichtig, welche nicht? Mit welchen Ressourcen, welchem Mut zu Investitionen geht man neue Aufgaben an? Welche Einstellungen zu Experiment, Risiko und Scheitern werden gepflegt? Auch das ist Erwartungsmanagement, das es den Mitarbeiten ermöglicht, einzuschätzen, worauf sie sich mit eigenen Entscheidungen in der jeweiligen Organisation einlassen.

Und was machen Berater in einer in dieser Art ertüchtigten Organisation? Baecker sieht keinen Grund, sich um die Beraterzunft Sorgen zu machen. Doch er beobachtet, dass Organisationen aufhören, sich selbst zu entmächtigen und wieder mehr Mut aufbringen, über notwendige Veränderungen selbst nachzudenken und sie auch selbst umzusetzen.

Die Scrum-Beratung zeigt ja sehr schön, wie die Beratung viel stärker als in den Jahrzehnten zuvor in die zu beratende Organisation integriert wird und der Auftrag erst dann bewältigt ist, wenn die Organisation über eigene Scrum-Master verfügt. Ich halte das für eine interessante Entwicklung, weil sie wieder etwas mit der Selbstermächtigung von Organisationen zu tun hat. Wenn wir jetzt noch damit beginnen würden auch das Thema Macht wieder offen zu diskutieren, könnte man den Spuk der Beratung schon fast für ein historisches Phänomen halten.

 

Mehr von Dirk Baecker zur Hierarchie-Frage

Unternehmensmodelle im Wandel (7): Hierarchie „vollkommen unverzichtbar“

Die fünfte Gewalt – Bernhard Pörksen über die Macht der vernetzten Vielen

Organisationen ohne Organisation. So beschreibt Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Universität Tübingen, die sozialen Netzwerke, die sich im letzten Jahrzehnt zu einem massenhaften, die Gesellschaft verändernden Phänomen entwickelt haben. An einer ganzen Reihe von Beispielen zeigt er in einem Beitrag für die SWR2 Aula, was  Äußerungen von Einzelnen im Netz bewirken können, wenn eine kritische Masse darauf reagiert. Pörksen betont,

dass irgendwo dort draußen im digitalen Universum eine neue Macht- und Einflusssphäre entstanden ist, eine fünfte Gewalt, die sich neben die staatliche Gewalt aus Exekutive, Judikative, Legislative und neben die vierte Gewalt des traditionellen Journalismus schiebt.
Er belegt das etwa mit der Geschichte von Martha Payne, einem 9-jährigen Mädchen aus Schottland, das über ihr Schulessen anfängt zu bloggen und damit weltweit ein Thema zu setzen vermag. Diese neue Macht sei zu einer „Publikative“eigenen Rechts geworden. Sie sei
Stofflieferant einer inhaltlich und medial entgrenzten, barrierefrei zugänglichen Öffentlichkeit. Sie publiziert in sozialen Netzwerken, auf Wikipedia, Wikis, Blogs. Sie erzeugt Images, sie dokumentiert peinliche Momente auf der Weltbühne des Internets, sie verlinkt und verbreitet kompromittierende Äußerungen, Fotos und Videos von Mächtigen und Prominenten, die auf Dauer im Online-Universum kursieren. Sie setzt eigene Themen, tatkräftig unterstützt von den klassischen Leitmedien, die aufgreifen, was die Vielen eben gerade debattieren. Die schlichte Netzpublizität (eine Trendwelle auf Twitter, ein Shitstorm, ein paar heiß laufende Gerüchte in den sozialen Netzwerken) ist zum Nachrichtenfaktor und zum Argument der journalistischen Themenrechtfertigung geworden, das es erlaubt, auch ein banales Spektakel massenmedial aufzuwerten.

Es geht Pörksen nicht um die Macht des Einzelnen, sondern um die Macht der Vielen. Die fünfte Gewalt, das sind wir alle, betont Pörksen in seinem Auftritt zum gleichen Thema auf der re:publica15. Man kann die fünfte Gewalt nicht über eine Idee, eine Ideologie oder eine kollektive Moral fassen. Wie macht man diesen radikalen Pluralismus dingfest? Was ist das verbindende Muster in dieser ungeheuren Vielfalt an Themen, Motivationen und Ausdrucksformen?

Er ist bei Gregory Bateson fündig geworden: das „Muster des Lebendigen“, das Muster, das verbindet. Pörksen unterscheidet drei Muster: das Rollenmuster, das Organisationsmuster und das Wirkungsmuster.

 

 

Weitere Details zu dieser Diagnose erspare ich mir. Das hat Marie-Christine Schindler auf ihrem Blog  schon bestens erledigt – inklusive Links zu einigen der Beispiele, die Pörksen erwähnt.

Das Organisationsmuster scheint mir besonders aufschlussreich. Netzwerkeffekte, so Pörksen in seinem Beitrag für die SWR Aula, lassen sich nicht personalisieren.

Die Wirkung, die Macht der fünften Gewalt entfaltet sich erst in einem Wirkungsnetz. Sie ist nicht isoliert vorstellbar. Diese neue Form der Macht lebt im Konnektiv der vernetzten Vielen.
Es ist anzunehmen, dass wir uns mit diesen neuartigen Wirkungsnetzen in den nächsten Jahren intensiver auseinander setzen werden.
Offen und ungeklärt ist jedoch, wie sich die fünfte Gewalt, wie sich das mächtig gewordene Medienpublikum– ohne institutionelle Anbindung, ohne feste Adresse, ohne verantwortungsethische Erreichbarkeit, wie sie ja der klassische Journalismus besitzt – gleichsam selbst zivilisieren kann?
Antworten kann auch Pörksen (noch) nicht geben, aber er legt eine Fährte, die sich weiter verfolgen lässt. Es lohnt sich, die Organisationsmuster der Netzwerkbildung im Blick zu behalten. Im ersten Schritt geht es darum, die Muster dieser Netzwerke zu beobachten. Wenn man die Organisationsmuster besser versteht, könnte es auch wichtig sein, sich mit den wechselnden Wertemustern zu befassen. Darauf hatte Peter Kruse immer wieder nachdrücklich  hingewiesen.

 

 

 

 

Unternehmensmodelle im Wandel (8): Verbundnetzwerke – Kooperation statt Hierarchie

Verbundnetzwerke werden als Form der Kooperation selbständiger Unternehmen wenig beachtet, obwohl sie häufig und in unterschiedlichen Branchen anzutreffen sind. Im Einzelhandel ist z.B. Edeka zu nennen, im Finanzbereich der Verbund der Sparkassen oder der Genossenschaftsbanken, in der Wissenschaft die Helmholtz-Gemeinschaft. Darauf weist Katrin Glatzel in einem Beitrag über die Mechanismen der Führung in dieser Art von Netzwerken hin. In der Medienwelt ist wohl die ARD als Verbundnetzwerk zu verstehen. Glatzel überschreibt ihren Aufsatz: „Wenn Hierarchie keine Option darstellt“. Das macht neugierig. Vielleicht liefern funktionierende Verbundnetzwerke Anschauungsmaterial für heterarchische Führung in der Praxis?

Verbundnetzwerke

… dienen der Absicherung und Stabilisierung dezentralen Unternehmertums und bestehen aus einer bestimmten Anzahl an selbstständigen Organisationen. Aufgrund ihrer basisdemokratischen Strukturen, die an föderale Systeme erinnern, handelt es sich hierbei um eine extrem politische Organisationsform. Zu der Kooperationsstrategie von Verbundnetzwerken zählt der gemeinsame Betrieb eines oder mehrerer Verbundunternehmen. (…)

Das erfolgreiche Überleben kooperativer bzw. netzwerkförmiger Strukturen hängt davon ab, ob es gelingt, die verschiedenen Interessenlagen selbstständig agierender Einheiten sinnstiftend miteinander zu verbinden und auf gemeinsame Ziele zu fokussieren. Da Hierarchie in diesen Organisationen als Koordinationsmechanismus ausscheidet, muss die Führung sich einen alternativen Modus Operandi suchen.

Verbundnetzwerke sind auf heterarchische Steuerung angewiesen. Es sind viele Mitglieder in die Entscheidungsfindung eingebunden.

Das dauerhafte Oszillieren zwischen den widersprüchlichen Anforderungen, die Hierarchie und Demokratie an eine übergreifende Koordination stellen, ist in Verbundnetzwerken Überlebens-prinzip. Eine Auflösung dieser Uneindeutigkeit in die eine oder andere Richtung, hin zu einer eindeutigen Führungsfunktion der Zentrale oder einer klaren Führungsfunktion der dezentralen Einheiten, würde das Ende des Verbundnetzwerks bedeuten. Es nähme dann entweder die Form einer klassischen Organisation an, die anhand des ihr eigenen Koordinationsmechanismus der Hierarchie gesteuert wird, oder aber die Form des Netzwerks, welches sich aufgrund marktförmiger Mechanismen koordiniert.

Die Führung dieser Art von Netzwerken kann somit Hinweise auf die heterarchische Führung in Organisationen liefern. Es braucht

Ansätze, die sich von jenen der auf formalen Regeln, Routinen und Autorität basierenden hierarchischen Führung in traditionelleren Organisationen unterscheiden.

Vier Merkmale sind für Netzwerke dieser Art, so stellt Katrin Glatzel fest, besonders geeignet: Transparenz, Vertrauen, Spielregeln und Macht.

Die wechselseitige Bereitschaft, auch ohne sofortige Gegenleistung füreinander einzuspringen, und das Vertrauen darauf, dass sich dies auf lange Sicht für alle Beteiligten auszahlen wird, stellen gera- dezu die Existenzberechtigung für Verbundnetzwerke dar.

Nährboden für dieses hohe Maß an Vertrauen ist die Transparenz.

Transparenz bedeutet, eine unbedingte Klarheit und Offenheit hinsichtlich aller Prozesse zu schaffen, mit denen innerhalb des Verbundes Geldflüsse und strategisches Entscheiden verbunden sind. Transparenz bedeutet auch, die Aufgabenverteilung innerhalb des Verbundnetzwerks offen auf den Prüfstand zu stellen. Welche Aufgaben werden gemeinsam für alle Mitglieder durch das oder die Verbundunternehmen übernommen – und welche Aufgaben erledigt ein jedes Mitglied für sich allein?

In Verbundnetzwerken haben es die Verantwortlichen unweigerlich mit einem doppelten Handlungsrahmen zu tun. Macht ist immer eine Option.

In der Praxis von Verbundnetzwerken äußert sich dies auf vielfältige Arten und Weisen. So erzeugt die Basis beispielsweise durch eine Haltung der Verweigerung Handlungsdruck auf die Führung von Verbundnetzwerken: Zentral entwickelte Produkte werden nicht unterstützt, netzwerkweite Befragungen werden boykottiert oder Ansprechpartner für bestimmte Themen gezielt umgangen bzw. ignoriert.

Gegen die missbräuchliche Verwendung der Macht durch einzelne Mitglieder ist ein Verbundnetzwerk

auf gemeinsam akzeptierte Spielregeln angewiesen, die alle Verbundmitglieder akzeptieren und einhalten.

Verbundnetzwerke haben es mit einem hohen selbstzerstörerischen Potenzial zu tun. Katrin Glatzel bringt die Chancen und Risiken auf den Punkt:

In lose gekoppelten Organisationssystemen gilt grundsätzlich: Eine vorherrschende Kultur des Misstrauens lässt die internen Transaktionskosten bedrohlich ansteigen. Wenn es allerdings gelingt, dieses negative Potenzial konstruktiv zu wenden, dann sind Verbundnetzwerke in der Wettbewerbsauseinandersetzung »fast unschlagbar«.

via osb-i.com