Wie verstehen Medien die Klimakrise? | Meine Tweets der Woche 34/2021

Die Klimakrise verstehen – so könnte man meine Tweets in dieser Woche in ein Stichwort packen. Es geht um die Einstellung zur Klimakrise und um Handlungsmöglichkeiten.

In den traditionellen Medien zeigt sich seit langem und immer drängender ein massives Problem mit der Klima-, Arten- und Umweltkrise. Sie stellen das Thema fälschlicherweise neben die anderen Themenfelder, obwohl es doch deren Kontext ist. Der fehlende Kontextbezug führt zu falschem Framing, „False Balance“ und lädt dazu ein, die Klimakrise zu beschwichtigen oder zu verdrängen. Sarah Schurmann und Lea Dohm haben die von vielen Journalisten missverstandene Wechselbeziehung zwischen den Krisen unserer Zeit und der Zerstörung unseres Lebensraums als Metakrise in einem Beitrag für Übermedien verständlich beschrieben. Sie sprechen mir aus dem Herzen, wenn sie für entsprechende Weiterbildungen in den Medien plädieren.

Das Problem der Medien mit der Klimakrise ist gleichwohl nicht nur dort sichtbar. Die Mehrheit der Unternehmen und der Bürger sind in derselben Verdrängungsblase gefangen, wie Journalistinnen und Journalisten. Man will es nicht wahrhaben und sieht die Chance (noch) nicht, die mit der anstehenden Transformation verbunden ist. Die „Große Transformation“ – solche Begriffe schrecken natürlich ab. Kapitalismuskritik ist angebracht, aber auf dieser abstrakten Ebene letztlich wohl wirkungslos.

Manifeste (15): Fork in the Road – The Manifesto [Febr. 2021]

Drei „Futuristen“, David Houle, Gerd Leonhard und Glen Hiemstra, suchen den Weg über ein Manifest, um ihrer Sorge über die Zukunftsfähigkeit der Menschheit Nachdruck zu verleihen. Sie sehen die Menschheit an einem kritischen Punkt ihrer Geschichte angekommen.

… die Entscheidungen, die die Menschheit in den nächsten10 Jahren kollektiv treffen wird, werden bestimmen, ob sich unsere Zukunft brilliant und wohlhabend gestalten wird, oder ob sie zu Elend und vielleicht letztendlich sogar zu unserem Untergang als Spezies führen wird.

Buckminster Fuller ist ihnen der Stichwortgeber. „Fork in the Road“ hat er schon 1969 diesen historischen Moment genannt, an dem sich erweisen wird, ob sich „die Menschheit für den Fortbestand im Universum qualifiziert oder nicht.“ Und so nennen sie ihr gemeinsames Projekt.

R. Buckminster Fuller (Quelle: Wikipedia – CC BY 3.0)

Vier übergreifende Themen identifizieren die drei Autoren.

  • Bewältigung der Klimakrise, damit die Menschen sowie alles Leben auf der Erde weiterhin gedeihen können
  • Die Gestaltung neuer wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen, die auf nachhaltigen Prinzipien wie „People, Planet, Purpose & Prosperity“ basieren
  • Die Steuerung des exponentiellen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts
  • Die Regulierung von Human Enhancement, Langlebigkeit und Human-Genom-Editierung, damit nicht nur der Fortschritt weitergeht, sondern auch die Konsequenzen sorgfältig bedacht werden

Als größtes Hindernis auf dem Weg in eine gute Zukunft erkennen die Autoren die verbreitete Vermeidungshaltung, mit der Menschen gewohnt sind, auf Krisen, wie auch jetzt in der Corona-Pandemie, zu reagieren. Neben dem Klimawandel sehen sie auch die Bedrohung durch die Künstliche Intelligenz, die nur aus einer Annäherungshaltung und einem Gestaltungswillen heraus zu bewältigen sein wird.

Anstatt stillschweigend unserer scheinbar unausweichlichen Zukunft zuzustimmen, müssen wir aktiv unsere bevorzugte Zukunft gestalten.

Die Autoren wollen ihren Zugang zu Entscheidungsträgern nutzen, um diese zu beeinflussen. Sie verpflichten sich wechselseitig, in diesem Sinne zu agieren.

Das Manifest betont die Dringlichkeit der Situation. In den Konsequenzen bleibt es jedoch oberflächlich. Es verlässt sich auf Schlagwörter, wie z.B. die 4P, die vielleicht interessant klingen, aber auch leicht zu konsumieren sind, ohne in eine Aktion zu wechseln. Ob das dazu beiträgt, Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik vom Umsteuern zu überzeugen?

Man muss schon genau hineinlesen, um die Relevanz zu erkennen. Schauen wir uns dazu die beiden ersten Kernsätze genauer an.

Im ersten ihrer vier Kernsätze, der Bewältigung der Klimakrise, beziehen sie sich nicht mehr auf den Menschen im Universum, wie es Fuller noch getan hat, sondern auf den Menschen und alles Leben auf der Erde. Damit ist ein wichitger Blickwechsel hin zur „Kritischen Zone“ verbunden, die allein Leben durch Leben ermöglicht.

Die plakativen 4 P im zweiten Kernsatz – People, Planet, Purpose, Prosperity – werden häufig im Rahmen der von den UN beschlossenen Nachhaltigkeitsziele (SDG) verwendet. Die drei ursprünglichen P – People, Planet, Prosperity – wurden hier um zwei weitere Themen ergänzt: Peace und Partnerships. Sie dienen der Fokussierung auf die Sphären, in denen sich die Wirkung zeigen soll, um den Fortschritt bei der Realisierung der 17 SDG zu messen. Wie sensibel der Umgang mit solchen Schlagwörtern ist, zeigt ein Kommentar von John Elkington, der die 3P vor einem Vierteljahrhundert proklamiert hatte. Er versteht seinen Kommentar als „Rückrufaktion“, weil die drei Begriffe nur als Messwerkzeug verstanden wurden. Sie sollten jedoch Organisationen ermuntern, ökonomische (nicht nur finanzielle), soziale und ökologische Wertsteigerung oder -vernichtung nachzuverfolgen und zu steuern. Stattdessen sei es nur als Werkzeug zur Rechnungslegung verstanden worden. Elkington wörtlich:

But the TBL wasn’t designed to be just an accounting tool. It was supposed to provoke deeper thinking about capitalism and its future, but many early adopters understood the concept as a balancing act, adopting a trade-off mentality.

Die Triple Bottom Line (TBL), wie das Dreier-Modell auch genannt wird, habe eine solche Flut an Abrechnungssystemen ausgelöst, dass die Vielfalt leicht als Alibi für Untätigkeit herhalten könne. Noch schlimmer,

…, we have conspicuously failed to benchmark progress across these options, on the basis of their real-world impact and performance.

Jährlich würden solche Berichte zu Tausenden produziert, obwohl völlig unklar sei, wie die Daten ausgewertet werden müssen, damit sie Entscheidungsträgern helfen, die Wirkungen des Unternehmens zu verfolgen und zu gestalten. Der Paradigmenwechsel von der Single Bottom Line zur Triple Bottom Line ist gescheitert, meint Elkington. Der Impuls in Richtung einer Transformation des Kapitalismus ist ausgeblieben.

Soviel zum Hintergrund des zweiten Kernsatzes des Manifests. Es kann als Aufruf verstanden werden, einen neuen Anlauf zu nehmen, die einseitige Rechnungslegung in der Wirtschaft zu überwinden und einen Kapitalismus anzustreben, der der Regeneration von Wirtschaft, Gesellschaft und Biosphäre dient.


Mehr dazu

Was gute Führung ausmacht (20): Transformatives Unternehmertum als Zukunftskunst

Sensoren (20): Critical Zones


Manifeste (14): Contract for the Web

Internet-Zugang für alle und ein offenes Netz – das sind zwei von neun Grundsätzen des Contract for the Web. Damit ist ein weiteres Dokument in der Welt, das sich in die lange Liste der „Manifeste“ einreiht, die einen Impuls für die Transformation der Gesellschaft setzen wollen. Der „Contract“ stammt von prominenter Seite. Initiator und Autor ist Tim Berners-Lee, der seit seiner Erfindung des World Wide Web vor 30 Jahren als einer der Urväter des Internets, wie wir es heute kennen und täglich nutzen, gilt. Den 2018 angekündigten Vertrag hat er nach einem Jahr der Aushandlung im November 2019 veröffentlicht.

Berners-Lee hat ganze Arbeit geleistet, so scheint es auf den ersten Blick. Er hat nicht einfach ein Manifest oder eine Charta veröffentlicht, sondern mit Regierungen, Technologiekonzernen und zivilgesellschaftlichen Organisationen einen „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen. 160 Organisationen haben daran mitgearbeitet. Alle sollen dazu beitragen, ein freies und offenes Web zu verwirklichen. Auch die Bundesregierung hat sich früh dazu bekannt, den „Vertrag für das Web“ zu unterstützen. Sie hat sich verpflichtet, die Grundsätze einzuhalten.

Der Vertrag versammelt neun Grundsätze, drei für Regierungen, drei für Unternehmen und drei für Bürger und zivilgesellschaftliche Gruppen.

Regierungen haben sich mit ihrer Unterzeichnung verpflichtet,

  • allen einen Zugang zum Internet zu ermöglichen,
  • den Internetzugang jederzeit für alle zu gewährleisten,
  • für einen wirksamen Schutz der Privatsphäre und der persönlichen Daten zu sorgen.

Das erste Prinzip soll eine schnellere und flächendeckende Versorgung mit der technischen Infrastruktur fördern. Die beiden anderen Prinzipien zielen besonders darauf ab, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen und durchzusetzen, zum einen für einen Netzzugang, der die Menschenrechte wahrt und den freien Wettbewerb sichert, zum anderen für eine Beschränkung des Zugriffs auf persönliche Daten nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

Unternehmen verpflichten sich im wesentlichen den gleichen Regeln. Auch sie sollen ihren Teil aktiv dazu beisteuern, das Internet allen zugänglich zu machen und die Privatsphäre zu respektieren. Sie sollen Technologien entwickeln, die das Netz als öffentliches Gut stärken, das humanen Zwecken dient. Bei Entwicklung und Betrieb sollen sich alle gesellschaftlichen Gruppen einbringen können. Sie sollen sich dem Open Web verpflichten und in digitale Gemeingüter („digital Commons“) investieren, so Prinzip 6.3. Wörtlich heisst es dort:

Upholding and further developing open Web standards.

Promoting interoperability, open-source technologies, open access, open knowledge, and open data practices and values.

Ensuring that the terms of service, interfaces and channels of redress are accessible and available in local languages and properly localized, use formats that allow, encourage, and empower a diverse set of users to actively participate in and contribute to the commons, including open and free culture, science, and knowledge.

Interessant ist, wie der Vertrag bürgerschaftliches Engagement für ein offenes Web mobilisieren will. Wer als Bürger unterzeichnet, verpflichtet sich, für das offene Web zu kämpfen, sich kreativ und aktiv in das Netz einzubringen, so dass es für alle weltweit und auf Dauer eine öffentliche Ressource bleibt. Sie verpflichten sich, für die Nutzung offener Standards einzutreten und Praxiserfahrungen mit anderen zu teilen. Der Vertrag ruft zur aktiven Bürgerschaft im Netz auf.

Die Veröffentlichung soll nur ein erster Schritt sein auf dem Weg zu einer sicheren Online-Welt für alle, die zu gemeinsamem Lernen und zur Zusammenarbeit einlädt. Im nächsten Schritt sollen nun Experten an Lösungen der erkannten Probleme arbeiten.

Hier ist der Contract for the Web im Wortlaut.

II

Bei aller Ambition der Prinzipien bleibt der Vertrag seltsam unverbindlich. Mögliche weitere Schritte werden nur angedeutet. Wie die Prinzipien des Vertrags den weiteren Prozess tragen oder tragen könnten, bleibt unbeantwortet.

Die Begeisterung, die Tim Berners-Lee 2009 in diesem TED-Vortrag noch ausgestrahlt hat, ist heute kaum mehr zu spüren.

Berners-Lee hatte damals eine Vision, die sich aus dem riesigen Potenzial und der Vielfalt der Daten schöpfte.

Es ist absolut wichtig, dass es das Web erlaubt, alle Arten von Daten einzustellen. … Wir könnten über Regierungsdaten sprechen. Unternehmensdaten sind wirklich wichtig. Es gibt wissenschaftliche Daten und persönliche Daten. Es gibt Wetterdaten, Daten über Ereignisse, über Vorträge, über Nachrichten und all diese Dinge. Ich werde nur ein paar davon erwähnen, so dass Sie eine Vorstellung von der Vielfalt und dem vorhandenen Potenzial erhalten.

Die Begeisterung für das Daten-Web und Open Data war nach fünf Jahren verflogen. 2014 setzte sich Tim Berners-Lee in einem weiteren TED-Vortrag nicht mehr mit den Chancen, sondern mit den Bedrohungen auseinander, denen sich das offene Netzes ausgesetzt sieht, mit Social Media als Silos, mit der Überwachung im Netz, mit der Zensur und mit dem Aufspalten des Internet in nationale Intranets auseinander. Damals kündigte er eine Magna Charta für das Web an. Vermutlich ist der Contract nun nach Jahren das Ergebnis.

Der Contract bleibt an der Oberfläche. Er hinterfragt die wirkende Logik des Netzes nicht, sondern begnügt sich mit Korrekturen der ursprünglichen Idee des WWW. Aktuelle Krisenerscheinungen, allen voran die Klimakrise, spielen überhaupt keine Rolle. Die Bedrohung der demokratischen Grundordnung durch Überwachung, unautorisierter Auswertung unserer persönlichen Daten und Manipulation unseres Verhaltens scheint nur indirekt auf. Es dürfte den beteiligten Unternehmen leicht gefallen sein, sich zu den Grundsätzen zu bekennen. Facebook und Co. müssten – wenn sie den „Vertrag“ ernst nähmen – ihr Geschäftsmodell aufgeben. Sie konnten die Aktion als willkommene Image-Förderung mitzunehmen.

Die NZZ fragt sich in einem Kommentar, ob Berners-Lee das Handtuch geworfen hat. Jedenfalls haben seine Prominenz und die Qualität des „Vertrags“ nicht ausgereicht, um ihm eine anhaltende Aufmerksamkeit zu bescheren und nachvollziehbare Aktionen auszulösen. Es ist auffällig ruhig um sein ehrgeiziges Projekt Solid geworden, mit dem er vor Jahren einen Gegenentwurf zu den Datensilos entwickeln wollte.

III

Wie der Verhaltenssteuerung entgegenwirken? Wie das Potenzial eines offenen Netzes entfalten? Technikregulierung? Oder hoffen auf den aufgeklärten Bürger, der auf offene Plattformen setzt, oder, wie Maximilian Becker in einem Blog-Beitrag auf iSights vorschlägt, an Verbraucher appellieren, die technische Herrschaft über das eigene Leben und die Übersetzung analoger Freiheiten in die digitale Welt zu verlangen. Fragt sich, von wem, wenn sowohl die großen Internet-Konzerne und Betreiber von digitalen Plattformen, als auch die Gesetzgeber den Begehrlichkeiten der Verhaltenssteuerung von Nutzern und Bürgern erliegen.

Kürzlich hat Brittany Kaiser, die Whistleblowerin der Manipulationspraktiken von Cambridge Analytica, für die Initiative #OwnYourData geworben. Datenrechte müssten rechtlich durchsetzbar sein, ähnlich wie es für Eigentumsrechte üblich sei. Aber wie kann man die Akteure im Internet zu ethischem Verhalten verpflichten? Sie setzt ihre ganze Hoffnung auf Blockchain-Technologie, um den Bürgern die Hoheit über ihre Daten zurückzugeben. Die Erlaubnis, persönliche Daten zu verwenden, müsse ähnlich funktionieren, wie eine Wohnung über AirBnB zu vermieten. Der Mieter müsse sich ausweisen, sagen, wie lang der die Wohnung mieten wolle und entsprechend dafür bezahlen.

Einen wesentlichen Schritt weiter geht Dirk Helbing mit seinem Projekt FuturICT. Ihm geht es darum, die Demokratie in der digitalisierten Welt grundlegend neu zu denken. Die Vision einer digitalen Demokratie, wie er sie mit anderen vor einigen Jahren im Digitalen Manifest und im Papier Build Digital Democracy beschrieben hat, wird nun konkreter. Seit kurzem liegt das Konzept FuturICT 2.0 vor. Es beschreibt, wie eine nachhaltige digitale Gesellschaft mit einem sozioökologischen Finanzsystem verbunden werden kann. In einem Interview mit Sibylle Berg hat er kürzlich sein Bild eines demokratischen Kapitalismus kürzlich.

Wirkungsvolle Massnahmen gegen das drohende Systemversagen wären: 1. Ein Grundeinkommen zur Existenzsicherung. 2. Crowdfunding für alle, Wettbewerb und Breiteninnovation. 3. Ein multidimensionales Koordinationssystem zur Lösung des Nachhaltigkeitsproblems. 4. Digitale Demokratie zur Förderung kollektiver Intelligenz. 5. Städtewettbewerbe zur Lösung der Weltprobleme.

Auch dieses Konzept setzt auf neue technologische Möglichkeiten, bindet diese aber ein in ein soziales, ökonomisches und politisches Konzept. Es verknüpft Blockchain und Internet der Dinge (IoT) mit Erkenntnissen der Komplexitätsforschung.

Diese beiden Beispiele stehen für eine Bewegung, die Hoffnung gibt, dass es doch noch gelingt, ein offenes Netz zu realisieren, das geeignet ist, die kollektive Intelligenz zur Lösung der Krisen unserer Zeit zu entfalten. Die Bewegung für das offene Netz hat mit vielfältigen Herausforderungen zu kämpfen. Open-Data-Projekte zum Beispiel kommen oft über den Status von Prototypen nicht hinaus, weil die Ressourcen für die Skalierung, Professionalisierung und die Aufrechterhaltung des Dauerbetriebs fehlen. Das Geld ist da, nur woanders, meint Ernesto Ruge von Binary Butterfly.

Dennoch sollte man die Chance auf eine positive Entwicklung nicht unterschätzen. Die aktuelle Corona-Pandemie bietet eine gute Gelegenheit, die sozialen Muster genauer zu beobachten, die unser Zusammenleben prägen. Otto Scharmer meinte kürzlich, Spuren zu erkennen, die auf ein Anwachsen datengetriebener Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl hindeuten.

Mehr dazu siehe
Manifeste (1): Das digitale Manifest
Manifeste (2): Die Digitalcharta
Manifeste (3): Petersberger Erklärung
Manifeste (5): The Onlife Manifesto

Unternehmensmodelle im Wandel (20): New Work nach Fridtjof Bergmann

Kürzlich hat Gunnar Sohn in einem Blogbeitrag auf eine Rezension hingewiesen, die er 2005 für den Deutschlandfunk produziert hat. Es ging um ein Buch, das sich mit der Zukunft der Arbeit befasste. Der Autor war Fridtjof Bergmann, Vordenker der New-Work-Bewegung. Das hat mich neugierig gemacht. So bin ich auf ein Interview (veröffentlicht in Der Bund in Teil 1 und Teil 2) gestoßen, das Michael Morgenthaler 2017 mit Bergmann geführt hat.

Bergmann äußert sich kritisch zur Diskussion über Neue Arbeit, wie er sie auf einer Tagung erlebt hat. Es sei sehr viel über Führungstechniken und Organisationsfragen gesprochen worden, über Wege, wie Unternehmen ihre Arbeitskräfte noch besser domestizieren und ausbeuten könnten. Ihm geht es jedoch ganz grundsätzlich um das Verständnis von Arbeit.

Es ist mir ein Rätsel: Die grosse Mehrheit der Menschheit lässt sich verführen, eine Arbeit zu verrichten, die sie müde macht und klein hält, um dann Dinge zu kaufen, die sie nicht braucht. Wir hätten dank des technologischen Fortschritts die Möglichkeit, mit wenig Aufwand die Dinge herzustellen, die wir zum Leben brauchen, und die Armut weltweit abzuschaffen. Stattdessen strampeln wir uns, angetrieben von Konsum- und Wachstumswahn, in sinnentleerten Jobs müde, verbrauchen Ressourcen im Übermass und verschärfen die Kluft zwischen Reich und Arm. 

Diese Kritik trifft einen Nerv, weil ja nicht nur wegen der zunehmenden Automatisierung mit einem sinkenden Bedarf an menschlicher Arbeit zu rechnen ist, sondern weil uns die Klimakrise vor Augen führt, dass viel Arbeit in der Konsum- und Wegwerfgesellschaft nur der kurzfristigen Profitorientierung dient, ohne Rücksicht auf Bedarfe der Menschen heute und der zukünftigen Generationen.

Die Alternative, die Bergmann sieht, ist freilich nicht so einfach zu haben. Denn letztlich ist sie mit einer Abkehr von der bisherigen Logik des Wirtschaftens verbunden.

Die «Neue Arbeit» hat drei Pfeiler: Erstens sollen Menschen herausfinden, was sie «wirklich, wirklich tun wollen» und darin unterstützt werden, mit ihrer Berufung Geld zu verdienen. Das bedingt auch, dass sich unser Schulsystem viel konsequenter auf Potenzialentfaltung konzentriert statt die jungen Menschen fit zu machen für einen Arbeitsmarkt, den es nach deren Schulabschluss so gar nicht mehr geben wird. Zweitens sollen die Dinge des täglichen Gebrauchs in regional organisierten Gemeinschaften hergestellt werden, wie das etwa beim Urban Gardening oder in Reparaturwerkstätten schon passiert. Und drittens sollen genossenschaftlich organisierte Unternehmen aufgebaut werden, in denen die Menschen nicht nur Angestellte, sondern auch Unternehmer sind. 

Praktische Ansätze für seine Vorstellung der Arbeit in der Zukunft sieht er z.B. in der freien Softwareentwicklung, bei Stiftungen, zu meiner Überraschung aber auch bei Google. Die Tatsache, dass die Google-Mitarbeitenden aufgefordert sind, einen Tag pro Woche eigene Projekte zu verfolgen, ist ihm schon genug Indiz für neue Arbeit, auch wenn Google zwei dieser drei Kriterien für neue Arbeit ganz offensichtlich verfehlt. Bergmann optimistisch:

Die Zeit, in der die Wirtschaft diktierte, welche Jobs es gibt und welche Produkte wir kaufen, neigt sich dem Ende zu. Je mehr Arbeit uns von Maschinen abgenommen wird, desto wichtiger werden Fähigkeiten wie Kreativität, Kooperation und Empathie.

Mir scheint gleichwohl, dass damit der Bruch im Dialog um die Arbeit der Zukunft und die Zukunft der Arbeit deutlich angesprochen ist. Vielleicht braucht es neue regionale Formen der Organisation, neue genossenschaftliche Unternehmensverfassungen, in denen sinnvolle Arbeit viel direkter aus dem konkreten Bedarf „vor Ort“ hergeleitet werden kann und die Bedingungen der Arbeit am Schutz von Klima, Umwelt und Artenvielfalt ausgerichtet werden.

II

Der New-Work-Experte Markus Väth hat sich intensiv mit dem Werk von Bergmann auseinandergesetzt. Er erläutert in diesem Video die Eckpunkte der „Sozialutopie“ von Bergmann:

  • Radikale Kürzung der Lohnarbeit
  • Arbeit, die Du „wirklich, wirklich“ willst
  • Wirtschaft des minimalen Kaufens

Väth schlägt vor, wie diese Utopie mit den Wirtschaftsunternehmen „versöhnt“ werden kann, ohne in die Falle der isolierten Einführung neuer Methoden, wie z.B. Agilität, zu tappen. Er regt an, die Parallelen des philosophischen Urkonzepts mit der heutigen Wirtschaft ausfindig zu machen. Seine Gedankenkette geht von Freiheit (wie sie Bergmann meinte), über Selbstverantwortung, Sinn und Entwicklung zur Sozialverantwortung. Wenn man so tut, als seien dies die Prinzipien für New-Work-Unternehmen, dann entsteht die Vision eines Unternehmens, das nicht länger eine schädliche, sondern eine „heilende Wirkung“ ausstrahlt, so Väth. Entscheidend sei letztlich, ob jeder von uns ganz praktisch anfängt, die Utopie in unserem Unternehmen lebendig werden zu lassen.

Während Bergmann eine Utopie formuliert, die einerseits den Einzelnen als Akteur sieht, der durch Selbstreflexion neue Wege für sich persönlich sucht, andererseits auf eine dezentrale, solidarische Wirtschaftsordnung setzt, haben wir es bei Väth mit einer verkürzten Utopie zu tun, bei der die Prinzipien innerhalb bestehender Organisationsstrukturen und Unternehmensverfassungen gelebt werden sollen.

III

Ein ganz anderes Bild entsteht, wenn man mit dem Berliner Wirtschaftssoziologen Philipp Staab betrachtet, wie sich die Logik der neuen proprietären Märkte, die von den Digitalkonzernen und Plattformbetreibern kontrolliert werden, auf die Arbeitswelt auswirkt. Im Interview legt er seine Beobachtungen dar.

Wechselseitige Bewertung und Tracking sind heute gelernt und eingeübt. Das Prinzip, das die Digitalkonzerne auf ihren Plattformen flächendeckend verbreitet haben, macht sich auch innerhalb von Unternehmen breit. Es ist zum Vorbild für die Restrukturierung von Arbeitszusammenhängen geworden. Das Feedback- und Bewertungssystem Zonar bei Zalando sei nur ein Beispiel von vielen. Ähnlich seien in den Softwareanwendungen häufig auch Tracking-Funktionen eingebaut und würden von den Unternehmen benutzt, ohne schon genau zu wissen, was man mit den Datenmengen anfangen will.

Staab unterscheidet in der digitalen Arbeitswelt der Plattformökonomie zwischen den wenigen Zentren, in denen hochqualifizierte, kreative Arbeit geleistet wird mit vielen Benefits und wenig Kontrolle, und der Peripherie, den Produzenten, die auf diese proprietären Märkte angewiesen sind. Auf ihnen laste ein hoher Druck, immer mehr aus der Arbeit herauszupressen.

Wenn man sich die langfristige Entwicklung anschaue, dann sei ein stetiger Zugewinn an Bürgerrechten zu erkennen, der zuletzt auch die Arbeitswelt, etwa als Mitbestimmungsrechte, erfasst habe. Diese Entwicklung stagniere in den letzten Jahrzehnten oder sei sogar zurückgedreht worden. Nur als Konsumenten und Verbraucher hätten wir in jüngerer Vergangenheit Zugewinne zu verzeichnen. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit wüte mittlerweile in uns selbst.

Staab schlägt vor, das Selbstverständnis vom Verbraucher wieder mehr zum Bürger hin zu lenken. Es gelte, das Bewusstsein bei den Bürgern zu schärfen, dass die gegenwärtige Entwicklung mit fundamentalen Verlusten historisch erkämpfter Anrechte verbunden ist. Voraussetzung dafür sei, den Dialog über die Zwecke des Wirtschaftens zu beleben. Die Digitalkonzerne haben uns gezeigt, wie man Märkte gestalten kann. Europa hat die große Chance, diese Gestaltungsfähigkeit aufzugreifen und an anderen, nämlich bürgerschaftlichen und demokratischen Zwecken, auszurichten. Jetzt heisst es, Ernst machen mit den drängenden zivilgesellschaftlichen, demokratischen Zielen, die da heißen: Schutz der Privatsphäre und Klimaschutz.

Vor diesem Hintergrund würde, so meine ich, auch die Debatte um New Work wieder mehr Sinn erhalten.