Lange Jahre konnte man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass sich die Unternehmen und die Verantwortlichen in der Wirtschaft der Klima- und Biodiversitätskrise durch Ignorieren entziehen wollten. In letzter Zeit mehren sich jedoch die Stimmen aus der Wirtschaft, die es mit der sozial-ökologischen Transformation ernst meinen und erkennen, dass sie ihr Unternehmen aktiv den Bedingungen der Erdverbundenheit anpassen müssen. Ist ein solcher für viele Akteure der Wirtschaft radikaler Wandel mit herkömmlicher Führung zu schaffen? Oder brauchen wir ein „Climate Leadership“?
I
Der Klimaforscher Michael Mann und der Wirtschaftswissenschaftler Thomas S. Bateman haben in einem Kommentar ihre Sicht auf die Führung unter den Bedingungen der derzeitigen und zukünftigen ökologischen Katastrophe dargelegt. Sie fordern mehr „Klimaführung“. Es sei unerlässlich, klügere Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen, schreiben sie, weniger autokratische Entscheidungen, dafür mehr Kontakte zu sachkundigen Interessengruppen.
Sie erkennen die Bedeutung des bewussten Umgangs mit der Komplexität der von der Physik und vom Menschen geprägten Ökosysteme. „We should think of leadership as a few top leaders plus a broader social attribute of a system — a widespread network of authorized and informal influencers and interconnected subsystems,“ so stellen sie den Netzwerk-Gedanken in den Mittelpunkt. Zusammenarbeit über etablierte Grenzen hinweg ist gefragt.
We need more climate leaders.
Sie betonen drei entscheidende Führungsmaßnahmen:
- Brücken bauen, indem man künstliche Silos aufbricht und vielfältige, hochwirksame Koalitionen schmiedet. Ihnen schweben Beispiele vor, die Grenzen überwinden, wie etwa die Region der Großen Seen oder die Zusammenarbeit in Wassereinzugsgebieten oder die Zusammenarbeit von Umweltschützern und Gewerkschaften.
- Einbindung relevanter Stimmen außerhalb der inneren Kreise. Sie denken dabei etwa an die überragende Macht der Fossilindustrie auf der COP-28 und anderen Treffen im Vergleich zur Machtlosigkeit des globalen Südens und anderer stark betroffener Bevölkerungsgruppen oder an die Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften bei der Entscheidung über die Holzernte, der Wiederherstellung von Flüssen oder der Rückgabe von Land.
- Denken und Handeln im Namen der Zukunft. Ihnen schwebt vor, die Zukunft nicht länger zu vernachlässigen und den wahrscheinlichen langfristigen Folgen unserer Entscheidungen Beachtung zu schenken. Zukunft in Entscheidungsprozesse einzubringen, vor allem wenn der Elefant im Raum die nicht diskutierten langfristigen Risiken sind, sei ein entscheidender Akt der Führung, meinen Bateman und Mann.
Jeder Arbeitsplatz ein Klima-Job
Effektive Klima- und Nachhaltigkeitspraktiken seien in fast allen Branchen zu finden. Beispielsweise betrachte das Project Drawdown jeden Arbeitsplatz als einen Klima-Job und betone die Möglichkeiten der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit. Die beiden Autoren setzen auf die wachsende Zahl der Engagierten. Wenn sich mehr Menschen als Klimaschützer verstünden und entsprechend handelten, würde dies unterschiedliche Perspektiven und Lösungen zutage fördern, das Systemdenken stärken, Netzwerke und grenzüberschreitende Kooperationen fördern und disziplinäre, organisatorische oder geografische Silos überwinden.
II
Einen anderen Weg wählt das Institut für Systemische Beratung (ISB), das ein New Leadership Manifest herausgegeben hat. Es geht ebenfalls von der Annahme aus, dass aus der verbreiteten Unsicherheit und Komplexität eine neue Führung oder genauer: eine neue Führungshaltung entsteht. Neben dem Klimawandel und der Anhäufung von Krisen ist es hier die Digitalisierung, die eine neue Führung befördert. Das Manifest möchte diese Entwicklung hin zu einem neuen Führungsverständnis und -handeln mit einem Rahmen unterstützen, der den Dialog anregen und Führungsarbeit fördern soll.
„Leading People“ – Menschen führen oder führende Menschen?
Das Manifest stellt auch den Netzwerkgedanken in den Mittelpunkt. „Sustainable Leadership“, so heißt es hier, „vollzieht sich als begrenzte und geteilte Führungsverantwortung und im Führungsnetzwerk.“ Es scheut sich nicht, Wohlstandsverteilung, Eigentum und Teilhabe wie auch Arbeit und Wachstum als neu zu definierende Themen anzusprechen. Neue Führung stärkt die Kreislaufwirtschaft und eine humane Arbeitswelt. Führung „betrifft uns alle“.
Ambitionierte Sätze, die, wenn sie ernst gemeint sind und von vielen gelebt werden, mit massiven Konflikten und Kämpfen verbunden sind. Wenn die wie auch immer geartete neue Führung zu einem Richtungswechsel im Sinne einer sozial-ökologischen Balance und im Sinne der Verbundenheit der lebenden und nicht-lebenden Akteure in der Kritischen Zone führen soll, dürfte das auf einen Bruch mit dem bisherigen, häufig neoliberal geprägten Verständnis des Wirtschaftens verbunden sein. Oder ist vielleicht ein Übergang zu kooperativen Wirtschaftsmodellen doch in kleinen, überschaubaren Schritten denkbar? Reicht „respecting the planet“ aus, um der ökologischen Dimension allen Lebens und der Vernetzung mit nicht-menschlichen Akteuren in der Biosphäre das nötige Gewicht zu verleihen?
Ähnlich wie Timothy Morton darauf hinweist, dass wir nicht ökologisch werden müssen, weil wir es, egal was wir tun, immer schon sind, so liegt es nahe zu sagen: Leadership war schon immer auch Climate Leadership. Wir müssen es nicht erfinden. Wir sollten Führung und Management zulasten des Klimas und der Biodiversität lassen.
III
Der amerikanische Rechtswissenschaftler und Publizist Jedediah Purdy spricht in seinem engagierten Buch „Die Welt und wir. Politik im Anthropozän“ von drei Szenarien (S. 176f), die für den Umgang mit den Krisen unserer Zeit denkbar seien. Erstens: die Privatisierung. Die Reichen ziehen sich zurück, die Mittelklasse und die Akademiker versuchen, sich zu isolieren, ldie Arbeitenden und die Armen werden krank und sterben. Er sieht dieses Szenario in den USA im Werden.
Das zweite Szenario sieht er als politische Gegenreaktion darauf: ein Katastrophen-Nationalismus. Er liest die Corona-Krise als eine beschleunigte Version der Klimakrise. Die Vulnerabilität und Interdependenz, die in ihr sichtbar geworden ist, verschaffe, so Purdy, „jenen einen politischen Vorteil, die gerade die Hand am Hebel haben“. Er sieht darin ein Standardreaktionsmuster der Politik in einer instabilen Welt voller Gefahren, in der sich staatliche Macht vor allem auf nationaler Ebene auswirke und damit eine ständige Einladung zum Ethnonationalismus darstelle.
Das dritte Szenario: Solidarität. Was einem von uns schade, schade tatsächlich allen.
Im 21. Jahrhundert ist jedes Land darauf angewiesen, dass die ganze Welt zu grüner Energie und grüner Infrastruktur konvertiert und die Wirtschaft so umbaut, dass nicht der prekäre Wettlauf um den nächsten Job, den nächsten Profit, sondern Gesundheitsschutz und Gemeinwohl oberste Prioriät genießen.
S. 177
Eine gewaltige hoch komplizierte Infrastruktur sei nötig, damit wir einander und in letzter Konsequenz der Profitmaximierung dienen können: von Autobahnen über die Kreditmärkte bis zur globalen Handelsordnung. Die Hände und Köpfe, die diese Ordnung errichtet haben, seien zweifellos, so ist Purdy überzeugt, in der Lage, eine andere zu erbauen, in der das Gemeinwohl auf jeder Ebene an erster Stelle stehe: vom Einzelnen über die Gemeinden und das Land bis hin zum gesamten Planeten.
Vielleicht gelingt es tatsächlich, in diesem Sinne ein „Climate Leadership“ zu etablieren, das sich von einer vergleichsweise einfachen Orientierung an maximalen Profiten abwendet und auf die Komplexität eines häufig schwieriger zu greifenden Gemeinwohls einlässt.