Was gute Führung ausmacht (23): Climate Leadership

Lange Jahre konnte man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass sich die Unternehmen und die Verantwortlichen in der Wirtschaft der Klima- und Biodiversitätskrise durch Ignorieren entziehen wollten. In letzter Zeit mehren sich jedoch die Stimmen aus der Wirtschaft, die es mit der sozial-ökologischen Transformation ernst meinen und erkennen, dass sie ihr Unternehmen aktiv den Bedingungen der Erdverbundenheit anpassen müssen. Ist ein solcher für viele Akteure der Wirtschaft radikaler Wandel mit herkömmlicher Führung zu schaffen? Oder brauchen wir ein „Climate Leadership“?

I

Der Klimaforscher Michael Mann und der Wirtschaftswissenschaftler Thomas S. Bateman haben in einem Kommentar ihre Sicht auf die Führung unter den Bedingungen der derzeitigen und zukünftigen ökologischen Katastrophe dargelegt. Sie fordern mehr „Klimaführung“. Es sei unerlässlich, klügere Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen, schreiben sie, weniger autokratische Entscheidungen, dafür mehr Kontakte zu sachkundigen Interessengruppen.

Sie erkennen die Bedeutung des bewussten Umgangs mit der Komplexität der von der Physik und vom Menschen geprägten Ökosysteme. „We should think of leadership as a few top leaders plus a broader social attribute of a system — a widespread network of authorized and informal influencers and interconnected subsystems,“ so stellen sie den Netzwerk-Gedanken in den Mittelpunkt. Zusammenarbeit über etablierte Grenzen hinweg ist gefragt.

We need more climate leaders.

Sie betonen drei entscheidende Führungsmaßnahmen:

  • Brücken bauen, indem man künstliche Silos aufbricht und vielfältige, hochwirksame Koalitionen schmiedet. Ihnen schweben Beispiele vor, die Grenzen überwinden, wie etwa die Region der Großen Seen oder die Zusammenarbeit in Wassereinzugsgebieten oder die Zusammenarbeit von Umweltschützern und Gewerkschaften.
  • Einbindung relevanter Stimmen außerhalb der inneren Kreise. Sie denken dabei etwa an die überragende Macht der Fossilindustrie auf der COP-28 und anderen Treffen im Vergleich zur Machtlosigkeit des globalen Südens und anderer stark betroffener Bevölkerungsgruppen oder an die Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften bei der Entscheidung über die Holzernte, der Wiederherstellung von Flüssen oder der Rückgabe von Land.
  • Denken und Handeln im Namen der Zukunft. Ihnen schwebt vor, die Zukunft nicht länger zu vernachlässigen und den wahrscheinlichen langfristigen Folgen unserer Entscheidungen Beachtung zu schenken. Zukunft in Entscheidungsprozesse einzubringen, vor allem wenn der Elefant im Raum die nicht diskutierten langfristigen Risiken sind, sei ein entscheidender Akt der Führung, meinen Bateman und Mann.

Jeder Arbeitsplatz ein Klima-Job

Effektive Klima- und Nachhaltigkeitspraktiken seien in fast allen Branchen zu finden. Beispielsweise betrachte das Project Drawdown jeden Arbeitsplatz als einen Klima-Job und betone die Möglichkeiten der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit. Die beiden Autoren setzen auf die wachsende Zahl der Engagierten. Wenn sich mehr Menschen als Klimaschützer verstünden und entsprechend handelten, würde dies unterschiedliche Perspektiven und Lösungen zutage fördern, das Systemdenken stärken, Netzwerke und grenzüberschreitende Kooperationen fördern und disziplinäre, organisatorische oder geografische Silos überwinden.

II

Einen anderen Weg wählt das Institut für Systemische Beratung (ISB), das ein New Leadership Manifest herausgegeben hat. Es geht ebenfalls von der Annahme aus, dass aus der verbreiteten Unsicherheit und Komplexität eine neue Führung oder genauer: eine neue Führungshaltung entsteht. Neben dem Klimawandel und der Anhäufung von Krisen ist es hier die Digitalisierung, die eine neue Führung befördert. Das Manifest möchte diese Entwicklung hin zu einem neuen Führungsverständnis und -handeln mit einem Rahmen unterstützen, der den Dialog anregen und Führungsarbeit fördern soll.

„Leading People“ – Menschen führen oder führende Menschen?

Das Manifest stellt auch den Netzwerkgedanken in den Mittelpunkt. „Sustainable Leadership“, so heißt es hier, „vollzieht sich als begrenzte und geteilte Führungsverantwortung und im Führungsnetzwerk.“ Es scheut sich nicht, Wohlstandsverteilung, Eigentum und Teilhabe wie auch Arbeit und Wachstum als neu zu definierende Themen anzusprechen. Neue Führung stärkt die Kreislaufwirtschaft und eine humane Arbeitswelt. Führung „betrifft uns alle“.

Ambitionierte Sätze, die, wenn sie ernst gemeint sind und von vielen gelebt werden, mit massiven Konflikten und Kämpfen verbunden sind. Wenn die wie auch immer geartete neue Führung zu einem Richtungswechsel im Sinne einer sozial-ökologischen Balance und im Sinne der Verbundenheit der lebenden und nicht-lebenden Akteure in der Kritischen Zone führen soll, dürfte das auf einen Bruch mit dem bisherigen, häufig neoliberal geprägten Verständnis des Wirtschaftens verbunden sein. Oder ist vielleicht ein Übergang zu kooperativen Wirtschaftsmodellen doch in kleinen, überschaubaren Schritten denkbar? Reicht „respecting the planet“ aus, um der ökologischen Dimension allen Lebens und der Vernetzung mit nicht-menschlichen Akteuren in der Biosphäre das nötige Gewicht zu verleihen?

Ähnlich wie Timothy Morton darauf hinweist, dass wir nicht ökologisch werden müssen, weil wir es, egal was wir tun, immer schon sind, so liegt es nahe zu sagen: Leadership war schon immer auch Climate Leadership. Wir müssen es nicht erfinden. Wir sollten Führung und Management zulasten des Klimas und der Biodiversität lassen.

III

Der amerikanische Rechtswissenschaftler und Publizist Jedediah Purdy spricht in seinem engagierten Buch „Die Welt und wir. Politik im Anthropozän“ von drei Szenarien (S. 176f), die für den Umgang mit den Krisen unserer Zeit denkbar seien. Erstens: die Privatisierung. Die Reichen ziehen sich zurück, die Mittelklasse und die Akademiker versuchen, sich zu isolieren, ldie Arbeitenden und die Armen werden krank und sterben. Er sieht dieses Szenario in den USA im Werden.

Das zweite Szenario sieht er als politische Gegenreaktion darauf: ein Katastrophen-Nationalismus. Er liest die Corona-Krise als eine beschleunigte Version der Klimakrise. Die Vulnerabilität und Interdependenz, die in ihr sichtbar geworden ist, verschaffe, so Purdy, „jenen einen politischen Vorteil, die gerade die Hand am Hebel haben“. Er sieht darin ein Standardreaktionsmuster der Politik in einer instabilen Welt voller Gefahren, in der sich staatliche Macht vor allem auf nationaler Ebene auswirke und damit eine ständige Einladung zum Ethnonationalismus darstelle.

Das dritte Szenario: Solidarität. Was einem von uns schade, schade tatsächlich allen.

Im 21. Jahrhundert ist jedes Land darauf angewiesen, dass die ganze Welt zu grüner Energie und grüner Infrastruktur konvertiert und die Wirtschaft so umbaut, dass nicht der prekäre Wettlauf um den nächsten Job, den nächsten Profit, sondern Gesundheitsschutz und Gemeinwohl oberste Prioriät genießen.

S. 177

Eine gewaltige hoch komplizierte Infrastruktur sei nötig, damit wir einander und in letzter Konsequenz der Profitmaximierung dienen können: von Autobahnen über die Kreditmärkte bis zur globalen Handelsordnung. Die Hände und Köpfe, die diese Ordnung errichtet haben, seien zweifellos, so ist Purdy überzeugt, in der Lage, eine andere zu erbauen, in der das Gemeinwohl auf jeder Ebene an erster Stelle stehe: vom Einzelnen über die Gemeinden und das Land bis hin zum gesamten Planeten.

Vielleicht gelingt es tatsächlich, in diesem Sinne ein „Climate Leadership“ zu etablieren, das sich von einer vergleichsweise einfachen Orientierung an maximalen Profiten abwendet und auf die Komplexität eines häufig schwieriger zu greifenden Gemeinwohls einlässt.

Zukünfte (10): Von Grenzen und Faltungen

Caspar David Friedrich, Winterlandschaft, 1811 (Staatliches Museum Schwerin) via Wikicommons

Die Politik hat sich im Ringen um die wirksame Strategie für die Metakrise unserer Tage verheddert. Die eine Regierungspartei setzt auf eine Strategie des grünen Wachstums, die andere weiß nicht, was sie wollen soll und die dritte ist sich mit der Opposition einig und will zurück zu einem fiktiven status quo ante. Einen grundlegenden Kurswechsel, etwa in Richtung Degrowth oder Gemeinwohlökonomie, scheint in der Politik niemand zu wollen. Aber auch die viel beschworene Reduzierung des CO2-Ausstoßes kommt kaum voran. Planetare Grenzen anzuerkennen und die politischen Entscheidungen daran auszurichten, fällt schwer.

Mit dem Modell der planetaren Grenzen hat die Klimawissenschaft eine Orientierung vorgelegt, die den sicheren Handlungsraum beschreibt und den Akteuren jeweils aktuell aufzeigen kann, in welchen Dimensionen die Grenzen gefährdet oder verletzt werden. Das Modell ist jedoch in seiner globalen Dimension weder für die Einzelnen, noch für die institutionellen Akteure direkt handlungsrelevant. Es macht im besten Fall betroffen und nährt im Zweifel das Gefühl, es könnte ohnehin schon zu spät sein. Wie also kann man sich eine andere Politik vorstellen, die der bedrohlichen Klima- und Biodiversitätskrise angemessen ist? Wie wird die Limitierung unseres Lebensraums entscheidungsrelevant?

Politik müsste lernen, harte Grenzen zu setzen, meinte kürzlich der Klimawissenschaftler Anders Levermann in einem RND-Interview. Er ist überzeugt:

Wenn man Grenzen setzt, dann findet die Gesellschaft Lösungen.

Er empfiehlt der Politik, mit Faltungsgrenzen zu operieren. Tatsächlich sei es in Europa genau das, was wir schon machten. Wichtig sei dabei aber: „Wenn wir eine solche Faltungsgrenze einführen, dann nehmen wir die Leute nicht an die Hand und schreiben ihnen auch nicht vor, welchen Weg sie gehen müssen. Wir sagen bloß: ‚Pass auf, in 20 Jahren dürft ihr kein CO₂ mehr ausstoßen.’“ Dann, so Levermanns Überzeugung, würden die Menschen anfangen zu überlegen, wie wichtig ihnen der Auspuff ihres Autos ist. Industrieunternehmen würden ihre Strategie ändern. Die Autokonzerne, so Levermann mit leicht sarkatischem Unterton, dürften sehr gerne an der E-Fuel-Technologie weiterarbeiten, wenn sie dann auch bereit seien, in 20 Jahren, wenn sie kein CO2 mehr ausstoßen dürften, zu kollabieren. Faltungsgrenzen seien also kein Freibrief für absolute „Technologieoffenheit“, die doch nur proklamiert werde, um dem Staat Gelder für veraltete Strategien zu entlocken.

Faltung ist ein Konzept aus der Chaostheorie. Faltung entsteht, wenn man ein System, das sich entwickeln möchte, in einen endlichen Raum einfängt. Harte Grenzen führen zu Richtungsänderungen. Dieses Konzept lässt sich auch auf die Menschheit übertragen, die es mit planetaren Grenzen zu tun hat, sich gleichzeitig aber weiterentwickeln und verändern möchte. Levermann hilft uns mit seinem Modell der Faltung, so mein Eindruck, uns ein Leben vorstellbar zu machen, das die Grenzen respektiert. Die Richtungsänderungen bewirken erst die Kreativität, die wir für einen ökologischen Lebensstil brauchen. Entwicklung ist auch dann möglich, wenn wir uns von der gescheiterten Idee des immerwährenden und grenzenlosen Wachstums verabschieden. So überzeugend das Konzept klingt, so klar dürfte gleichwohl sein, dass Faltungsgrenzen durchzusetzen ohne harte Kämpfe und ein schmerzhaftes politisches Ringen kaum denkbar sein dürfte. Die Parteien müssten über ihren machtpolitischen Schatten springen und sich über Parteigrenzen hinweg auf die Durchsetzung von Grenzen verständigen. Als politische Absichtserklärungen bestehen ja solche Ziele, man denke vor allem das Netto-Null-Ziel für 2045. Sie bieten jedoch wenig Orientierung für Verhaltensänderungen, in der Politik oder im alltäglichen Leben, solange es sich parteipolitisch immer wieder lohnt, politischen Absichtsbekundungen oder gar verbindliche Beschlüsse infrage zu stellen, zu ignorieren oder aufzuweichen. Viele Politiker scheinen immer noch von der Überzeugung geprägt zu sein, dass uns genügend Zeit bleibe, um die Probleme zu lösen.

Zukunft als Faltung

Auch wenn die Politik die Zeichen der Zeit nicht erkannt zu haben scheint, ist es dennoch möglich, dass sich ein Umdenken und ein Richtungswechsel durchsetzt. Denn die Zukunft selbst hat eine Grenze erhalten. Darauf hat der Historiker Dipesh Chakrabarty kürzlich im SRF-Gespräch bei Sternstunde Philosophie aufmerksam gemacht.

Menschen müssen, anders als früher, heute ihre Belange über verschiedene Zeithorizonte organisieren. Noch bei Gründung der Vereinten Nationen herrschte, so Chakrabarty, die Vorstellung, dass genügend Zeit zur Verfügung stehe, die Probleme zu lösen. Die Zukunft schien weit offen und wir dachten, wir würden unsere Probleme abarbeiten können.

Bei der Klimakrise ist die Zukunft nicht weit offen. Bleiben wir untätig, wissen wir, dass die Erderwärmung zunehmen und die Welt in einen Zustand versetzen wird, in dem wir nicht mehr existieren können. Die Zukunft hat eine Grenze erhalten.

Es klingt paradox. Weil die Zukunft begrenzt ist, müssen wir in viel größeren Zeitdimensionen denken. Chakrabarty zitiert Reinhard Koselleck und dessen Vorstellung von der modernen Zeit, wie er sie in seinem Buch Neuzeit dargelegt habe. Die Kluft zwischen dem menschlichen Erfahrungsraum, wie ihn der Einzelne erlebt, und dem Erwartungshorizont, also dem, was der Einzelne von der Zukunft erwartet, werde größer. Früher gingen die Menschen davon aus, dass die Welt für ihre Enkelkinder genau so sein würde. Mit der Technik und Urbanisierung merkt der Mensch plötzlich, dass er nicht mehr sagen kann, was seine Enkelkinder erleben werden. Heute wissen die Menschen: Wenn ich nichts tue, werden meine Enkel leiden.

Der Mensch musste mit der Technisierung lernen, mit unterschiedlichen Zeitskalen umzugehen. Mit der präzisen Berechnung von Zeittiefen seit der Möglichkeit der Kohlenstoffdatierung oder der Ermittlung der Halbwertszeit von radioaktivem Abfall öffnen sich verschiedene Zeitregime. Heute hat es der Mensch mit vielen Zeithorizonten zu tun.

Wieviel Zeit gibt uns der Planet, bis wir unser CO2-Budget aufgebraucht haben?

Wir müssen unsere Gesellschaften heute über verschiedene Zeithorizonte organisieren. Wir haben wenig Zeit. Deshalb müssen wir in größeren Zeitdimensionen denken. Das ist die Paradoxie, die Menschen zu einem Richtungswechsel bewegen könnte.

Noch etwas anderes legt uns Chakrabarty dringend ans Herz. Jeder Mensch sollte die Grundlage der Ökologie verstanden haben, die Abhängigkeit menschlichen Lebens von anderen Leben. Das bei vielen begrenzte Wissen über die ökologischen Zusammenhänge und über das Erdsystem wirkt heute wie eine negative Faltung. Es lenkt unsere alltäglichen und langfristigen Entscheidungen in die falsche Richtung.

Vielschichtige Faltungen

Bruno Latour bringt in einem Essay mit dem Titel Triangulierung eine etwas andere Sicht auf die Faltungen ins Spiel. Er versucht, politische Positionen der Gegenwart topologisch zu denken. Er schließt dabei an das moderne Fortschrittsdenken an, das sich als Kontinuum zwischen zwei Polen denken lässt. Da ist zum einen der Horizont der technischen und ökonomischen Entwicklung oder eines „Globalen“, in dem sich alle wiederfanden. Mit dem Pariser Klimaabkommen hätten sich alle versammelten Staaten jedoch – zumindest für einen Moment – der Einsicht gefügt, dass ihre Entwicklungsziele in den Grenzen dieses einen Planeten nicht realistisch waren.

Diese Einsicht hat den Trott des business as usual jedoch keineswegs erschüttert. In vielen Staaten, die das Abkommen unterzeichnet haben, sind politische Bewegungen entstanden, die sich nicht mehr an dem Ziel des „Globalen“ ausrichten, sondern an vermeintlich spezifischen Zielen für das eigene Land. Es entstehe, so Latour, mehr oder weniger ähnlich in den einzelnen Ländern der Trend, zum Alten zurückzukehren und sich zum „Land“ zurückzuziehen, in dem man Schutz und Frieden zu finden glaube. Weder das Ziel des „Globus“ noch des „Lands“ sei für uns länger erreichbar.

Die Linie der Modernisierung bestimmt die Richtung, auf der sich die Akteure bewegen, die einen „vorwärts“ in Richtung „Globus“, die anderen „rückwärts“ in Richtung „Land.“ Latour plädiert deshalb dafür, jenseits dieser beiden widerstreitenden Pole einen dritten Attraktor, den er „Erde“ oder „Gaia“ nennt, zu bestimmen. Dazu sind die Unterschiede zu beschreiben, die die beiden Achsen zwischen „Globus“ und „Erde“ sowie zwischen „Land“ und „Erde“ prägen. Den Planeten als Globus können wir nicht überblicken. Wir nehmen eine „gottähnliche“ Position, einen Blick aus dem Nirgendwo, für uns in Anspruch, aus dem wir nichts erkennen können.

Wenn wir den Planeten als „Erde“ oder „Gaia“ betrachten, dann haben wir es, so Latour, mit einer „dünnen Schutzmembran“ zu tun, die die Geowissenschaftler „Kritische Zone“ nennen: „geschichtet, niemals flach, in 3D zu sehen und immer seitwärts gelagert, ohne dass man jemals eine ganzheitliche Vorstellung gerwinnen könnte.“

Und der forschende Blick, mit dem die hier sichtbaren und denkbaren vielfachen Faltungen der Erdoberfläche entdeckt werden, ist immer vom Standort der Vermessungsinstrumente abhängig. Für alle und alles, was hier lebt, alles Irdische, ist keinerlei gegen Unendlich sich fortsetzende Bewegung anzunehmen.

Latour, Triangulierung, S. 34

Es gibt somit kein Entrinnen, etwa in ein unendliches Wachstum. Der limitierende Faktor ist aber zugleich auch nicht die kritische Zone an sich. Das sind, so Latour, die vielschichtigen Faltungen, die charakteristisch für die „Erde“ sind und die immer wieder für Überraschungen sorgen. Wir können den Horizont nicht erreichen. Mit jeder Bewegung, mit jedem Schritt zieht er sich zurück.

Aber auch das Ziel, zurückzukehren zum „Land“ als Gegenbewegung zum Streben in Richtung „Globus“, erweist sich als Irrweg. Das „Land“, so betont Latour, ist immer eine rückblickende Erfindung. Er sieht dahinter eine überkommene Naturauffassung, die derart umfassend und überwältigend ist, dass man sich nicht mehr vorstellen kann, wie man darin leben soll.

Es kommt darauf an, dass wir aus der Natur im universalen Verständnis einen kleinen Bereich, die „kritische Zone“, die den Planeten umhüllt, als Medium zum Schutz künftiger Lebensformen absondern, und uns für den Lebensbereich interessieren, in dem wir existieren und uns entfalten. Latour zeigt sich überzeugt:

Es gibt eine Bereitschaft, unser Dasein neu zu erfinden: wie wir essen und trinken, unseren Alltag bestehen, unsere Städte bauen, unsere Körper in Form bringen, unsere Kinder erziehen, unsere Landschaften bewahren, den Boden bestellen und vieles mehr.

S. 41

Wenn also die Faltungen im Sinne einer neuen Orientierung wirken sollen, ist es wichtig, gewahr zu werden, dass die alten Orientierungen im Grunde nicht mehr existieren: die eine, weil die Orientierung aufs unendlich Ferne sich als falsch erwiesen hat, und die andere, weil das unmittelbar Gegenwärtige ein falsches Versprechen ist.

Es ist an der Zeit, dort zu landen, down to earth, wo die unbegrenzte, vielfach gefaltete „Erde“ wiederzuentdecken ist.

S. 42

Dann verändert sich auch die Politik. Politiker und Bürger fangen an, Listen ihrer relevanten Faltungen zu erstellen und ihre Ziele und Entscheidungen an diesen Faltungen auszurichten. Diese Neubestimmung der Grenzen ist mit sozialen Brüchen verbunden. Deshalb wird man es sich als ein mühsames und konfliktträchtiges Ringen vorstellen müssen. Wenn Politik Faltungen verbindlich macht, dann geschieht dies durch Konsens, der im demokratischen Prozess, im zähen Ringen der Zeithorizonte sich herausbildet.


Mehr dazu:

Zukünfte (2): Verzicht, Genügsamkeit, Unterlassen
Zukünfte (4): Entsteht eine ökologische Klasse?
Zukünfte (5): Der Mensch als Natur

Zukünfte (9): Klimapositiv bauen – Rekonstruktion durch Konstruktion

„Die Klimakommunikation ist auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt“, meinte der renommierte Klimaforscher und Erdsystemwissenschaftler Hans Joachim Schellhuber in diesem Vortrag, den er kürzlich vor dem Freiburger Architekturforum gehalten hat. Dabei gäbe es doch Wichtiges und Dringliches zum Klimaschutz sagen, wie sein sehens- und hörenswerter Vortrag beweist. Er zeigt überaus deutlich, wo es klemmt, und er zeigt einen Weg auf, wie wir langfristig wieder zu den erträglichen und angenehmen Lebensbedingungen des Holozän zurückfinden könnten – sofern wir heute etwas tun.

I

Die Weichen werden jetzt gestellt, betont Schellhuber in seiner ausführlichen Situationsanalyse, die das große Ganze in den Blick nimmt und die Folgen der Klimakrise ungeschminkt beschreibt. Was jetzt falsch geplant wird, wird uns in den Abgrund führen, zeigt er sich mit Blick auf die gebaute Umwelt überzeugt. „Was jetzt richtig geplant und konsequent umgesetzt wird, gibt uns noch eine signifikante Chance, unsere Zivilisation durch dieses Jahrhundert und ins nächste hineinzuführen.“

„For the many and not the few“

Schellnhuber verweist auf die EU, die das Problem erkannt habe und die Initiative New European Bauhaus auf den Weg gebracht habe. „Wir müssen jetzt so bauen, dass wir nicht nur die Eliten bedienen, sondern für alle Wohnraum schaffen.“ Ähnlich wie das Bauhaus 1919 solle auch das europäische Bauhaus einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und alle Gewerke zusammenzubringen. Die Mittel der Zeit waren damals Stahl, Beton, Glas. Nach dem 2. Weltkrieg sei die klassische moderne Architektur zum Brutalismus pervertiert worden und herrsche im globalen Süden immer noch vor, beklagt Schellnhuber. In China sei in den vergangenen fünf Jahren mehr Beton verbaut worden, als in den USA im ganzen 20. Jahrhundert. Zugleich verfügten die meisten Menschen weltweit über eine schlechte Behausung, wenn überhaupt.

Walter Gropius und die Protagonisten des Bauhauses würden heute die Grundidee, für alle zu bauen, wiederbeleben, vermutet Schellnhuber, und sie würden sie ins 21. Jahrhundert bringen. Ein Zukunftslabor in diesem Sinne war im vergangenen Jahr mit der Architektur-Biennale in Venedig zu erleben.

Ein „Potpourri des Grauens“

Schellnhuber erspart den Auditorium die Fakten und Perspektiven der Erderhitzung nicht. Die Katastrophenereignisse haben eine neue Qualität erreicht, wie etwa an dem Wirbelsturm im Mittelmeer zu sehen war, der die Libysche Küste verwüstet hat. Er sei auf die extreme Erwärmung des Meeres zurückzuführen ist.

„Wir verlieren die Geborgenheit in einer vertrauten Umwelt“

Jetzt verlasse der Mensch das Holozän, das Zeitalter, in dem er Geborgenheit in der Natur gefunden habe. Zu verdanken hatte er dies der außergewöhnlichen Phase von 12.000 Jahren Klimastabilität. Deshalb konnte sich überhaupt Landwirtschaft herausbilden. Wohin geht die Reise nun? Gehen wir in ein Super-Holozän, in der es zwar wärmer wird, wir uns aber neu einrichten können? Oder gehen wir in eine Welt, die wir nicht mehr beherrschen können?

Schellnhuber weist darauf hin, dass das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 völkerrechtlich verbindlich beschlossen wurde. Trotzdem entspricht unsere bisherige Klimaschutzgesetzgebung dem Abkommen bisher nicht. Wenn die Kippelemente im Erdsystem zerstört werden, wird das gesamte Erdsystem neu organisiert in einer Weise, dass sie eine Zivilisation mit 10 Millionen Menschen nicht tragen kann. Zwei Grad bildet eine äußerste Grenze. Jenseits häufen sich die disruptiven Ereignisse. Die roten Linien, die uns vor dem Abgrund warnen, verdichten sich.

Wo können wir leben? Schellnhuber hat zu dieser drängenden Frage mit dem Erdsystemwissenschaftler Tim Lenton und anderen eine Studie erarbeitet, die Szenarien untersucht hat, wo Überleben physiologisch möglich ist, wenn das Klima heisser und feuchter wird. Wir katapultieren unsere Welt gerade zurück ins Karbon-Zeitalter vor 300 Mio. Jahren, betont Schellnhuber. Damals sei die Welt grün und üppig gewesen. Nur, der Mensch habe in einer Welt mit diesen Klimabedingungen keinen Platz. Bei den jetzigen Politikmaßnahmen wird das Klima im Jahr 2100 um 2,7° erhitzt sein. Ein Drittel der jetzt bewohnten Welt wird dann unbewohnbar sein. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung wird dann, so zeigt die Studie, dort nicht mehr leben können. Die ZEIT hat die Ergebnisse dieser Studie anschaulich visualisiert.

Wie drängend die Lage mittlerweile ist, zeigen die Werte des globalen Klimas von 2023. Alle Leitindikatoren der Klimaerwärmung haben vergangenes Jahr „verrückt gespielt“, so Schellnhuber wörtlich. Die Klimawissenschaft hat noch keine Erklärung für diese ungewöhnlichen und beängstigenden Höchstwerte. Es sei nicht auszuschließen, dass wir schon jetzt in die große Systemumstellung eingetreten sind. Er beklagt den Anteil der Medien an dieser Entwicklung und bedauert, dass diese Nachrichten in der Tagesschau kaum vorkommen.

II

Wenn alle jetzt geplanten und beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen umgesetzt würden, schwenkten wir auf eine Kurve ein, die 2200 bei 4° liegen würde. „Diese Zukunft müssen wir rekonstruieren“, so Schellnhuber ohne Umschweife. Denn jenseits der 3° sei es unmöglich, eine Zivilisation aufrechtzuerhalten.

Wir müssen deshalb eine Overshoot-Kurve erreichen, die höchstens auf ca. 2,3° ansteigt und dann bis 2200 wieder absinkt in Richtung auf 1° Erderwärmung. Das wäre, so Schellnhuber, eine Temperatur, bei der ein angenehmes Leben für alle möglich ist. Möglich ist diese Absenkung nur durch das Entfernen von CO2 aus der Atmosphäre. Die Phantasien des Geo-Engineerings hält Schellnhuber allerdings für unrealistisch, weil sie viel zu teuer seien und nicht skalierbar.

Organische Architektur

Die entscheidende Botschaft: Es gibt eine skalierbare Lösung, die auf jedem Maßstab funktionieren kann und die im Bündnis mit der Natur geschieht – die Photosynthese. Jedes Leben ist auf ihrer Grundlage entstanden. Die Wälder und Gräser nehmen unseren atmosphärischen Müll und verwandeln ihn in nachwachsende Rohstoffe. Wir können diese Rohstoffe verbrennen, wie wir es nicht nur beim Heizen, sondern auch beim Essen unvermeidlich tun. Wir können sie aber auch stofflich nutzen und so die in ihnen gespeicherte CO2-Menge langfristig der Atmosphäre entziehen. Also sollten wir Möbel aus Holz schreinern und Gebäude aus Holz oder Bambus bauen. Organische Architektur kann, so zeigt sich Schellnhuber überzeugt, die Wertschöpfungsketten weltweit verändern, weil ins Bauwesen das meiste Geld, die meiste Energie und die meisten Materialien fließen. Wir würden mit dieser Demineralisierung des Bauens nebenbei unsere Atmosphäre reinigen.

Eine Studie habe gezeigt, dass 2020 die menschengemachte Masse die lebende Biomasse vor kurzem überstiegen hat. Interessant ist die Zusammensetzung der menschengemachten Masse. Den größten Anteil haben Beton und Ziegel, Asphalt und Metall. „Wir haben seit der industriellen Revolution 1.000 Mrd. t lebende Biomasse massakriert und ersetzt durch 1.000 Mrd. t aggregierter anthropomorpher Stoffe,“ konstatiert Schellnhuber. „Was wäre, wenn wir dieses Verhältnis wieder umkehren würden?“, zumindest insoweit, dass wir geerntete Biomasse in unseren industriellen Metabolismus einbringen würden.

„Gebäude, Städte, Infrastruktur - die mineralisierte Welt reorganisieren“

Wieder aufforsten, nachhaltige Waldwirtschaft betreiben und nach und nach die Städte in gebaute Wälder verwandeln – das ist das Programm. Das Schicksal unseres Lebensraums entscheide sich in der Stadtentwicklung. 80% der Menschen werden in Städten leben. Lagos, Kinshasa und Daressalam werden Ende des Jahrhunderts voraussichtlich die größten Städte sein. Aus welchen Materialien werden sie gebaut sein? „Wenn sie aus Beton gebaut werden, ist das Klimaspiel zu Ende,“ so Schellnhuber deutlich. Es gibt statt dessen überall Formen „vernakulärer“, also traditioneller, lokaler Architektur.

Die Idee ist, die Atmosphäre durch eine permanente „Wald-Bau-Pumpe“ zu reinigen und so die Kreisläufe für das Bau- und Siedlungswesen zu schließen. Das Klima ließe sich wieder herstellen mit der Pflanzung von 500 Milliarden Bäumen und dem Bau von zwei Milliarden Wohneinheiten aus der geernteten Biomasse.

Einstein-Haus in Caputh, 1929 erbaut nach Entwürfen von Albert Einstein und Konrad Wachsmann |
Cornelsen Kulturstiftung, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Im Moment entfernen wir uns von dieser Idee, weil die thermische Verwertung der Biomasse wieder zugenommen hat, z.B. durch Pellet-Heizungen. Dabei gibt es gute Ansätze für das Bauen mit Holz, z.B. Triqbriq, Hausbau nach dem Lego-Prinzip, oder die sozial und ökologisch nachhaltigen Architekturprojekte von Diébédo Francis Kéré.

Unsere Zivilisation werde von Middle Tech geprägt, nicht von High Tech. Ein typisches Beispiel sei der Verbrennungsmotor, bei dem man 80 % der Energie verliere. Wir gehen jetzt in das Zeitalter der Organik, in dem technische und natürliche Lösungen, High Tech mit No Tech, verbunden werden, meint Schellnhuber. Die Leute von Triqbriq verwendeten KI, um ihre Holzbauelemente zu entwickeln.

III

Was seinen Vortrag für mich so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass es ihm zu gelingen scheint, selbst aus der globalen Perspektive Vorschläge zu machen, die praktisch und lokal umsetzbar erscheinen. Sie machen Lust auf mehr. Dabei kann man auch bei Schellnhuber eine realistische Haltung erkennen, die weder blinden Optimismus noch pessimistische Weltuntergangsphantasien nährt. Den Wendepunkt zum Positiven, den Weg zur Rekonstruktion der Zukunft markiert für mich in seinen Erläuterungen der Respekt vor der Photosynthese.

So einfach könnte es sein – wenn es nicht so schwierig wäre.

Die Ideen des neuen Bauens sind in dem Buch „Reconstructing the Future“, herausgegeben von Schellnhuber und Rocío Armillas Tiseyra, versammelt. Es steht bei Birkhäuser kostenlos zum Download zur Verfügung.

Zukünfte (8): Kosmologien

Bei der Lektüre über die Polykrise unserer Zeit und ihrer Hintergründe begegnet mir hin und wieder der Begriff der Kosmologie. Deshalb versuche ich eine kleine Annäherung an einen schillernden Begriff.

In einem Radiobeitrag bei SWR2 Wissen hat sich der Philosoph Wilhelm Schmid mit der Frage beschäftigt, ob weltlicher Glaube möglich sei. In Zeiten, in denen die Religion allmählich schwindet, entstehe ein Vakuum, das mit einem wachsenden Interesse an der Lebenskunst gefüllt werde. Es gehe dabei vor allem um die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Michelangelo: Sixtinische Kapelle – Deckengemälde CC BY-SA 3.0 (Wikipedia)

Gemeint sei der umfassende Sinn, der alle individuellen Sinngebungen weit übergreift. Sinn sei nichts weiter als Zusammenhang. Beim Lebenssinn handelt es sich um den grundlegendsten aller Zusammenhänge: Den zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Die Unendlichkeit der Energie, der überwölbende Horizont der Transzendenz, wie ihn Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle in Bilder zu fassen versucht hat, könne der endlichen Existenz soviel Sinn vermitteln, dass ein Gefühl der Geborgenheit entsteht. Das Urvertrauen, einem großen Ganzen zuzugehören, geht daraus hervor. Aber die entscheidende Frage ist, wie es sich gewinnen lässt, wenn es nicht schon vorhanden ist.

Dieses Urvertrauen lasse sich gewinnen, wenn wir die Perspektive zur Unendlichkeit hin öffneten. Dazu brauche es kein religiöses Bekenntnis. Es genüge die säkulare Annahme, dass die unendliche Energie das Eine ist, das allem zugrunde liegt. Das könne, so Schmid, bereits durch die gedankliche Beschäftigung mit Kosmologie geschehen. Dem Wort nach sei Kosmologie die „Lehre vom Kosmos“, vom All, von der wohl umfassendsten Dimension des menschlichen Daseins. Eine Kosmologie in diesem Sinne gehörte bereits in der Antike zur philosophischen Lebenskunst, am deutlichsten bei Seneca.

Die Kosmologie handelt von der Überwölbung der einzelnen Existenz im weltlichen Sinne, vom äußersten Horizont, innerhalb dessen der Mensch angesiedelt ist; von einem Horizont, der sich im Unendlichen und Unerkennbaren verliert. Kosmologie ist der Versuch, über die Strukturen nachzudenken, aus denen die individuelle und kollektive menschliche Existenz hervorgegangen sein könnte.

In diese Strukturen bleibe die menschliche Existenz eingebettet, was auch immer geschehen mag, selbst wenn die Gestalt, die ein Individuum verkörpert und zu der es sich selbst gestaltet hat, sich wieder in ihre Bestandteile auflöst.

Kosmologie halte dazu an, alles Einzelne und auch sich selbst mit fernem Blick zu sehen, um das eigene Leben in diesem weiten zeitlichen und räumlichen Horizont einzurichten. Es sei hierfür nicht erforderlich, das gegenwärtig bestehende und rasant sich entwickelnde kosmologische Wissen für die Vollendung menschlicher Fähigkeiten zu halten. Es sei auch nicht nötig, die Gedanken allein auf den wissenschaftlich-technischen Zugang zum Kosmos zu begrenzen, denn das würde andere Zugangsweisen ohne Not ausschließen.

Kosmokolosse

Bruno Latour lädt auf ganz andere Weise zu einer gedanklichen Beschäftigung mit der Kosmologie ein. Er macht sich nicht in den Weiten des Alls auf der Suche nach der Unendlichkeit. Vielmehr beklagt er genau die Missachtung der unendlich vielen Verbindungen des Menschen mit den Organismen auf der Erde, mit denen er sein Leben teilt. Der Blick in die Weiten des Weltalls und der Blick aus der Ferne, wie wir ihn seit der Mondlandung auf Bildern vom blauen Planeten bestaunen, hält uns von dieser Dimension der Unendlichkeit fern.

In seinem Werk „Kampf um Gaia“ setzt sich Latour (im 5. Vortrag) mit zwei Kosmologien auseinander, die sich in ihrer bildhaften Gestalt ähnlich sind, aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Zeitschrift Nature erschien am 11. März 2015 mit einem Titelbild, auf dem ein Mann abgebildet war, der, so Latour, mit einem zusammenhanglosen, „fürchterlichen Gemisch“ aus Bildern von Pflanzen, Industrie, Wissenschaft und Technik geschmückt war. Die Zeitschrift wollte damit unter dem Titel „Die Epoche des Menschen“ auf das von den Geologen gerade ausgerufene Erdzeitalter des Anthropozän aufmerksam machen.

Hobbes: Leviathan (Frontispiz) – Wikipedia

Dieses Bild erinnerte Latour an eine ähnliche Darstellung, die das Frontispiz von Hobbes‘ Leviathan illustrierte. Es ist das berühmte Bild des Riesen mit Schwert und Krummstab als Machtinsignien, der mit seiner ganzen Masse über Städten, Ländereien, Festungen und Schlössern thront. Es bilde eine Ordnung ab, die nur durch einen Staat hergestellt werden könne, der von seinen Untertanen ungeteilte Zustimmung erhalte. Das Werk war, so Latour, für die religiöse, politische und wissenschaftliche Geschichte der Moderne prägend.

Das Nature-Titelblatt hingegen zeige eine belebte Welt, die unter den Schritten vibriere, keinerlei wiedererkennbare Landschaft, keinerlei anerkannte Autorität. Es mache den deprimierenden Eindruck, dass dieser blinde Körper blind daherstapfe, mit baumelnden Armen und gesenktem Kopf vor düsterem Hintergrund, seines Wegs und Ziels unkundig. Nach Hobbes konnte die Ordnung dadurch hergestellt werden, dass die bürgerliche Gesellschaft dem Naturzustand durch einen feierlichen Vertrag entzogen wurde, die die künstliche Maschine des Leviathan herzustellen erlaubte. Der neue „Kosmokoloss“ zeigt für Latour hingegen die durch die Reaktion der Erde auf die menschlichen Umtriebe erschütterte Ordnung.

Jedenfalls können wir uns nicht … in dem schmeichelhaften Glauben gefallen, die Frage der Natur sei gelöst, die Religion ein Problem der Vergangenheit, die Wissenschaft unbestreitbare Gewissheit; auch nicht in dem illusionären glauben, wir wüssten, was die Menschen antreibt oder welche Ziele die Politik verfolgt.

Man könne vielleicht daran zweifeln, ob das Anthropozän eine geologische Epoche kennzeichnet, aber nicht daran, dass es einen Übergang bezeichnet, der zwingt, wieder ganz von vorne anzufangen.

Latour verwendet den Begriff der Kosmologie deutlich anders, als z.B. Wilhelm Schmid. Er bindet den Begriff an die Dynamik, in der die Menschen einer Unendlichkeit von Zusammenhängen und Verschränkungen mit anderen lebenden Organismen und nichtlebenden Akteuren leben. Kosmologie wird so zum Versuch, nicht nur über die Strukturen nachzudenken, aus denen die individuelle und kollektive menschliche Existenz hervorgegangen sein könnte, sondern aus denen sie auch heute und morgen hervorgehen kann.

Könnte es sein, dass die dünne Membran, an die alles Leben gebunden ist, die Kosmologie bildet, mit der sich gedanklich zu beschäftigen ansteht? Könnten wir vielleicht auch in dieser „kritischen Zone“, wie die Erdsystemwissenschaft unseren gemeinsam geteilten Lebensraum nennt, auf der Suche nach dem Urvertrauen fündig werden? Liegt das Unendliche, das wir mit dem Endlichen neu verbinden könnten, viel näher als wir glauben?

Zukünfte (6): Dystopien erkunden

Zeit ist ein Garten der Pfade, die sich verzweigen – Jorge Luis Borges

zit. nach Eva Horn: Zukunft als Katastrophe

„Orange is the New York“ titelte DIE ZEIT kürzlich angesichts der apokalyptisch anmutenden Szenerie, in die der Rauch hunderter Waldbrände in Kanada den Nordosten der USA verwandelte. Warum greifen wir bevorzugt auf Bilder zurück, die eine Weltuntergangsstimmung ausdrücken? Haben wir einen heimlichen Hunger nach der Katastrophe, wie Peter Sloterdijk kürzlich mutmaßte? Steckt tief in uns eine fatalistische Regung? Oder sind die Schreckensbilder und Katastrophengeschichten für etwas gut? Wie passen sie zu der weit verbreiteten Untätigkeit angesichts einer bedrohlichen Klimakrise und angesichts der Wechselwirkungen eines ganzen Bündels an Krisen, die sich zu einer „Metakrise“ verdichtet haben? Lähmen oder aktivieren uns die vielen dystopischen Narrative, denen wir uns tagtäglich aussetzen?

Untergangsszenarien treiben die Menschen schon lange um. Doch die Intensität der Beschäftigung mit Dystopien nehme zu, meint Robert Folger vom Käte Hamburger Kolleg für Apokalyptische und Postapokalyptische Studien (CAPAS) in Heidelberg im Gespräch bei SWR2 Tandem (Sendung vom 9.5.2023). Das Institut ist erst 2020 neu gegründet worden und kann damit selbst als Indiz für diesen Befund gelten.

„Sich das eigene Ende zu vergegenwärtigen und dem auch noch Sinn abzugewinnen – das ist das eigentlich Apokalyptische.“

Die Apokalypse- und Katastrophen-Forscher sind überzeugt, dass Menschen Dinge zum Besseren verändern können und dass es hierfür hilfreich sein könnte, die Geschichte der dystopischen Narrative zu kennen. Sie erwarten, dass es im Zusammenspiel von Natur- und Sozialwissenschaft mit der Geisteswissenschaft gelingt, mögliche Zukünfte zu hinterfragen, die der Prognosefähigkeit der empirischen Forschung verschlossen bleiben.

Katastrophe ohne Ereignis – Eva Horn

Eine spannende Auseinandersetzung mit der reichhaltigen Geschichte der Katastrophenerzählungen in der Moderne hat die Kulturwissenschaftlerin Eva Horn mit ihrem Werk „Zukunft als Katastrophe“ 2014 vorgelegt. Dystopische Narrative werden nicht nur in wissenschaftlichen Studien (etwa der Club of Rome zur Klimakrise oder Herman Kahn zum Atomkrieg) erzeugt. Es gibt eine lange Reihe von fiktionalen Werken in Literatur und Film, die das Ende von Kulturen und Zivilisationen beschreiben. Eva Horn versucht, die Sprache und Bildsprache dieser Erzählungen zu entschlüsseln und zu sortieren, um an ihnen zeitliche Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzuzeigen.

Aktuelle Entwürfe des Zukünftigen seien von einer hoffnungsfrohen Zukunft denkbar weit entfernt. Ihr Gegenstand sei die Zukunft als Katastrophe. Der Begriff habe sich im 20. Jahrhundert von einem Ereignis- in einen Zustandsbegriff gewandelt. Eva Horn sieht in der gegenwärtigen Metakrise eine „Katastrophe ohne Ereignis“. Die Kontinuität an sich, die Tatsache, dass sich die Gegenwart immer weiter in die Zukunft hinein entrolle, dass sie sich fortsetze und bestenfalls unaufhaltsam steigere, gerade das sei das Schreckliche. Zukunft als Katastrophe sei heute die exakte Verbindung von Kontinuität und Bruch. Sie bezeichne die Vorstellung, dass gerade die Fortführung des Gegenwärtigen auf einen Umschlag, auf eine katastrophische Wendung zulaufe.

Kipppunkte sind zur herrschenden Drohkulisse geworden. Es gibt Umschlagpunkte komplexer Systeme in sozialen Dynamiken ebenso wie in Märkten, Finanzmärkten, Gesellschaften, Ökosystemen oder im Klima. Tipping points werdеn nicht durch Entscheidungen hervorgеrufеn, sondеrn sind Phänomеnе dеr spontanen Emergеnz: Aus еiner kaum bemеrkbarеn Tеndеnz, aus winzigen Schritten еntwickelt sich eine еinschnеidendе Ändеrung der Verhältnisse. Sie sind schwer abzusehen. Sie sind verschleiert vom Anschein einer Stabilität, die suggeriert, dass es immer so weitergeht. Sie stellen, so Horn, eine Gefahr dar, die früher der Phantasiewelt von Katastrophenfilmen vorbehalten war.

„Die Metаkrise ist eine Katastrophe ohne Ereignis, denn sie besteht gerade in der Kontinuität, im schieren Weitermachen. Sie hat keine klar benennbaren Akteure und Schuldigen, keinen präzisen Moment oder begrenzbaren Ort, kein einzelnes Szenario – vielmehr viele, große und kleine, deutliche und undeutliche, wahrscheinliche und unwahrscheinliche Zeitpunkte, Lokalitäten und Verlaufsformen.“

Klima kann nicht in Bilder oder Worte gefasst werden. Was wir erleben, ist immer nur ein bestimmtes Wetter. Die „Katastrophe ohne Ereignis“ zeigt sich als eine endlose Kette von Wetterkatastrophen, von denen wir nicht wissen, wo, wann und wie sie sich ereignen werden. Entsprechend weit und disparat ist das Feld der Fiktionen über das Klima. Eva Horn geht es nicht darum, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, sondern zu zeigen, wie die Wahrheit zustande kommt. Sie will die unausgesprochenen Programme, die heimlichen Implikationen und Handlungsanweisungen entziffern, die sich hinter den Fiktionen verbergen.

Imaginationen der Klimakatastrophe

Horn geht es um die Widersprüchlichkeit unserer Vorstellung von der Zukunft. Sie erkundet den Raum des Imaginären, der fiktiven Bilder, Narrative, Szenarien und Phantasien, wie er sich in der Rückschau auf die 200-jährigen Geschichte der modernen Katastrophenerzählungen in Literatur und Film zeigt.

Sie erkundet, wie „Der letzte Mensch“ der Romantik die Apokalypse-Erzählung abgelöst hat, wie Byron in seinem Gedicht Darkness unter dem Eindruck des Vulkanausbruchs von 1816 schildert, was passiert, wenn die Subsistenzwirtschaft zusammenbricht. Byron kommt ganz ohne apokalyptisches Strafgericht und ohne tragischen Helden aus. Es sei, so Horn, das früheste Dokumеnt eines neuen Typs von Krieg: eines »Klimakriegs« um nicht mehr und nicht weniger als Ressourcen im Moment ihrer drastischen globalen Verknappung.

Auch bei Grainvilles „Le dernier homme“ erkennt Horn Parallelen zu unserer heutigen Situation. Sein Held ist nicht nur Zeuge und Opfer des Weltendes, sondern auch Akteur. Er könnte es noch aufhalten. Er ist der letzte zeugungsfähige Mensch. Angesichts der Vision einer verrohten Menschheit verzichtet er darauf, die Menschheit fortzupflanzen. Die auf den Menschen zukommende Zukunft ist hier nicht unabänderlich, sondern Gegenstand einer Entscheidung.

„Letzte Menschen“ sind auch in der atomaren Apokalypse, die seit dem Bau der Atombombe unser Leben begleitet, die tragischen Figuren. Mit der Bombe sieht Horn eine apokalyptische Blindheit verbunden, die daher rührt, dass wir die Zukunft zwar nicht erkennen, jedoch auslöschen können. Diе mеnschlichе »Blindheit« angesichts dеr drohеnden Katastrophe ist nicht еinfach еinе Form dеr Kurzsichtigkeit, sondern еine spezifische Form dеr Ausblеndung und Trivialisierung. Horn verweist auf den Roman On the Beach (1957) von Nevile Shute. Was Shutes Roman vorführe, sei der seltsаme Quietismus einer zum Sterben verurteilten Gemeinschаft, die weder flieht, noch in Panik ausbricht, noch Schutzmаßnаhmen ergreift oder sich zur Wehr setzt. Die letzten Überlebenden der nuklearen Katastrophe gehen angesichts des nahen Todes unbeirrt ihrem gewohnten Alltag nach. Apokalypse-Blindheit ist, so Horn, eine Haltung, die weiß, aber nicht daran glaubt.

„Zivilisation beginnt damit, dass sich der Mensch sein Klima schafft“

Das Wetter ist „hier und jetzt“, einmalig, unberechenbar, kontingent, hyperkomplex. Die Unsicherheit nicht nur im Wissen vom Wetter, sondern auch über den Status dieses Wissens präge, so Horn treffend, den aktuellen Diskurs von einer kommenden Klimakatastrophe entscheidend. Das Klima als der Durchschnitt aller Wetter in einem bestimmten Zeitraum war lange Zeit der stabile Faktor, der den Lebensraum der Menschen wesentlich prägte. Mittlerweile ist das Klima von einem Kriterium des Orts zu einer Kategorie der Zeit geworden. Während es früher die Unterschiede zwischen den Landstrichen und ihren Bewohnern markiert hat, so fasst Klima heute den Zustand des globalen Klimasystems zu einem bestimmten Zeitpunkt. Klima erhalte damit, so stellt Horn fest, selbst eine Geschichte: eine Geschichte der Katastrophen und plötzlichen Auslöschungen, aber auch eine Geschichte der langsamen Zyklen und Transformationen. Die Lаngzeitperspektive heutiger Klimaforschung zwischen dreißig und ein paar Millionen Jahren sei zu einer Quelle für Zukunftswissen geworden.

Klimаwandel ist Kulturwаndel und umgekehrt. Der Mensch steckt in einer doppelten Verstrickung fest. Er hat sich des Klimas ermächtigt und bleibt ihm doch unterworfen. Er ringt mit der Schwierigkeit, ein verlässliches „Wissen vom Schwebendеn und Wirbelnden des Wеttеrs wie dеs Klimas zu еrzeugen und eine Politik zu finden, die dеm Klima-Machеn dеs Menschen Regeln und Richtlinien gibt.“ Hierfür erzeugt der Mensch vielfältige Klimaimaginationen. Er entwerfe Gеschichten, Topologien und Kartographiеn, Projekte, Bauwerkе und Gеmeinwеsеn, die ausloten, in welchem Maßе und mit welchеn Kosten und Folgеn dеr Mеnsch das Klima ändern, formen oder auch aus seiner Lebenswelt ausschließen kann. Eva Horn unterscheidet vier Imaginationsmuster, die sie mit der Metapher der Jahreszeiten veranschaulicht.

Klimakapseln – Der Traum vom ewigen Sommer

Bei Thomas Morus in Utopia (1516), bei Montesquieu oder bei Charles Fourier und seiner Théorie des quatre mouvements (1808) – die Vorstellung, dass sich gesellschaftliche Ordnungen unmittelbar auf die Wirkungen des Klimas auf Körper und Geist zurückführen lassen, reicht weit zurück. Der utopische Gedanke, das Klima zu regulieren, äußert sich in einer Vielzahl an „Klimakapseln“, ob Zelte, Häuser, Treibhäuser, Glaspaläste oder klimatisierte Einkaufspassagen. die der Mensch zu seinem Schutz und Wohlbefinden baut. Es gelingt dem Menschen nicht, seinen Traum vom ewig gemäßigten Klima zu verwirklichen und sich vollständig vom Klima zu befreien. Vielmehr kündigt sich darin die künftige Veränderung des Klimas an. Die Klimakapselentwürfe des 20. und 21. Jahrhunderts seien, so Horn, immer Bühnen für Technikphantasien. Die Unabhängigkeit von den Fährnissen der Außenwelt verdanke sich einer lebensbedrohlichen Technologieabhängigkeit, die in Filmen wie Logan’s Run (1976) oder Soylent Green (1973) in der sozialen Dystopie endet. Klimakapseln seien so Utopien einer Politik, die den Körper restlos technifiziert hat, um restlos auf ihn zugreifen zu können. Das temperierte Klima, das ausgeschlossene Wetter sei die ausgeschlossene Körperlichkeit des Menschen und die arretierte Zeitlichkeit dieses Körpers.

Die Welt versinkt in Dunkelheit und Kälte – Herbst

Mit dem Einsetzen des modernen Zukunfts- und Katastrophendenkens im beginnenden 19. Jahrhundert war es die Angst vor einer Abkühlung des Klimas, die die Menschen umtrieb. Ausgelöst durch das neu entstandene Wissen über das Aussterben von Arten in der Ur- und Vorgeschichte entstehen Phantasien über das Ende allen Lebens. Mit dem Leben erlischt in diesen Phantasien von der leblosen Erde auch die Zeit. In Flammarions Roman La fin du monde (1893) ist es der sich abkühlende Erdkern, der die Erde allmählich in Trockenheit und Kälte erstarren und die Menschen degenerieren lässt. Das Ende des Klimas ist in diesen Phantasien der Verlangsamung totеr Stillstand, das Endе еinеr Zеitlichkеit der Natur. Solche Abkühlungsphantasien sind auf narrative Zeitmaschinen, auf ein schnelles Vorspulen angewiesen. Das Klima wird zur Tiefenzeit, die in ihrer Endlosigkeit zugleich die in der Ferne drohende Zukunft ist – das Ende der Zeit.

Der plötzliche Kältetod – Winter

Horn assoziiert Phantasien der plötzlichen Kälte mit dem Winter. Von Byrons Darkness bis zu Emmerichs The Day After Tomorrow – etliche Phantasien greifen auf das Bild der schlagartigen Abkühlung zurück. Aktualität erhielten sie durch die Möglichkeit des „nuklearen Winters“ nach einem Atomkrieg. Erstmals wird 1983 ein solches mеnschengеmachtes, plan-, abеr auch vеrhindеrbares Desaster von Wissenschaftlern um den Atomphysiker Carl Sagan als Klimakatastrophe beschrieben. Sie argumentieren damit erstmals global und ökologisch.

Obwohl sich das Winterszenario natürlich nicht auf empirisches Wissen stützen konnte, sondern einem Patchwork aus verstreutem Wissen entsprang, erwies sich die Simulation einer Klimakatastrophe in seiner eindringlichen Darstellbarkeit als ein Auslöser der breiten Protestwelle gegen die Stationierung von Atomwaffen in Europa in den 80er Jahren. Das hypothetische Wissen dieser Katastrophenimagination verweise, so Horn, auf den Zusammenhang einer immensen Zahl von interdependenten Faktoren. „Klima“ trete so in den Blick als komplexes Geflecht von organischen und nichtorganischen Prozessen, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Das Leben hat Systemcharakter. Menschliches Handeln und die Abläufe der Natur erweisen sich als unlösbar miteinander verknüpft.

Eva Horn findet gleich eine ganze Reihe von Beispielen aus Film und Literatur, die eine Innenansicht in das Dunkel des postnuklearen Winter gewähren – von The Day After oder Paul Austers In the Country of Last Things (1989) bis zu Michael Hanekes Wolfzeit (2003). Als Bild für ein letztes, nicht endendes Klima ist der Winter der experimentelle Beweis dafür, dass eine menschliche Zivilisation nicht denkbar ist ohne eine intakte Natur.

Besonders das Buch The Road (2006) von Cormac McCarthy betont nach der Analyse von Eva Horn, wie sehr im Desaster die Sphären des Sozialen und die Sphären der Natur ineinander fließen.

Diese Fragilität umfasst den Menschen und seine sozialen Bindungen ebenso wie die Nаtur und das unendliche, lаbyrinthische Geflecht ihrer Interdependenzen zwischen Tieren, Pflanzen, Licht, Wаsser, Mаterie, Wärme. Dаs Zerreißen dieses zugleich zarten und machtvollen Geflechts ist das, was nicht mehr ins Lot kommen wird.

McCarthys Buch schließt mit einem Bild aus einer Zeit vor dem plötzlichen Einbruch des Winters als letztem Klima, das verdeutlicht, dass mit dem Verschwinden der Natur auch der Mensch verschwinden wird. Das Bild beschreibt Bachforellen in den Bergbächen.

Bald würde es zu heiss werden – Frühling

Die Erzählungen vom ewigen Winter gehen mehr oder weniger deutlich vom atomaren Szenario aus. Damit führt eine Entscheidung zur Katastrophe. Anders ist das beim Katastrophenszenario der globalen Erwärmung, beim unheimlichen „Frühling“ langsam tauender Gletscher, steigender Temperaturen und wachsender Dürrezonen. „Es ist eine Katastrophe ohne einen Lichtblitz und eine Zeitangabe“, so Horn. Auch sie ist menschengemacht, aber die Menschen sind namenlos und unzählig, ohne Ort, sondern nur eine abstrakte Mittelung unendlich vieler Daten, nicht experimentell überprüfbar, sondern ein Modell heterogener Daten. Wiе dеr ›Herbst‹ der Abkühlung und allmählichеn Dеgеnеration des Menschеn, der dem 19. Jahrhundert vor Augеn stand, sei dеr Frühling der globalеn Erwärmung еine Kаtastrophe der longue duréе, der klеinen, unmеrklichеn Vеränderungen über unendlich lange Zeiträume.

Horn zählt eine ganze Reihe von literarischen Werken auf, die mangels einem Ereignis der Klimakatastrophe auf alle denkbaren Wetterkatastrophen zurückgreifen. Diese Narrative sind unheimlich, so Horn.

„Die tropische Hitze ist dabei nicht nur eine Zukunft, sondern eine Rückkehr des Planeten – und damit auch des Menschen – in eine paläologische Vergangenheit des warm-feuchten Trias-Klimas.“ In J.G. Ballards Roman The Drowned World von 1962 gehen die Uhren rückwärts.

Der Mensch wird zum Medium einer Welt-Zeit, die sich in seinen Reflexen, seinen Wünschen, Träumen und schließlich auch seinem sozialen Verhalten ausdrückt.

Das Klima, so stellt Horn in ihrer Analyse fest, sei in diesem Werk, das ein fundamentales Wissen vom Klimawandel entwerfe, zugleich Außen und Innen, Umwelt und Kern des Menschen. Es sei Ort und Zeit des Menschen, Zeit, die den Menschen präge, aber auch Zeit, die für ihn verfliege.

Überleben – ein Leben nach dem Leben

Wie sehen die Vorstellungen aus, die sich Literaten vom Leben danach machen? Kein Autor habe die Leere des Überlebens nach der Katastrophe schärfer ins Auge gefasst als Samuel Beckett. Der Überlebеnde rеtte sеin »nacktеs Lеben«, während die Welt, die Zeit und die Gemeinschaft, die ihm Idеntität, Bindungen, Normen, Sinn und Ziele gegeben haben, untergegangen sind. Die antike Unterscheidung zwischen bios, politischem Leben, Leben in Gemeinschaft, und zoé, nacktem, biologischem Leben, werde nirgendwo krasser sinnfällig als in diesem nackten Überleben. In Becketts Endgame wird nicht nur ein Bild von der Existenz im Bunker gezeichnet, sondern auch die biopolitische Logik der Katastrophe umrissen. Der Protagonist des Stücks trifft seine Entscheidungen willkürlich und ohne Begründung. Er hätte helfen können, andere retten können, hat es aber nicht getan. „Wer überlebt hat, hat andere sterben lassen.“

Unfälle – unbeobachtbar und zufällig

Was für Natur- oder Klimakatastrophen gilt, trifft auch auf Zivilisationskatastrophen zu. Jede Katastrophe ist, so stellt Eva Horn fest, ein Modus der Offenbarung, ein Hervortreten des Latеnten und Verborgenen, ein Sich-Zeigen dessen, was uns droht. Seine Blitzartigkeit und Komplexität mache den Unfall unübеrschaubаr, unerlebbаr und unbeobachtbar in der Aktualität sеines Vollzugs. Diese Lücke schließen die unzähligen Unfallimaginationen in Film und Literatur. Sie ermöglichen die nachträgliche Analyse des im Augenblick des Geschehens Unbeobachtbaren.

Am Beispielen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl oder an ganz gewöhnlichen Autounfällen zeigt Horn, wie wir mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Praktiken der Sicherheit auf die Zukünftigkeit von Unfällen reagieren. Sie versuchen zwar, die Schwerе und Häufigkeit von Unfällen zu mindern, akzeptieren aber grundsätzlich deren Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.

Die Paradoxie des Voraussehens in den Blick nehmen

Eva Horn filtert die Essenz aus den betrachteten Fiktionen und den dahinter aufscheinenden Erzählmustern, indem sie deren Einfluss auf unser Verhältnis zur Zukunft erkundet. Die Katastrophe sei der radikale Bruch in der Zukunft. Die Beziehung zur Zukunft gleite ins Negative ab. Die logische Konsequenz: Diese Zukunft muss unbedingt verhindert werden. Prävention als eigentlicher Zweck prognostischen Wissens rückt in den Vordergrund.

Mit dem Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling unterscheidet Eva Horn drei Spielarten des Umgangs mit der Zukunft. Erstens: „Hygiene“ versucht, die „Erreger“ von zukünftigen Schäden schon im Voraus zu eliminieren. Vorhersehen sei hier das Hochrechnen vom Bekannten aufs Zukünftige. Die Gegenwart wird in die Zukunft verlängert. Die zweite Spielart ist die „Immunisierung“. Die Möglichkeit, Auslöser zukünftiger Schäden schon in der Gegenwart identifizieren zu können, ist begrenzt (known unknowns). Das Wissen über die Zukunft schlägt sich in Wahrscheinlichkeitsrechnungen nieder. Das ist die Domäne des Zukunftsmanagements. Für eine Zukunft, die аus kleinen bis mittelschweren, аber häufigen Schadensfällen bestehe – eine Zukunft des »wаhrscheinlichen Unfаlls« wie dem Crash oder regelmäßigen Erkrankungen – sei dieses Präventionsregime heute vorherrschend. Drittens, das Vorsorgeprinzip bezieht sich auf die Möglichkeit radikaler Brüche, auf Katastrophen, die aus der Gegenwart heraus kaum zu erahnen oder zu antizipieren sind (unknown unknowns). Technische Sicherheit (safety) und Versicherungen greifen in diesen Fällen nicht mehr. Es entsteht ein Raum für politische Sicherheit (security).

Diese Orientierung am Nichtwissen im Vorsorgeprinzip, dieses Wissen unter der Bedingung des Nichtwissens, ist von besonderem Interesse. Es ist „notwendig angewiesen auf eine strukturelle Fiktionalität, die einerseits in der Lage wäre, ein Wissen von der Zukunft zu entwerfen und gleichzeitig bewusst zu halten, dass diese Prognose nur unter den Bedingungеn einеs konstitutivеn Nicht-Wissens über diе Zukunft entsteht.“ Deshalb ist es so sehr an imaginativen Verfahren der Vorausschau interessiert. Die Fiktionalität von wissenschaftlichen Szenarien, von Literatur oder Filmen bedeute, hält Horn fest, dass sich Zukunft gleichsam aufspaltet in einen möglichen Verlauf, der erwаrtet, vorausgesаgt, möglicherweise verhindert oder herbeigeführt werden kаnn – und einen anderen, ebenso möglichen, der nicht erwartet, nicht gewusst, nicht verhindеrt werdеn kаnn.

Prävention hat dabei immer mit der paradoxen Zeitstruktur zu tun, sich einerseits die Zukunft auszumalen und andererseits alles zu tun, um zu verhindern, dass sie eintritt. Prävention kann immer nur dort geschehen, wo Bedrohungen als Bedrohungen wahrgenommen und thematisiert werden. Mit Erfindung oder Wirklichkeitsferne, betont Eva Horn, habe ein solcher Begriff der Fiktion im Sinne eines Möglichkeitsraums alternativer Verläufe nichts zu tun.

Denn es liegt jа im Wesen der Prävention, dаss ihre imаginierten Verläufe einerseits mаssiv wirksam sind – Konstruktionen, die Handlungen und Eingriffe in der Wirklichkeit informieren und аuslösen – und dass sie doch idealiter nie Wirklichkeit werden sollen.

Prävention beruhe auf einer Struktur der self-defeating prophecy – einer Zukunftsvorhersage, die sich sich selbst durchkreuze. Prävention will verhindern, was sie kommen sieht. Gegenwart wird damit als Verzweigungspunkt von alternativen Geschichten wahrnehmbar. Mit „Fiktionen“ lässt sich in Anlehnung an Jorge Luis Borges der Möglichkeitsraum alternativer Verläufe bezeichnen. Zeit ist demnach ein Labyrinth aus Fiktionen.

„Fiktion ist … nicht einfach eine Erfindung, sondern strukturell das, was man in der Wissenschaft eine „Arbeitshypothese“, eine „heuristische Fiktion“ oder eben ein Szenario nennt, das ja bekanntlich nie allein kommt.

Wissen von einer kommenden Katastrophe in der Zukunft ist einer der klassischen Gegenstände von Literatur und Film. Eine Handlung zu erzählen, die vom Wissen um die Zukunft ausgelöst ist, bedeutet, so resümiert Eva Horn, die Verknüpfung von Wissen und Nicht-Wissen nciht einfach zum Thema zu machen, sondern unmittelbar in die Struktur der Darstellung aufzunehmen. Damit werde dem Leser oder Zuschauer etwas lesbar oder sichtbar, was die in die Gegenwart der erzählten Welt verstrickten Protagonisten eben gerade nicht sehen können.

III

Ob Künstliche Intelligenz, ob Klima, ob „Ernstfall“ – erzählte Dystopien sind seit dem 18. Jahrhundert bis heute ein „forllaufender pessimistischer Einspruch gegen eine Moderne des Zukunftsoptimismus“. In der heutigen Metakrise – der „Katastrophe ohne Ereignis“ – sind die Meldungen von lokalen Katastrophenereignissen mittlerweile omnipräsent und bestimmen die Schlagzeilen. Aber immer noch herrscht ein Gefühl der Latenz vor, eine trügerische Gewissheit, dass die Katastrophe einen schon nicht treffen werde. Sie ringt mit dem bedrückenden Gefühl, dass die Risiken und Gefahren unmerklich anwachsen, wenn wir unseren gewohnten Alltag scheinbar gedankenlos und unbeirrt fortsetzen.

Eva Horn stellt fest, es gebe kein klar bestimmbares Subjekt eines vorsorgenden Handelns für die Zukunft. „Die Industrienationen“, „der Kapitalismus“, „der Mensch als Spezies“ oder wir alle, die wir heizen, reisen und konsumieren – die Akteure sind entweder zu groß oder zu klein. Es sei keine „Apokalypse-Blindheit“ (Günter Anders) zu beklagen, sondern eher eine „blinde Reflexivität“ (Bruno Latour), die es immer schon gewusst hat, aber keine Ahnung hat, was hier und jetzt zu tun wäre. Als Werkzeuge der Vorstellungskraft und des Denkens können uns die Fiktionen der Katastrophe helfen, diese reflexive Blindheit zu überwinden, die dafür sorgt, dass wir das, was wir wissen, nicht glauben. Der entscheidende Unterschied: Sie schildern die Zukunft nicht als Möglichkeit, sondern als Gegebenheit.

Bedrohte Ordnungen

Vielleicht lässt sich das Ausmaß der Metakrise auch an den gesteigerten Anstrengungen zur Erforschung von Katastrophen- und Krisensituationen ermessen. Auch an der Universität Tübingen haben sich Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zusammengefunden, um Ereignisse von der Antike bis in die Gegenwart zu erforschen, in denen soziale Ordnungen ins Wanken geraten sind. Auch hier sind es Naturkatastrophen, wie das Erdbeben am Golf von Neapel oder die globale Corona-Pandemie, und menschengemachte Krisen, wie der Reisanbau im Nordkaukasus oder 9/11, deren Katastrophenmanagement näher betrachtet wird. Am Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ ist eine lesenswerte Web-Dokumentation mit vielen Geschichten entstanden, aus denen sich möglicherweise Erkenntnisse über typische Muster der Transformationen von sozialen Ordnungen in Katastrophen ziehen lassen.

Bedrohte Ordnungen sind Systeme oder Strukturen, die in Gefahr sind, zusammenzubrechen oder zu verfallen. Dies kann sich auf verschiedene Bereiche des Lebens beziehen, wie beispielsweise soziale, politische oder ökologische Ordnungen. Die Forscher unterscheiden drei Kontexte, aus denen Bedrohungen für bestehende Ordnungen erwachsen. In sozialen Kontexten verweist eine bedrohte Ordnung auf die Stabilität und Harmonie innerhalb einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. Faktoren wie soziale Ungleichheit, Konflikte oder wirtschaftlicher Verfall können dazu führen, dass soziale Ordnungen gefährdet werden. Im politischen Sinne kann eine bedrohte Ordnung auf politische Systeme oder Institutionen hinweisen, die instabil sind oder durch Korruption, autoritäre Regime oder politische Konflikte gefährdet werden. In solchen Fällen ist die Funktionalität der demokratischen Prozesse oder die Wahrung der Menschenrechte bedroht. Darüber hinaus kann eine bedrohte Ordnung auf ökologische Aspekte verweisen. Der Klimawandel, das Artensterben und Umweltverschmutzung sind globale Bedrohungen für die natürlichen Ordnungen und Ökosysteme der Erde. Der Verlust der biologischen Vielfalt und die Verschlechterung der Umweltbedingungen seien – heisst es in der Beschreibung des Forschungsprojekts mit fast schon verharmlosendem Unterton – ernsthafte Herausforderungen, die angegangen werden müssen, um bedrohte Ordnungen zu schützen und zu bewahren.

Die Vielfalt der Bedrohungen und deren Dringlichkeit wird weiter wachsen. Soviel lässt sich mit Blick auf die nähere Zukunft sagen. Je mehr wir uns den ökologischen Kipppunkten nähern, umso wahrscheinlicher wird auch die Annäherung an einen sozialen Kipppunkt. Der Philosoph Thomas Metzinger beschreibt diesen Punkt im Gespräch mit SRF Sternstunde Religion als kollektives Aufwachen. Den Menschen werden irgendwann plötzlich zwei Einsichten dämmern: Erstens, diejenigen, die so nachdrücklich vor der Klimakatastrophe und dem Artensterben gewarnt haben, hatten recht. Zweitens, jetzt ist es zu spät. Niemand weiß, wann dieser Kipppunkt erreicht sein wird. Metzinger ist jedoch überzeugt, dass ein neues Menschenbild, ein neues Bewusstsein entstehen wird. (Dazu demnächst mehr.)

Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat kürzlich bei SWR2 das Wort der Woche Umwelttrauer und Klimaangst erkundet. Pörksen erzählte eingangs, welche Faszination von dem Bach ausging, an dem er in seiner Jugend Bachforellen beobachtet hat. Heute ist der Bach ausgetrocknet.

Zukünfte (5): Der Mensch als Natur

„Wir wissen nicht mehr, wer wir sind,“ meinte Markus Gabriel kürzlich im SWR2 Interview zu seinem neuen Buch mit dem Titel „Der Mensch als Tier“. Er möchte die geisteswissenschaftliche Entwicklung der letzten 50 Jahre zwischenbilanzieren und – ganz unbescheiden – ein neues Menschenbild beschreiben, das uns wieder Orientierung verleihen könne.

Der Mensch ist dasjenige Lebewesen, das tun kann, was es tut, im Lichte einer Vorstellung von sich selbst und der Einbettung in eine Umgebung.

Das unterscheide uns von allen anderen Lebewesen. Der Mensch sei das Lebewesen, das ein Bild von seiner Animalität habe. Mit unserer Vorstellung unterjochten wir alles andere. Wir zwängen die anderen Tiere in unsere Vorstellung, was ein Tier ist.

Wir haben Wissenschaft und Technik entwickelt, die dazu geführt haben, dass wir uns an den Rand der Selbstzerstörung gebracht haben, unter anderem in der Form sozialer Netzwerke, wie z.B. Facebook. Wie können wir diesen Akt der Selbstzerstörung stoppen? Es gelte, so Gabriel, das zerstörerische Menschenbild durch ein gesünderes zu ersetzen.

Seit der Mensch glaubt, er gehört zur Natur, zerstört er sie.

Die Vorstellung, der Mensch sei Teil der Natur, sei eine moderne Vorstellung. Lange Zeit habe sich der Mensch als geistiges Lebewesen verstanden, das nicht zur Natur gehört. Der Mensch müsse hingegen erkennen, dass er nicht vollständig Teil der Natur sei, sondern ein freies und geistiges Lebewesen. Diese Bewusstheit betrachtet Gabriel als Voraussetzung, um die Umwelt- und Naturzerstörung abzuwenden. Er fordert eine Ethik des Nichtwissens. Er möchte Abschied nehmen von der Vorstellung, dass wir durch Wissenschaft und Technik alles unter Kontrolle bekommen können. Wir sollten bescheiden sein, angesichts dessen, was wir nicht wissen. Wir wissen z.B. von 95% des Universums, der dunklen Materie und Energie, nicht, woraus sie besteht. Wir wissen z.B. auch sehr wenig über das Reich der Viren und Bakterien.

Wir müssen aufhören zu glauben, dass wir am Ende der Geschichte sind und fast alles wissen und nur noch unsere Wirtschaft anpassen müssen, damit wir ewigen Wohlstand erlangen.

An die Stelle dieses Glaubens soll eine Ethik des Nichtwissens und der Bescheidenheit treten – und eine Dankbarkeit dafür, dass uns andere kritisieren können. Technik und Naturwissenschaft haben wir vom humanen, moralischen Fortschritt entkoppelt. Wir haben das Versprechen der Aufklärung, die Philosophie und Ethik ins Zentrum der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu rücken, aufgekündigt. Wir versuchen immer wieder durch Geld, Technik und Naturwissenschaft alles zu beherrschen. Das sei genau das Problem und nicht die Lösung.

„Mit dem Begriff Natur kann man nichts anfangen (Latour)“

Wenn ich Gabriel so zuhöre, wächst bei mir der Eindruck, dass wir es mit einem wolkigen Naturbegriff zu tun haben. Es hat den Anschein, als ob Gabriel sich von Bruno Latour distanziert, der sich bekanntlich in seinem Spätwerk unermüdlich mit dem Verhältnis des Menschen zu seinen Mitorganismen und zur Materie in seinem Lebensraum befasst hat. Latour hat den Begriff Natur gemieden, weil mit seiner Verwendung zwangsläufig die Unterscheidung zwischen Natur und Mensch oder Natur und Kultur aktiviert wird.

Wandteppich, Rijksmuseum Amsterdam – http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.21199, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=83359929

Die gemeinsamen Lebensbedingungen, die Menschen mit den anderen lebenden Organismen teilen, sind räumlich eng begrenzt.

Natur im weitesten Sinne kann das gesamte Universum, die Materie seit dem Urknall bezeichnen. Mit einem derart weiten Begriff kann man nichts anfangen.

Latour hat deshalb lieber den Begriff „Gaia“ – im Sinne der Gaia-Hypothese von Lovelock und Margulis – oder den Begriff „Kritische Zone“, den die Erdsystemwissenschaftler gebrauchen, bevorzugt. Damit sind die lebendigen Organismen und die in Lebensprozesse eingebundene Umwelt, etwa Luft oder Boden, gemeint. Der Mensch wirkt mit seiner Existenz auf dieses komplexe Beziehungsgeflecht ein, ohne es zu wollen und ohne die Konsequenzen zu überblicken. Wir sind, so Latour, überhaupt nicht darauf eingestellt, dass die Erdgeschichte derart eng mit der Menschheitsgeschichte verknüpft ist. Die Suche nach einer neuen Orientierung und unsere Vorstellung von der Zukunft ist in dieser Situation, folgt man Latour, geprägt von einem Wechsel von einer zeitlichen zu einer räumlichen Perspektive. Sie sei, so Latour, entscheidend mit der Frage verbunden: Wo werden wir leben und mit wem?

Die „Große Trennung“

Für die weitere Erkundung der Mensch-Natur-Beziehung in der Moderne greife ich auf einen Essay von Fabian Scheidler über „Die große Trennung“ zurück, der sich der Geburt der technokratischen Weltsicht und der planetarischen Krise widmet. Er geht – ähnlich wie Gabriel – von einem systemischen Umbruch aus, der sich nach jahrhundertelangen Kämpfen im 17. Jahrhundert vollzogen hat: die Geburt des modernen, kapitalistischen Weltsystems. Im Kern dieses Systems sieht er erstens die endlose Vermehrung von Kapital in einem ununterbrochenen Zyklus von Profit und Reinvestition und zweitens den modernen Militärstaat. Die von Europa ausgehende Kolonisierung der Welt war eine systemische Notwendigkeit, um die Maschinerie der Akkumulation in Gang zu halten. Diese Entwicklung schuf den Nährboden, auf dem die modernen Naturwissenschaften gedeihen konnten.

Berechenbarkeit wurde zu einer entscheidenden Kategorie für Militärs, staatliche Beamte, Buchhalter und Investoren. Daher ist es kein Wunder, dass auch in der damaligen Forschung das Messen und Zählen immer mehr Vorrang vor qualitativen Betrachtungen bekam. Die Kultur, in der die modernen Wissenschaften geboren wurden, war vom Rechnen geradezu besessen, denn davon hing der militärische, politische und ökonomische Erfolg entscheidend ab. …

Christliche Mission, Kapitalakkumulation, koloniale Gewalt und Wissenschaft formierten sich zu einer Quadriga der Welteroberung und der Beherrschung der „niederen Geschöpfe“

Die Welt sei, so Scheidler, zu einem Spielfeld aus Ressourcen und Risiken geworden. Die Natur sei von einem lebendigen Netz, in das die Menschen eingebettet waren, allmählich zu einem Objekt geworden, das ihnen gegenüberstand. Während Giordano Bruno noch die Auffassung vertrat, dass das Universum durchgehend beseelt sei, stand Johannes Kepler eine Generation später bereits an der Schwelle zu einem mechanistischen Weltbild. Er wollte „zeigen, dass die Himmelsmaschine nicht einem göttlichen Organismus gleicht, sondern einem Uhrwerk.“ So Kepler 1605 in einem Brief an einen Freund. Nach und nach setzte sich „die große Trennung“, wie Scheidler mit Rückgriff auf den französischen Anthopologen Philippe Descola die Entwicklung hin zum modernen, mechanistischen Weltbild beschreibt, in dem Maße durch, wie die gesamte Gesellschaft, von der Schule über die Landwirtschaft bis zur Fabrik, nach dem Modell der Maschine umgebaut wurde.

In der Malerei setzte sich die bis heute prägende Zentralperspektive durch. Als Hilfsmittel zur Konstruktion der Perspektive sei oft ein Fadengitter benutzt worden, das die Welt in Planquadrate zerlegte. Die Obsession der Zerlegung habe zum einen eine unerhörte Genauigkeit der Untersuchung ermöglicht, die zum Erfolg der Naturwissenschaften erheblich beigetragen habe. Andererseits habe dieser Fokus viele Zusammenhänge und vor allem die Kreislaufprozesse in der Natur unsichtbar gemacht. Erst in den 1940er Jahren seien mit der Kybernetik die komplexen Wirkungskreisläufe beschrieben worden, auf denen lebende Systeme beruhen. Man kann ineinander verschlungene Kreisläufe in einzelne Kausalvorgänge zerlegen. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, so Scheidler, die Zusammensetzung solcher Teilstücke würde am Ende eine lineare Kausalkette ergeben. Der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft zeigt das überdeutlich.

Die ökologische Vernichtung, die am Ende dieser Entwicklung steht, ist keine zufällige „Nebenwirkung“, sondern die zwingende Konsequenz, wenn man lebendigen Kreisläufen mit Methoden zu Leibe rückt, die dafür ersonnen wurden, die Flugbahnen von Kanonenkugeln zu errechnen.

Wie der Mensch in dieser Entwicklung selbst zum Objekt wird, zeigt Scheidler am Beispiel des Sklavenhandels, der Hexenverfolgung oder der gewaltsamen Bildung von Arbeitsmärkten. Disziplinareinrichtungen, wie Schule und Militär, arbeiten an der Abspaltung der Innenwelten. Jeder Mensch wird so allmählich sein eigener Kommandant, um aus sich selbst maximale Vorteile im globalen Wettbewerb herauszuschinden. Der eigene Körper, die eigene Seele, der eigene Geist wird zum Objekt, zur Ressource.

Die „Große Trennung“ hatte sich mit der Kolonialisierung auf der gesamten Welt ausgebreitet. Händlier, Militärs und Missionare arbeiteten Hand in Hand, um sich natürliche Ressourcen anzueignen, Arbeitskräfte auszubeuten und über Jahrhunderte gewachsene kollektive Sinngefüge oder Kosmologien auszulöschen.

Die Zerstörung gewachsener Sinngefüge durch die Expansion der modernen Megamaschine hat in vielen Teilen der Erde ein kosmologisches Vakuum hinterlassen.

Diese „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) ging jedoch nicht von den Wissenschaften selbst aus, so Scheidler, sondern von dem hier nur angedeuteten gewaltsamen traumatischen Prozess.

Wo das Gewebe menschlicher Beziehungen durch strukturelle und physische Gewalt zerrissen wurde, wo die kosmologischen Gefüge in Trümmern liegen, erwächst in den Menschen eine Sehnsucht nach dem Ganzen, nach Teilhabe an einem größeren Sinnzusammenhang, in dem das eigene Leben seinen Platz findet.

Die Überwindung der Großen Trennung – eine Überlebensfrage

Die jüngste Etappe dieser Maschinisierung unserer Lebenswelten sei die Digitalisierung. Menschliche Beziehungen würden Schritt für Schritt in Apparate hineinverlagert, an die Stelle direkter sinnlicher Wahrnehmung und Kommunikation träten digitale Schnittstellen. An die Stelle einer verbundenen Mitwelt tritt, so sieht es Scheidler, eine programmierte Weltersatzmaschine. Alles, was Menschen darin noch erleben können, sei für sie von anderen präfiguriert worden.

In einem zweiten Teil des Essays mit dem Titel „Systemwandel oder Klimakollaps“ geht Scheidler der Frage nach, wie die „Große Trennung“ überwunden werden kann. Die beklagten Phänomene sieht er in der Gegenwart besonders durch die großen Kapitalgesellschaften verkörpert. Sie verfolgten nur ein einziges Ziel, die Geldvermehrung. Sie seien unfähig, die Interessen der anderen Lebewesen zu berücksichtigen. Sie entzögen sich systematisch jeder Verantwortung für die Zerstörungen, die sie hinterlassen.

Scheidler schließt mit seiner Kritik an der „Großen Trennung“ und seiner Suche nach einem neuen Verständnis des Menschen in der Natur oder als Akteur der Natur im wesentlichen an die Gemeinwohl- oder Postwachstumsökonomie an. Probleme in der praktischen Umsetzung wachstumskritischer Konzepte hatten wir in meinem letzten Blog-Beitrag über Ulrike Herrmann betrachtet. Ich kann mich gut an die Nuller-Jahre erinnern, in denen in Management- und Beraterkreisen das Schlagwort von der „Corporate Social Responsibility“ (CSR) in Mode war. Die zaghaften Bemühungen, sozialökologische Verantwortung in den Konzernen zu verankern, sind seinerzeit ohne größere Spuren zu hinterlassen in der Versenkung verschwunden. Zu stark war der Druck, den Shareholder Value oder die Gewinne zu maximieren. Die Hoffnung auf eine andere Wirtschaft wird nicht ausreichen, um die „Große Trennung“ zu überwinden. Für die Große Transformation braucht es mehr.

Wie kommen wir zu einer Ethik der Bescheidenheit?

Egal, ob man die „Große Trennung“ von Mensch und Natur wie Gabriel als vormoderne Erscheinung oder wie Scheidler als typisch für die Moderne auffasst, es geht um ein anderes Verständnis vom Menschen im Beziehungsgeflecht seiner Mitbewohner in dem begrenzten Lebensraum auf der Erde. Die philosophische Betrachtung, die Markus Gabriel dem Diskurs hinzufügt, könnte helfen, den einseitigen Blick auf die Ökonomie als Schlüssel zur Abkehr von dem verhängnisvollen Pfad zu weiten. In einem ausführlichen Gespräch beim Philosophischen Radio auf WDR 5 hinterlässt Gabriel ein paar Spuren, wie seine Vorstellung einer Ethik der Bescheidenheit praktisch werden kann.

Damit der Mensch von dem Pfad der Selbstausrottung herunterkommt, müssen wir den Sinn, der in der Wirklichkeit schon steckt, wieder erkennen lernen.

Das ist sozusagen das Lernprogramm, das ihm vorschwebt. Er zeigt sich überzeugt, dass eine Variation des Menschenbildes möglich sei. Es gebe auch heute nicht nur ein Menschenbld. Das moderne, nihilistische Menschenbild europäischer Prägung sei global betrachtet eine randständige Auffassung. In dem verbreiteten Wunsch, sich mit Indigenen zu befassen, sei bereits Ausdruck des Unbehagens, dass mit dem Menschenbild etwas nicht stimme.

Der Sinn des Lebens besteht darin, dass wir imstande sind, gemeinsam das moralisch Richtige zu tun. Die moralische Fortschrittsfähigkeit des Menschen ist der Sinn des menschlichen Lebens.

Gabriel berichtet über seine Begegnung mit Indigenen in Südamerika. Dort basiere die Gemeinschaft auf moralischer Überlegung. Ethische Probleme würden, z.B. bei den Kogi, in der Community ständig diskutiert. Sie säßen stundenlang beieinander und redeten nur darüber, was die Gottheit von ihnen möchte. Das Göttliche sei dort eine Mischung aus transzendenten Göttern und Natur.

Auf der globalen Ebene gebe es besonders in Krisen oder danach Momente globaler Solidarität, wie z.B. die Erklärung der Menschenrechte nach dem 2. Weltkrieg oder auch die ersten Wochen der Corona-Pandemie. Das sei die gemeinsam erlebte Stimmung gewesen. In solchen Momenten spürten wir, so Gabriel, dass wir hier gemeinsam vor demselben Problem stehen. Es gelte, daraus Kraft zu schöpfen für Handeln angesichts der Situation, in der sich die Menschheit heute befindet.

Unser wissenschaftliches Bewusstsein von der Wirklichkeit und unser moralisches Wissen darum, dass wir unser Verhalten radikal ändern können, gibt es bei den anderen Lebewesen nicht. Das macht uns zu etwas Besonderem, aber auch zu Lebewesen, die den Auftrag haben, sich genau deswegen um die anderen Lebewesen zu kümmern, weil wir es können.

Gabriel plädiert für eine radikale Diversität, also für eine andere Art der „Großen Trennung“, wenn man so will. Der Mensch, so schlägt er vor, solle sich als freies, geistiges Lebewesen auffassen, das radikal anders ist, als die anderen uns bekannten Lebewesen.

Wenn wir diese radikale Diversität anerkennen, haben wir den Menschen in einen anderen Bestimmungshorizont versetzt.

Gabriel spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen Aufklärung. Es gebe hier Elemente der Aufklärung – der Mensch als Wesen, das einen moralischen Auftrag habe, aber ohne die eurozentrischen Fehler der französischen Revolution. Dass mit Technik nicht alles lösbar sei, hätten wir inzwischen gelernt, meint Gabriel voller Zuversicht. Jetzt komme es darauf an, mit der existenzialistischen Grundidee der radikalen Freiheit Ernst zu machen und die dann auch politisch umzusetzen. Die scharfe Trennlinie bedeute nicht, dass wir im Kontrollsitz des Lebens sitzen. Gleichwohl gebe es das rationale Ich. Als organisch verfasste Lebewesen sei unsere Vernunft, unsere Rationalität, unser Geist immer wieder eine Errungenschaft, bis wir dann, kurz vor unserem Tod, alle daran scheitern, unser eigenes Leben zu führen. Zum Sinn unseres Lebens gehöre es, zumindest zu versuchen, gemeinschaftlich Bedingungen herzustellen, dass jeder Mensch das moralisch Richtige überhaupt tun kann.

Das gilt es zuerst einmal zu verdauen. Jedenfalls können wir uns darin üben, aus einer Zukunft zurückzuschauen und uns einen in diesem Sinne freien Menschen vorzustellen, der aus ethischen und moralischen Gründen an der Erzeugung dieser gemeinschaftlichen Bedingungen arbeitet. Von dem Nachruf auf Bruno Latour, den Milo Rau für die taz geschrieben hat, könnten wir uns inspirieren lassen und sagen: Wir haben im Rückblick aus einer Zukunft gelernt, den Blick nicht mehr allein auf die Tatsachen zu werfen, sondern auf das „Netzwerk“ zu richten, in dem die Tatsachen entstehen.

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Mehr dazu
Sensoren (20): Critical Zones
Sensoren (21): Philipp blom über die Macht unserer Vorstellungskraft
Sensoren (26): Wir sind ökologisch

Zukünfte (4): Entsteht eine ökologische Klasse?

Nichts wird uns retten, und ganz bestimmt nicht die Gefahr. Der Erfolg wird einzig von unserer Fähigkeit abhängen, die zufällig sich einstellenden Gelegenheiten beim Schopfe zu packen.

Mit diesem Zitat stimmt der Verlag potenziell Interessierte auf ein Memorandum ein, das Bruno Latour vor seinem Tod (gemeinsam mit Nikolaj Schultz) gewissermaßen als Vermächtnis zu Papier gebracht hat. Es widmet sich den Fragen: Wie kann die Ökologie in ihrem Zusammenhalt und ihrer Autonomie gestärkt werden? Wie kann sie die Politik organisieren statt nur eine soziale Bewegung neben anderen zu sein?

I

Das Memorandum verortet die ökologischen Anliegen heute in einer Vielzahl von Konflikten, die unverbunden nebeneinander exisitieren. Diese Vielfalt ist die Basis für eine als „Klasse“ formierte Ökologie. Dazu müsse die ökologische Bewegung die Konflikte zu einer für alle verständlichen Aktionseinheit zusammenschweißen. Anders als in früheren Klassenkämpfen habe man es bei der ökologischen Frage mit einem „Kampf um Klassifizierungen“ zu tun. Es herrsche Unklarheit, woraus die Klasse besteht, deren Teil man ist. Leute, so die Autoren, die derselben sozialen Klasse angehören, fühlen sich unter ihresgleichen als völlig Fremde, sobald ökologische Konflikte auftauchen. Die politische Ökologie müsse sich deshalb ständig die Frage stellen:

Wenn sich Auseinandersetzungen um die Ökologie drehen, wem fühlst Du Dich nahe und wem erschreckend fern?

S. 15

Neben dem Konflikt um die Klassifizierungen gibt es einen Konflikt um die materialistische Analyse unserer Existenzbedingungen. Ähnlich wie beim alten Klassenkampf geht es auch heute um die materiellen Existenzbedingungen. Nur handelt es sich, so Latour und Schultz, um eine andere Materialität. Während Marx die Produktion der materiellen Reproduktionsbedingungen als Fundament der sozialen Geschichte galt, wird unser Horizont nicht mehr ausschließlich durch die Produktion bestimmt. Wenn wir die materielle Existenz neu definieren, verlassen wir das dominante Koordinatensystem aus Produktion und Reproduktion. Die klimatischen Veränderungen zwingen uns dazu, die Prozesse neu zu beschreiben, kraft derer die Gesellschaften weiterbestehen. Wir erleben eine gewaltige Transformation der materiellen Basis unserer Gesellschaften. Es geht nicht mehr allein um die Existenzbedingungen der menschlichen Wesen.

Materialismus bedeutet heute, im Rahmen der Reproduktion der für den Menschen günstigen materiellen Bedingungen auch die Voraussetzungen für die Bewohnbarkeit der Erde zu berücksichtigen. Die Ökonomie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Einsatz von Ressourcen zum Zwecke der Produktion. Aber, so fragen die Autoren:

Existiert eine Ökonomie, die in der Lage ist, sich zurückzuwenden in Richtung des Erhalts der Bewohnbarkeitsbedingungen der terrestrischen Welt?

S. 21

Eine neue Ökonomie schaffen

Die Herausforderung für die neue ökologische Klasse sehen Latour und Schultz darin, eine neue Ökonomie zu schaffen, die der exklusiven Aufmerksamkeit für die Produktion den Rücken kehrt und sich neu ausrichtet auf die Suche nach den Bewohnbarkeitsbedingungen. Es gab in den letzten zwei Jahrhunderten zahllose Konflikte zwischen Liberalismus und sozialistischen Traditionen um die gerechte Verteilung der Erträge. Aber ihnen lag eine Einigkeit hinsichtlich der Erhöhung der Produktion zugrunde. Vorwärts, das war die Losung für beide Seiten.

Auf einmal erscheinen die Erhöhung der Produktion, der Begriff der Entwicklung selbst, der des Fortschritts als Wahnwitz, der abgestellt werden müsste.

S. 25

Die Lähmung, die wir überall spüren und erleben, erwächst aus der Verbindung von Produktion und Zerstörung der Bewohnbarkeitsbedingungen. Die mentale, moralische, organisatorische, verwaltungsmäßige und rechtliche Ausstattung war allzu lange mit der Entwicklung assoziiert. Jetzt büßt sie ihre Nützlichkeit ein. Aber eine neue Ausstattung ist noch nicht erarbeitet, die es möglich machen würde, zu handeln. Es ist, so die Autoren, die Aufgabe der ökologischen Klasse, diese Ausstattung zu liefern.

Wenn wir den Fokus unseres Wirtschaftens verschieben von der stetigen Steigerung der Produktion zur Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen unseres Lebensraums, reicht es nicht aus, den „Produktivismus“ einzuschränken. Mir kommt bei diesen Gedanken das „grüne Schrumpfen“ in den Sinn, wie es Ulrike Hermann vertritt. Es gehe darüber hinaus darum, sich völlig vom Horizont der Produktion abzuwenden. Dieses Prinzip der Konzentration auf die Produktion habe dazu geführt, dass alles als bloße Ressource betrachtet wurde. Es waren aber alle Lebewesen im Zusammenwirken mit Klima, Atmosphäre, Boden und Ozeanen, die über Milliarden Jahre den kontinuierlichen Fortbestand der von ihnen geschaffenen Existenz ermöglicht haben. Das Produktionssystem ist nur eine Randerscheinung in diesem Prozess des Erzeugens. „Erzeugen“ heißt, mit Sorgfalt die Wesen entstehen und fortbestehen lassen, von denen die Bewohnbarkeit der Welt abhängt.

Wir sind es gewohnt, Wachstum als einziges Mittel zu begreifen, um uns aus der Affäre zu ziehen, wobei wir vergessen, welche Zerstörungen es anrichtet. … Es geht nicht um „weniger Wachstum“, sondern darum, endlich zu prosperieren.

S. 27

Der Klassenkampf findet nicht mehr innerhalb des Produktionssystems statt, sondern zwischen dem Erhalt der Bewohnbarkeitsbedingungen und dem Produktionssystem. Mit einem Zitat von Pierre Chardonnier bringen die Autoren die Bestimmung der ökologischen Klasse auf den Punkt: Sie verbindet die Welt, in der wir leben, mit der Welt, von der wir leben.

“Die Ökologie wächst aus ihren Kinderschuhen heraus“

Die liberale und die sozialistische Tradition haben ihr Projekt der Entwicklung und des Fortschritts verraten, weil sie das Ausmaß der Katastrophe nicht vorherzusehen wussten. Sie haben damit, so die Autoren, die Legitimität verspielt, den Sinn der Geschichte zu definieren und den Respekt der anderen Klassen einzufordern. Es werde deshalb Aufgabe der ökologischen Klasse sein, den Horizont des Handelns über die Produktion und über den von den Nationalstaaten definierten Rahmen hinaus zu erweitern. Die ökologische Klasse müsse an zwei Fronten kämpfen: gegen die illusorische Globalisierung und gegen die Rückkehr in ein von Grenzen umgebenes Inneres.

Wie ist zu erklären, dass die seit Jahrzehnten offenlichtliche Dringlichkeit keine Mobilisierung der Massen auslösen kann? Der Hinweis auf Desinformationskampagnen, die Macht der Lobbys und die Trägheit der Mentalitäten reiche nicht aus. Wohlstand, Emanzipation und Freiheit waren die bestimmenden Werte. Wie sollte jetzt bei den bestimmenden Klassen Begeisterung aufkommen, wenn man ihnen sagt, dass diese Werte von Grund auf umgestaltet werden müssen? Sich für den Erhalt der Bewohnbarkeitsbedingungen einzusetzen, damit sei noch nichts assoziiert, was Begeisterung auslösen könnte. Wo ist die Garantie für Wohlstand? Wo das Versprechen, die Emanzipation voranzutreiben? Wie soll das Ideal der Freiheit aufrechterhalten werden?

Die Neubestimmung dieser Werte beruht auf einer Umkehrung. Wenn die ökologische Klasse den Erhalt der Bewohnbarkeit anstrebe, treffe sie auf ihre wahren Eigentümer.

„Es sind die Lebewesen, die definitionsgemäß Eigentümer ihrer selbst sind, da sie sich selbst geschaffen haben … anhand eines Prozesses, der … sich selbst erzeugt hat.“

S. 41

Auf einmal sei die Natur kein Opfer mehr, das es zu schützen gelte. „Sie besitzt uns.“ Aus dieser Umkehrung ziehe eine Armee von Juristinnen und Juristen gegenwärtig die Konsequenzen, bis in die Rechtsprechung hinein. Die Erzeugungspraktiken, die die Bewohnbarkeit der Lebensumstände wiederherstellen, aufrechterhalten und verstärken, werden wieder zu dem, was entdeckt und gepflegt werden soll.

Die Zeit arbeitet nicht für die ökologische Bewegung – und sie ist knapp. Der Aufstieg einer Klasse sei kein zwangsläufiger Prozess, stellen die Autoren mit Rückgriff auf Norbert Elias fest. So wenig eine Modernisierungsfront unabwendbar ist, so wenig ist es eine „Ökologisierungsfront“. Das Ausmaß der sich vollziehenden Katastrophe wird von sich aus keinen Bewusstseinswandel auslösen.

„Nichts wird uns retten, und ganz bestimmt nicht die Gefahr. Der Erfolg wird einzig von unserer Fähigkeit abhängen, die zufällig sich einstellenden Gelegenheiten beim Schopfe zu packen.“

S. 46

Wandel des Zeitverständnisses

Ziemlich radikal klingt, was die Autoren zum Wandel des Zeitverständnisses sagen. In der Moderne sei die Geschichte als Vorwärtsbewegung gedacht worden. Vor sich die Zukunft, die von der Vergangenheit abgeschnitten worden sei. Die ökologische Klasse sei hingegen gefordert, in vielfacher Art und Weise zu wohnen und sich um die Erzeugungspraktiken zu sorgen. Was zur Vergangenheit, zur Gegenwart oder zur Zukunft gehöre, sei dabei gleichgültig. Der Zeitpfeil der Geschichte werde abgelöst durch eine Zerstreuung in alle Richtungen.

Die Corona-Pandemie hat uns unsere Unfähigkeit vor Augen geführt, angemessen und schnell auf das neue Klimaregime zu reagieren. Das Modell der Moderne von der jederzeit beherrschbaren Natur habe sich in ein Virus verwandelt, das sich unaufhörlich von Mund zu Mund verbreitet, das ansteckend ist, mutiert, überrascht.

Wir sind nicht länger Menschenwesen in der Natur, sondern Lebewesen inmitten anderer Lebewesen in offener Entwicklung mit und gegen uns.

S. 49

Ist die ökologische Klasse potenziell in der Mehrheit?

Alle diese Lebewesen nähmen an demselben „Terraforming“ teil. Es gab, so die Autoren, im Verständnis der alten Welt einen Rahmen, der auf unser Handeln nicht reagierte. Jetzt plötzlich reagiert er auf allen Ebenen: Viren, Klima, Humus, Wälder, Insekten, Mikroben, Ozeane und Flüsse. Wir wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen. Die Fragen der Erzeugung übersteigen uns. Es sei Aufgabe der ökologischen Klasse, diesen Befund zu diagnostizieren und Therapien zu entwickeln.

Die potenziellen Mitglieder der ökologischen Klasse sehen Latour und Schultz schon in riesiger Zahl vorhanden. Sie zählen die Arbeitenden dazu, die den Reichtum produzieren. Oder die Bewegungen des Feminismus, die postkolonialen Bewegungen, die indigenen Völker und die Jugend, deren Zukunft die Babyboomer im voraus verschlungen haben, die Wissenschaftlerinnen, die auf verschiedene Weise in den neuen Erdsystemwissenschaften engagiert sind, die Ingenieure und Innovatoren, die ihrer Kapazitäten zum Erfinden beraubt worden sind, die Aktivistinnen, Protestler, Menschen guten Willens, gewöhnliche Bürger, Bäuerinnen, Gärtner, Industrielle, Investoren und alle, die mit eigenen Augen zuschauen mussten, wie ihr Territorium verschwand. „Sie alle könnten spüren, dass sie Teil dieser sich bildenden Klasse sind, auch wenn es ihnen vorerst noch schwer fällt, darin ihre Ideale zu erkennen.

Das Memorandum liest sich über weite Strecken wie eine schier endlose To-do-Liste für die sich formierende ökologische Klasse. Die Liste der Herausforderungen und Aufgaben ist lang. Der Kampf der Ideen hat dabei nach dem Eindruck der Autoren noch gar nicht richtig begonnen.

Die anderen Klassen veranstalten einen Höllenlärm, nehmen den gesamten Medienraum in Beschlag, besetzen die Zeitschriften, die Fernsehsender, die Tageszeitungen, monopolisieren die Ausbildung des Personals im höheren Staatsdienst, schaffen immer mehr Managementschulen und Lehrstühle für Wirtschaftswissenschaften – und wo sind die entsprechenden Organe der ökologischen Klasse?

S. 59f.

Es reiche nicht, allein die „ökologischen Interessen“ zu vertreten, um die Kämpfe um die Besetzung, die Beschaffenheit, den Gebrauch und den Erhalt der Territorien und der Subsistenzbedingungen zu gewinnen. Eine umfassende Bestandsaufnahme des kulturell Vorhandenen sei unabdingbar. Es gelte die Humanwissenschaften neu zu beleben und herauszufinden, wie die neue Erde sich äußert und empfunden wird. Auch die Künste gelte es, sich zu erschließen. Dichtung, Film Roman, Architektur – nichts dürfe der ökologischen Klasse fremd sein. Die Wissenschaften, besonders die Naturwissenschaften, soweit sie sich den strittigen Themen zum System „Erde“ widmeten, müsse man im Detail verfolgen.

Mit Blick auf das Politische weisen die Autoren des Memorandum schließlich darauf hin, dass die ökologische Klasse ihre Interessen nicht bestimmen könne, weil wir die konkreten Situationen nicht beschrieben haben, in denen wir stecken. Dieser erste Schritt sei unerlässlich, ungeachtet der Schnelligkeit und des Ausmaßes des sich vollziehenden grundlegenden Wandels. Die Staatsbürger stürzten sich angesichts dieses Befunds in die „trübsten Leidenschaften“: Klagen und Proteste. Diese richteten sich aber an den alten Staat, der zum Phantom geworden sei.

Die einen, unten, wissen nicht mehr, wie sie ihre Beschwerden artikulieren können, da ihnen die Kenntnis darüber fehlt, wo sie sich überhaupt befinden und wer ihre Feinde sind. Die anderen, oben, sind außerstande, dem zuzuhören, was sie gefragt werden … Stumme sprechen zu Tauben.

S. 79

Es gebe keinen Staat der Ökologisierung. Weder Beamte noch Abgeordnete seien in der Lage, anzugeben, wie der Wechsel von Wachstum zur Prosperität gelingen kann. Unerlässlich ist nach der tiefen Überzeugung der Autoren die Beschreibung der Lebensbedingungen, eine Selbstbeschreibung, die die Schieflage aufdeckt zwischen der Welt, in der wir leben, und der Welt, von der wir leben. Diese mit anderen geteilten Beschreibungen verändern die Positionen eines jeden und verwandeln die Politik weg von der Produktion, hin zur Wahrung der Bewohnbarkeit. „Das Politische kommt zurück.“

Einen Hauch von Utopie erlauben sich die Autoren des Memorandums im Nachwort. Es wäre tröstlich, wenn – wie in dem berühmten Freskenzyklus Allegorien der Guten und der Schlechten Regierung von Ambrogio Lorenzetti in Siena – nicht mehr künstlich unterschieden werden würde, zwischen dem, was zum Handel, zur Architektur, zur Landschaft, zur Kunst, zur Landwirtschaft oder dem städtischen Leben gehört. Bei der „guten Regierung“ sind alle Bereiche miteinander verwoben. Ähnlich wäre es bei einer ökologischen Politik. Ökologie und Ziviilisation wären gleichbedeutend.

Ambrogio Lorenzetti – Bad Government and the Effects of Bad Government on the City Life – Palazzo Pubblico, Siena – Erstellt zwischen 1338 und 1340 – Wikipedia

II

Wie können wir nun aus diesen gleichermaßen abstrakten wie anspruchsvollen Gedanken und Überlegungen auf Vorstellungen von der Zukunft schließen? Das Memorandum lese ich als Versuch, die Voraussetzungen eines Übergangs in eine Lebensweise zu beschreiben, die die Bewohnbarkeit unseres Lebensraums wahrt. Das Memorandum knüpft an frühere Schriften von Bruno Latour an, wie z.B. das Terrestrische Manifest, (das ich vor einiger Zeit hier vorgestellt hatte). Darin hatte er bereits auf die Notwendigkeit der Erkundung und Beschreibung unseres Territoriums und unserer Abhängigkeiten als Voraussetzung für die drängende Erneuerung des Politischen hingewiesen.

Wie kann man sich diese Erkundung und Selbstbeschreibung vorstellen? Während der Corona-Pandemie habe ich diesen Blog-Beitrag mit Beispielen für mögliche relevante Fragen der Selbstbeschreibung gepostet. Das Memorandum betont die Unverzichtbarkeit dieser Erkundungen, die neue Erkenntnisse über das Zusammenwirken mit den anderen Lebewesen als Akteure in unserem Lebensraum hervorbringen kann, Gemeinsamkeiten und Unvereinbarkeiten deutlich machen kann und das Politische neu beleben und auf die Ökologisierung ausrichten kann. Sich uns als erkundende und beschreibende Wesen vorzustellen – schon allein dies verändert die Vorstellung von einer gelungenen Zukunft.

Wir können mit diesem Memorandum dem Bild, das wir im letzten Blog-Beitrag gewonnen haben, einen Mosaikstein hinzufügen. Wir erinnern uns, dass Ulrike Herrmann kritisiert hatte, dass es zwar reichlich Beschreibungen einer Gemeinwohl- oder Postwachstumswirtschaft oder -gesellschaft gebe, aber keinerlei Forschung, wie der Übergang, die große Transformation, gestaltet werden könne. Sie schlug für das notwendige „grüne Schrumpfen“ den Rückgriff auf eine Wirtschaft vor, in der der Staat die Produktion rationiert. Sie sagte jedoch wenig über die politischen Voraussetzungen für dieses postkapitalistische Wirtschaften. Das Memorandum fügt diesem Bild von der ökonomischen Seite der Transformation einen Baustein hinzu: die Erneuerung der Politik von unten durch praktische Erkundung der Welt, in der wir leben, und durch das Mitteilen und Abgleichen der Selbstbeschreibungen mit anderen.

Eine praktische Handreichung für die Erkundung und Selbstbeschreibung hat kürzlich auch Maike Sippel, Transformationsforscherin an der Hochschule Konstanz, vorgelegt. Sie gibt 12 Ideen weiter, wie jeder und jede zum Gelingen der anstehenden sozialökologischen Transformation beitragen kann. Vielleicht können wir manches davon nicht nur 2023, sondern dauerhaft beherzigen.

Zukünfte (3): Wege und Übergänge. Über die Praxis der Transformation

Die Große Transformation – so nennen wir den Wandel der Gesellschaft und der Organisationen hin zu einer ökologischen Lebensweise. Im letzten Blog-Beitrag dieser Reihe zu möglichen Zukünften hatten wir festgestellt oder uns vorgestellt, dass friedliches menschliches Zusammenleben mit den lebenden Organismen der Biosphäre die Wachstumswirtschaft in einer näheren oder ferneren Zukunft überwunden haben wird. Die reine Beschreibung einer Welt ohne Wachstum klingt schlüssig. Wir ahnen aber auch, dass der Weg dahin steinig gewesen sein wird. Mit welche Brüchen wird die einschneidende Transformation verbunden gewesen sein?

Also drängt sich die Frage auf: Wie hat der Weg ausgesehen, auf dem wir diesen neuen Zustand überhaupt erreicht haben? Aus heutiger Sicht müssen wir nüchtern zwischenbilanzieren, dass wir mit den bis dato eingeleiteten und vollzogenen Schritten hinter der Vision eines Lebens im ökologischen Gleichgewicht weit zurückbleiben werden. Also wird irgendetwas grundlegend anders gelaufen sein müssen.

Hat das BIP ausgedient?

In dem ARTE-Beitrag „Brauchen wir Wirtschaftswachstum“ kommen die befragten kundigen Menschen zu ähnlichen Schlüssen, wie sie in meinem letzten Blogbeitrag anklangen. Die Bilanz in einer zukünftigen Gegenwart offenbart uns: Das Wachstum der Wirtschaft, auch die Vorstellung, grünes Wachstum sei möglich, ist überwunden, der Pro-Kopf-Verbrauch von fossilen Brennstoffen ist auf Null, der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch stark reduziert, Abfälle sind Ressourcen in einem kontinuierlichen Kreislauf.

Auf dem Weg dahin ist wesentlich, die volkswirtschaftliche Rechnung, die sich fast ausschließlich am Bruttoinlandsprodukt orientiert, grundlegend umzustrukturieren. Denn sie sagt was über die gesamte Wirtschaftsleistung, aber nichts über den Wohlstand einer Gesellschaft. Durch technischen Fortschritt sind Ressourcenverbräuche nicht geringer geworden. Dafür hat schon der Rebound-Effekt gesorgt, der hinter jeder technischen Innovation lauert. Grünes Wachstum funktioniert bisher nicht. Wenn wir das Wachstum zurückfahren und das politisch initiiert, könnte das die Klimakrise bremsen und sogar zu mehr Wohlstand führen, so wird in dem ARTE-Beitrag der Weltklimarat zitiert.

Weitere Strategien hat Marcia Bjornerud kürzlich in einem Radio-Beitrag von SWR2 Wissen über das Anthropozän aufgezählt. Steueranreize und Subventionen neu ausrichten auf diejenigen, die sich bei ihren Entscheidungen an den langfristigen Auswirkungen orientieren und nicht an der Ausbeutung der Erde, bis die Ressourcen aufgebraucht sind. Oder die Einrichtung eines Zukunftsministeriums, das die Prioritäten neu setzen würde. Oder die Organismen in der Biosphäre mit einklagbaren Rechten ausstatten, wie es z.B. Neuseeland im Falle des Whanganui-Flusses praktiziert hat.

Arbeit an der Weltbeziehung als Schlüssel zur Mäßigung?

Ein weiteres Beispiel liefert der Soziologe Hartmut Rosa aus soziologischer Sicht. Er hat sich mit dem Phänomen der Beschleunigung auseinandergesetzt. Er diagnostiziert – übrigens ähnlich wie Nico Paech – eine wachsende Zeitarmut als die Kehrseite des wachsenden Wohlstands (s. Video ab Min. 41). Wir kaufen viele Dinge, ohne sie zu nutzen, weil wir die Nutzung in unserem begrenzten Zeit- und Aufmerksamkeitsbudget gar nicht unterbringen. Der Wohlstand beruht darauf, dass wir jedes Jahr mehr produzieren, konsumieren und verteilen, als im Vorjahr. Wir können das Bestehende nur durch permanente Steigerung erhalten. Wir können uns das Ende in 1000 verschiedenen Varianten denken, haben aber keine Idee einer Alternative zum Wachstum. Unsere moralischen Vorstellungen haben sich von unserer Lebensform entkoppelt. Überall ist zu vernehmen, wie nachhaltig man sein will oder wie wichtig einem mehr Gerechtigkeit ist. Auf die Lebenspraxis schlägt das aber nicht durch.

Was ist seine Antwort auf diesen Befund? Er möchte die Motivation ändern. Wir sollten das sinnentleerte und ökologisch verheerende Wachstum erst gar nicht mehr wollen. Nicht noch mehr essen, noch mehr fliegen, noch mehr Autos fahren, T-Shirts noch schneller wechseln, noch schneller das neueste Handy kaufen.

Wir leben in einem Aggressionsverhältnis zur Welt. Wir sehen das auf drei Ebenen: in der Art, wie wir mit der Natur umgehen. … Auf der sozialen Ebene, wo wir wieder Krieg führen. … Wir haben auch ein Aggressionsverhältnis zu uns selbst.

Ab Min. 54

Bei Jugendlichen sei diese Haltung häufig zu beobachten: „Ich bin nicht schnell genug, ich bin nicht schön genug, ich bin nicht fit genug. …“ In dem trotz der Länge spannenden Gespräch bleibt letztlich offen, wie sich unsere Motivation ändern könnte. Rosa hat mit dem viel beachteten Resonanz-Konzept den Anspruch, eine Vision zu liefern, wie die Welt sein könnte. Offen bleibt jedoch auch bei ihm, wie der Weg dahin aussehen könnte. Sein Anspruch ist es erst gar nicht, einen Weg aufzuzeigen. Einen Anhaltspunkt liefert er gleichwohl, wenn er beklagt, dass Politik, die auf Ökonomen hört und auf Wachstum setzt, nur auf die Konsumseite blickt. Es sei ein neoliberaler Trick, alle sozialen und ökologischen Probleme dem Individuum aufzubürden.

Wir sind produzierende Wesen. Wir stellen unsere Lebensform und damit eine bestimmte Beziehung zur Welt her. Das machen wir nicht über das Konsumieren, sondern über das Produzieren. Menschen sind … stoffwechselnde Wesen. … Da könnte eine Diskursverschiebung helfen.

ab Min. 104

Stärker auf die Produktionsseite der Wirtschaft schauen. Damit sind Politik und Wirtschaft als Akteure angesprochen, die einen wesentlichen Schlüssel in der Hand halten, der die Tür zu einer Gemeinwohlwirtschaft öffnen könnte.

Rationierung des Ressourcenverbrauchs?

Ulrike Hermann gehört zu den Stimmen, die die Zielvorstellung und Vision eines Genug oder einer Mäßigung teilen. Sie beklagt aber die fehlende Debatte über den Weg dahin. Deshalb hat sie sich mit ihrem Buch „Das Ende des Kapitalismus“ und in vielen Vorträgen aufgemacht, einen konkreten Vorschlag zu machen und darüber die überfällige Diskussion anzuregen.

Sie geht davon aus, dass der Kapitalismus kollabieren wird.

Wir haben alle vom Kapitalismus profitiert, weil er Wohlstand und Wachstum erzeugt hat. Es gibt leider ein Problem: Der Kapitalismus erzeugt nicht nur Wachstum, sondern er braucht auch Wachstum, um stabil zu sein.

Min. 5

In einer endlichem Welt könne es jedoch kein unendliches Wachstum geben. Im Augenblick leben die Europäer so, als könnten sie drei Erden verbrauchen. Wenn alle so leben würden, wie die Menschen in den USA bräuchten wir fünf, Katar als Maßstab würde bedeuten, wir bräuchten 33 Planeten. Der Kollaps ist bisher ausgeblieben, weil andere Länder, vor allem Afrika, ihren Anteil nicht ausreizen. Ulrike Herrmann macht zwei absolute Grenzen aus: die Rohstoffgrenze und die Umweltgrenze. Wir rotten die Arten aus, wir ruinieren die Böden, die Süßwasserreserven und die Meere.

Was tun? Die eine Idee: Wir reduzieren den Konsum. Nur: Da gibt es ein Problem. Wir alle kaufen, um das System zu stabilisieren und nicht nur, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Viele Gegenstände, die wir kaufen, nutzen wir nie oder selten. Wenn wir aber plötzlich mit dem Kaufen ohne Bedarf aufhörten, würde das Wirtschaftssystem zusammenbrechen. In der Corona-Krise haben wir alle miterlebt, wie der Staat mit 500 Mrd. € den Kollaps der Wirtschaft abwenden musste. Hätte er es nicht getan, wäre eine unaufhaltsame Abwärtsspirale in Gang gekommen. Ein solches chaotisches Schrumpfen würde zugleich unser demokratisches Zusammenleben extrem gefährden. Das will niemand, stellt Ulrike Herrmann treffend fest.

Deshalb die zweite Idee: Grünes Wachstum, das auf technologische Lösungen setzt. Praktisch alle Parteien, die EU-Kommission, die EZB, der IWF oder die Weltbank vertreten diese Idee, so Ulrike Herrmann. Die schlechte Nachricht wird ausgeblendet. Die Öko-Energie wird nicht reichen, um dieses grüne Wachstum zu befeuern. Es gibt nur zwei Technologien, um die Energie der Sonne einzufangen: Solarpaneele und Windräder. Nur Strom lässt sich ökologisch herstellen. Sämtliche Produktion muss deshalb auf Strom umgepolt werden. Technisch ist das möglich, so Herrmann, aber die Zahlen sprechen eine ernüchternde Sprache. Die Windenergie habe 2021 nur 4,7 % des Endenergieverbrauchs abgedeckt, die Solarenergie nur 2 %. Ökoenergie wird knapp und teuer bleiben, weil der Solarstromertrag saisonal stark schwankt, Windenergie wetterbedingt kaum planbar ist und deshalb aufwändige Speicher benötigt werden. Daraus zieht Herrmann den bitteren Schluss.

Es geht nicht um grünes Wachstum, sondern um grünes Schrumpfen.

Es wurden bisher keine Modelle entwickelt, die durchgerechnet hätten, wie eine Wirtschaft aussähe, die an die verfügbare Menge an Ökostrom angepasst ist. Deshalb nimmt Herrmann beispielhaft an, die Wirtschaft müsste sich halbieren. Dann würden wir bei einer Wirtschaftsleistung vergleichbar dem Jahr 1978 landen. Wenn wir vergleichen, wie unser Lebensstil damals ausgesehen hat, können wir annehmen, dass auch mit einer Wirtschaft in dieser Größenordnung ein zufriedenstellendes Leben möglich wäre.

Die Gretchenfrage, die Ulrike Herrmann umtreibt: Wie kommen wir von einer auf Wachstum angewiesenen Wirtschaft zu einer ökologisch verträglichen Kreislaufwirtschaft, ohne auf dem Weg dahin schwere Wirtschaftskrisen mit Millionen von Arbeitslosen zu produzieren und eine populistische Demokratiefeindlichkeit zu provozieren?

Dieser Übergang, häufig auch die „große Transformation“ genannt, ist alles andere als trivial und bisher überhaupt nicht erforscht. Im Mittelpunkt stehe, so Herrmann, die Frage: Wofür wird die Öko-Energie reichen? Herrmann scheut sich nicht, zu unterscheiden. Einige Beispiele, was nach ihrer Einschätzung nicht mehr geht, weil die Öko-Energie dafür nicht reicht: Fliegen. Bio-Kerosin herzustellen, ist schlicht zu energieaufwendig, und es erzeugt auch Kondensstreifen, die die Wärmeabstrahlung behindern. 850.000 Menschen sind in Deutschland in diesem Feld direkt oder indirekt beschäftigt. Oder Auto fahren. Nicht jeder kann ein e-Auto fahren, weil der Öko-Strom dafür nicht reicht. Viel mehr Menschen werden auf Busse und Bahnen angewiesen sein. In dieser Branche sind 1,75 Mio. Menschen beschäftigt. Auch Dienstleistungen würden sich völlig verändern. Banken und Lebensversicherungen würden in einer schrumpfenden Wirtschaft zwangsläufig zusammenbrechen, weil Kredite nur zurückgezahlt und Lebensversicherungen einen Überschuss erwirtschaftet werden können, wenn es Wachstum gibt. Oder Medien. In einer schrumpfenden Wirtschaft würde niemand mehr Anzeigen in Zeitungen schalten. Wenn Waren knapp werden, braucht man keine Werbung mehr dafür machen. Auf der anderen Seite würden viele neue Arbeitsplätze entstehen, z.B. im Ökolandbau oder in der Forstwirtschaft. Es könnten alle Arbeit haben, aber nicht mehr das gleiche Einkommen, wie bisher.

Eine Transformation dieses Ausmaßes und dieser Konsequenz scheint beispiellos. Doch ein Blick in die Geschichte lohne sich, so Herrmann. Sie findet ein Beispiel für eine schrumpfende Wirtschaft im Kapitalismus in der britischen Kriegswirtschaft ab 1939. Damals hatten die Briten angesichts der Bedrohung durch Nazi-Deutschland innerhalb von Wochen ihre gesamte Wirtschaft in eine private, demokratische Planwirtschaft umgestellt. Im Gegensatz zur zentralen Planwirtschaft sowjetischen Typs setzten die Briten auf private Wirtschaftsakteure. Der Staat hatte Vorgaben gemacht, was noch produziert wird. So wurden die Kapazitäten frei, die man für die Rüstungsindustrie brauchte. Die erzeugten Güter wurden vom Staat verteilt. Es wurde rationiert. Jeder bekam das Gleiche. Es war in der Krisensituation ein großer Erfolg. Die Menschen nahmen die Einschränkungen entspannt hin, weil sie wussten, dass alle gleich behandelt werden. Die Briten hatten an dem erfolgreichen Modell bis 1954 festgehalten (siehe im Video ab Min. 28).

Die Klimakrise wird Rationierungen auch bei uns erzwingen, was bei der Wasserknappheit während Hitzeperioden mancherorts schon greifbar nahe liegt. Die Erfahrung lehrt, dass in solchen Knappheitssituationen bei Gütern der Grundversorgung der Ruf nach dem Staat, der entscheidet, wer wieviel verbrauchen darf, sehr nahe liegt. Die Frage ist, so Ulrike Herrmann, steigen wir rechtzeitig und geordnet aus dem Kapitalismus aus, um die schlimmsten Folgen der Klimakrise zu vermeiden oder ziehen wir einen chaotischen Prozess vor, der ebenfalls in eine Krisenwirtschaft führt, wenn der Kapitalismus zusammengebrochen ist?

Wandel muss politisch regulierend begleitet werden

Es gibt auch andere Stimmen, die die Situation ähnlich einschätzen. „Wenn unsere Wirtschaft durch eine große Transformation geht, … dann ist es normal, aber auch notwendig, diesen Wandel politisch eng und mit einer Regulierung zu begleiten, die sich immer wieder den neuen Umständen anpasst. Die eine große Lösung gibt es nicht.“ Das sagen der Historiker Frank Uekötter und die Historikerin Katja Patzel-Mattern im ZEIT-Interview. Sie setzen auf die Stärken des demokratischen Diskurses, der zum nötigen breiten Konsens für eine tiefgreifende Klimapolitik führen kann. Die historische Erfahrung lehre, dass sich die Bereitschaft für einschneidende Maßnahmen schnell und unerwartet bilden kann: „Wir haben gelernt, existenzielle Konflikte durch Teilhabe vieler Menschen an der politischen Debatte friedlich zu lösen.“

In den Medien sind derzeit viele besorgte Stimmen zu vernehmen. Sie versuchen sich aber nur zaghaft an konkreten Vorschlägen. Die Debatte wirkt häufig richtungslos und unsicher. Sie oszilliert zwischen allgemeinen Forderungen nach institutionellen Reformen, nach einer anderen Steuerpolitik, der Ausstattung der Biosphäre mit einklagbaren Rechten, Reformen der Finanzmärkte, der Abkehr von der Verzichtsrhetorik durch neue Narrative und natürlich vielen Ideen für technische Innovationen.

Es ist die große Stärke von Ulrike Herrmann, dass sie sich damit nicht zufrieden gibt. Sie vermittelt nach meinem Eindruck ein erstes greifbares Bild von einer Wirtschaft der nahen Zukunft, das die Illusionen zu überwinden versucht und die Alternativen angesichts der Begrenzheit unseres Lebensraums ungeschminkt und konsequent zu benennen versucht.

Zukünfte (2): Verzicht, Genügsamkeit, Unterlassen

Wachstumskritik nimmt in der Debatte über die Klimakrise und den Möglichkeiten, aus ihr herauszukommen, einen breiten Raum ein. Auf der Suche nach Zukunftsbildern könnte es sich deshalb lohnen, in einem ersten Schritt einen Blick auf die Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum zu werfen. Die besorgten Stimmen sagen: Es gibt kein unendliches Wachstum in einer endlichen Welt.“ Die Biosphäre, in die wir und alles uns bekannte Leben eingebettet sind und an der wir teilhaben, ist nicht mehr als eine dünne Membran. Darauf hat der kürzlich verstorbene Soziologe und Philosoph Bruno Latour unermüdlich hingewiesen. Die sorglosen Stimmen sagen: „Klimaneutralität erlangt man nur über wirtschaftlichen Fortschritt. Nicht Verzicht ist die Lösung, sondern Wachstum und Fortschritt.“ So Bundeskanzler Olaf Scholz kürzlich bei den 150. Baden-Badener Unternehmergesprächen (BNN vom 12.9.2022).

Wenn wir über Leben in der Zukunft reden, scheint das eine Schlüsselfrage zu sein. Was passiert mit dem Wachstum? Müssen wir davon abrücken? Müssen wir verzichten? Was bedeutet es, genügsam zu leben? Wie können wir unterlassen? Das Haus am Dom in Frankfurt hat dazu im Herbst 2021 eine Tagung veranstaltet, in der drei „besorgte“ Stimmen – eine ökonomische, eine buddhistische und eine christliche – zu Wort kamen.

Für eine Kultur des Genug traten alle drei Vortragende ein. Zunächst stellte Niko Paech, Ökonomieprofessor an der Universität Siegen, seine Wachstumskritik vor und zeigte die Grundzüge einer Postwachstumsökonomie auf. Seine Kritik richtet sich gegen die einseitige Fokussierung auf die Angebotsseite, die davon ausgehe, dass es genüge, die Technik und die Unternehmensseite der Wirtschaft zu verändern, um die ökologische Krise zu bewältigen. Das reiche jedoch nicht aus. Die Reduktionspotenziale auf der Nachfrageseite seien wichtiger. Paech zeigt sich skeptisch, ob die parlamentarische Demokratie in der Lage ist, diese Potenziale zu erschließen. „Wir müssen es selbst tun,“ meint er mit Blick auf die Zivilgesellschaft. Das Schlüsselwort sei Suffizienz.

Suffizienz ist das Gegenteil des Konsums

Mit Subsistenzwirtschaft, Regionalökonomie und Umbau einer mit der Transformation verkleinerten Industrie kann die Angebotsseite einen wichtigen Beitrag zu einer Postwachstumsökonomie leisten. Auf der Nachfrageseite ist es die Suffizienz, die in der Transformation gefragt ist. Paech stellt klar: Suffizienz ist das Gegenteil des Konsums. Es geht hier nicht um nachhaltigen Konsum, sondern um die Kunst der Genügsamkeit. Man könnte auch sagen, des Unterlassens. Das passiert praktisch, wenn wir das Anspruchsniveau reduzieren, also nur noch einmal die Woche Fleisch essen oder nur einmal jährlich in Urlaub fahren. Eine weitere Möglichkeit ist die Selbstbegrenzung. Man begnügt sich mit einem bestimmten Versorgungsniveau, obwohl eine Steigerung finanziell möglich wäre. Etwa Kleiderkauf nur noch, wenn Ersatz nötig ist. Die dritte Möglichkeit wäre die vollständige Entsagung, wenn z.B. jemand komplett ohne Fleischkonsum, ohne Flugreisen oder ohne Auto lebt. Die Suffizienzdebatte ist eng mit der Idee der Entschleunigung verbunden, weil jede Reduktion von Konsumhandlungen zugleich als Streckung der Zeitabstände zwischen Konsumhandlungen gesehen werden kann.

Ethisch lässt sich Suffizienz auf vier verschiedene Weisen begründen. Auf der Seite der Verantwortung könnten wir zu dem Schluss kommen, ökologische Grenzen könnten nur durch Verzicht eingehalten werden. Oder wir könnten für uns einen „verdienten“ Wohlstand definieren. Auf der Seite der Selbstsorge liefert die Resilienz eine Begründung für Suffizienz, sowohl in ihrer ökonomischen als auch psychologischen Ausprägung. Individuelles Wohlbefinden verlange danach, sich hie und da Grenzen zu setzen.

Zur Einhaltung ökologischer Grenzen gibt es keine Alternative, wenn wir die ökologische Tragfähigkeit wahren wollen. Allzu lange dachten wir, wir könnten unseren Wohlstand von den ökologischen Grenzen entkoppeln. Paech legt den Finger in die Wunde.

Alle bis heute unternommenen Versuche, über technologischen Fortschritt unseren ohne Wachstum nicht zu stabilisierenden Wohlstand zu entkoppeln von ökologischen Schäden, sind nicht nur gescheitert. Sie waren kontraproduktiv.

Wir dachten zudem allzu lange, durch endloses Wachstum würde sich der Wohlstand der Industrienationen im globalen Norden über alle Kontinente ausbreiten. Beim Bundeskanzler (Quelle: s.o.) klingt das so: Man werde keinen Einwohner der aufstrebenden Länder in Südamerika und Afrika dazu überreden, „nicht genau so viel Auto zu fahren, wie wir. Aber wir können ihnen sagen, dass wir die Technik haben, die es ermöglicht, dass Klima und Biodiversität darunter nicht leiden.“

Paech macht demgegenüber deutlich, dass globale Fairness geradezu Voraussetzung ist für unser aller Überleben. Wenn uns nur noch ungefähr 750 Mrd. t CO2-Äquivalente verbleiben, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, ist es eine einfache Rechnung, die zeigt, dass ein individueller CO2-Fußabdruck von 12 t für alle unmöglich ist. Das kann nur bedeuten, dass sich die Menschen in den wohlhabenden Ländern eine Lebensführung zulegen müssen, die für globale Gerechtigkeit innerhalb der ökologischen Grenzen sorgt. Wir haben damit, so Paech, die soziale Frage des 21. Jahrhunderts vor uns. Wer darf sich von dieser ökologisch noch halbwegs verträglichen Verteilungsmasse noch wieviel nehmen, ohne über seine Verhältnisse zu leben.

Nachhaltige Entwicklung kann nichts anderes sein, als globale Verteilungsgerechtigkeit innerhalb unverhandelbarer ökologischer Grenzen.

Die politischen Ansätze gehen von einer Gleichverteilung aus. Pro Kopf bedeutet das, jeder lebende Mensch darf 1 t CO2/Jahr emittieren. Ob wir das geschafft haben werden, können nur die persönlichen CO2-Bilanzen zeigen.

„Grünes“ Wachstum weist, so Paech weiter, die Verantwortung für Nachhaltigkeit nicht den Einzelnen zu, sondern den Maschinen, Häusern und Motoren. Sparsam soll der Verbrennungsmotor sein oder das Haus, aber nicht der Mensch. „Magisches Denken“ nennt Paech diesen Glauben an die Technik, der Politikern Wählerstimmen bringt. Ob wir global gerecht leben, könne sich aber nur daran bemessen, wieviel CO2 wir in einem Menschenleben verursachen.

Sogenanntes „grünes“ Wachstum setzt eine absolute Entkopplung der CO2-Emissionen und der Wertschöpfung voraus. Dabei werden, so Paech, gleich vier Probleme aufgerissen: die systematische Überschätzung des technischen Fortschritts, die systematische Unterschätzung der Rebound-Effekte, die Inkongruenz des Zielsystems und die systematische Handlungsunfähigkeit der Politik. Politiker würden sagen: Wir haben Erfolge erzielt im Klimaschutz, weil wir 10% mehr Zulassungen von E-Autos haben. Oft steckt dahinter ein ökologischer Ablasshandel. Seit 20 oder 30 Jahren wachse alles, was sich mit Klimaschutz in Verbindung bringen lässt. Trotzdem werden in den Industrieländern Jahr für Jahr neue Höchstwerte in der Inanspruchnahme knapper Ressourcen erreicht.

Wir können den ökologischen Ablasshandel nur auflösen, wenn wir uns in den Medien, in Wissenschaft und in der Wirtschaft nicht mehr an Objekten orientieren, sondern an konkreten ökologischen oder CO2-Rucksäcken.

Ein weiteres Problem ist die Handlungsunfähigkeit der Politik. So wenig wie eine Entkopplung eine politische Option sei, so wenig sei es wohl auch eine politische Steuerung in Richtung Nachhaltigkeit. Arthur Pigou, so Paech, habe alles Wichtige schon 1922 gesagt. Man muss die Stellgrößen so steuern, dass die Menschen anfangen, nachhaltiger zu leben. Die Politik habe nur versucht, umweltfreundlichere Artefakte für die Konsumenten attraktiver zu machen. Also ein Elektroauto statt eines Verbrenners oder ein mit Wasserstoff statt mit Kerosin angetriebenes Flugzeug. Wenn diese Alternativen jedoch nicht mehr Nachhaltigkeit erzeugen, müsste die Politik eigentlich dafür sorgen, dass die Menschen weniger Auto fahren oder fliegen. Da Politiker wiedergewählt werden wollen, tun sie das nicht.

Unser Wohlstand ist das Ergebnis einer dreifachen Entgrenzung oder Plünderung, wie Paech ungeschminkt ausspricht. Wir haben es mit einer zeitlichen Entgrenzung zu tun. Wir sind im Kollektiv permanent verschuldet. Die Verschuldung der Staaten sei die Grundlage unseres Wohlstandes. Wenn wir die gerechten Preise für unsere Grundbedürfnisse, für Ernährung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen bezahlen müssten, bliebe für Flugreisen nichts mehr übrig. Die physische Entgrenzung durch Maschinisierung, Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung sei der Motor des Wohlstandszuwachses, nicht menschliche Arbeitskraft und nicht menschliches Wissen. Die räumliche Entgrenzung, also die globalisierten Wertschöpfungsketten, der Zugriff auf die Ressourcen des globalen Südens, sei der dritte Faktor für unseren andauernden Wohlstandszuwachs.

Wenn man diese Sichtweise teilt, ändert sich auch die Auffassung, Suffizienz bedeute „Verzicht“. Wie können wir auf etwas verzichten, das uns nie zugestanden hat? Wie kann etwas „gerecht“ verteilt werden, das in einer gerechten Welt nie hätte entstehen dürfen, weil es auf Raubbau basiert?

Es spricht aber, folgt man Paechs Argumentation, noch ein anderer Punkt für Suffizienz. Wir haben mit den globalen Wirtschaftsbeziehungen ein störanfälliges Gebilde, ähnlich einem Kartenhaus, aufgebaut. Die Coronakrise hat gezeigt, was ein Virus in Wuhan auslösen kann. Resilienz, also Krisenstabilität, rückt wieder mehr in den Vordergrund. Paech definiert Resilienz als die Fähigkeit eines Systems, egal ob Gesellschaft, Funktionssystem, Organisation oder Individuum, Krisen zu überstehen, ohne die ursprüngliche Funktionsfähigkeit zu verlieren. Resiliente Systeme beruhen auf kurzen Versorgungsketten und sind kleinräumig, genügsam, autonom, flexibel, vielfältig.

Aber nicht nur die ökonimische Resilienz ist uns abhanden gekommen, sondern auch die psychologische Krisenfestigkeit. Forschungen zeigen, dass die Lebenszufriedenheit zu Beginn stark ansteigt, dieses Wachstum der Zufriedenheit jedoch mit zunehmendem Wohlstand gegen null tendiert. Wirtschaftliche Betätigung bringt also die größten Effekte in den ärmsten Ländern.

Der Bedarf an Selbstbegrenzung wächst mit dem Reichtum

Kein Konsum sei also keine Lösung, aber – auch hier gelte – die Dosis macht das Gift. Bei einer Überdosis Konsum drohe ein Konsum-Burnout. Die bisherige Konsumforschung weise einen blinden Fleck auf: die Abhängigkeit des Konsumnutzens von der Zeit. Der Mensch ist nicht in der Lage, seine Aufmerksamkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt auf mehrere Aktivitäten aufzuteilen. Die Konsumzeit ist also begrenzt, d.h. je mehr Güter wir konsumieren, umso weniger Zeit haben wir für das einzelne Gut. Es besteht die Gefahr, dass wir in einen Konsum-Burn-Out abrutschen.

Suffizienz habe., so Paech, zwei Begründungsebenen. Die Sollens-Ebene: Wer am stärksten über die Stränge schlägt, hat auch die größte Suffizienz-Last zu tragen. In armen Ländern brauchten wir nicht über Suffizienz reden. Der Bedarf an Selbstbegrenzung, die notwendig sei, um die ökologische Überlebensfähigkeit zu sichern, wachse mit dem Reichtum. Der Gradmesser für die Selbstbegrenzung sei die individuelle Öko- oder CO2-Bilanz. Die großen Brocken sind die Mobilität, die Digitalisierung und teilweise auch die Ernährung. Wir sollten, so Paech, effizient reduzieren, also dort, wo Luxus zu Buche schlägt.

Was wir als verzichtbaren Luxus betrachten, können wir nur in einem herrschaftsfreien Diskurs klären. Wir könnten dadurch ökonomische Effizienz mit sozialpolitischer Integrität verbinden – und wir könnten uns vor dem Konsum-Burn-Out bewahren.

Die einzige Möglichkeit, den Genuss zu sichern, ist, langsam zu bleiben.

Für eine Kultur des Genug

Der Pädagoge Manfred Folkers knüpft indirekt an diesen Befund an und verbindet ihn mit der Verbundenheit als Basis der buddhistischen Lehre – Verbundenheit in einem begrenzten Lebensraum Erde.

Wir sitzen in einem Boot, aber, wir rudern in die falsche Richtung.

Wie kann ich Kriterien finden, um die heutige Lage zu verstehen? Nach den Worten des Buddha sind es Gier, Hass und Verblendung, die unsere Situation prägen. Das Haben-Wollen sei ein ökonomisches Prinzip geworden. Ähnlich habe sich ein Konkurrenzprinzip entwickelt, das bewirke, dass alle gegeneinander wirtschaften und sich die Sache immer mehr beschleunigt. Wir schauen weg, wollen nicht wahrhaben, was passiert, wenn wir so weitermachen. Die Bagatellisierung ist seinerseits zu einem Prinzip des gesellschaftlichen Systems geworden. Folkers bringt es mit einem Zitat von Hans Jonas aus dessen Werk „Das Prinzip Verantwortung“ auf den Punkt.

Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.

Oder mit Buddha gesprochen: Heilsames tun, Unheilsames lassen.

Den Verzicht begehren?

Mit einem kritischen Blick nähert sich die Theologin Andrea Günter dem Thema Verzicht. Sie geht davon aus, dass der Mensch ein begehrendes Wesen ist. Deshalb hinterfragt sie den Titel der Veranstaltung „All you need is less“, weil er die Logik einfach nur umgedreht, aber nicht durchbricht. Nun werde das Begehren auf das Weniger, auf den Verzicht, gerichtet. Aus einer christlich-feministischen Haltung heraus sucht sie nach Wegen, alte Dichotomien aufzubrechen. Sie bekennt sich zum Haben-Wollen, allerdings unter anderen Vorzeichen.

Die Gedanken sind natürlich verlockend, weil wir sie leicht als entlastend abhaken können nach dem Motto: Wenn wir so sind, dann können wir doch weitermachen, wie bisher. Günter wäre jedoch gründlich missverstanden, wenn wir es uns in dieser Weise bequem machten. Wir sehen uns bei ihr stattdessen mit dem hohen Anspruch konfrontiert, eine Transformation zum Genug von einem Bekenntnis des Begehrens und der Wertschätzung der Güter her zu denken, die der Mensch geschaffen hat. Es fehlt uns, so Günter, bisher eine Sprache dafür. Menschen sind strebende Wesen. Dies bleiben wir auch, meint sie, wenn wir nach dem „Genug“ suchen.

Wenn wir sagen, „All you need is less“, begehren wir das Weniger. Wenn wir begehren, laufen wir Gefahr, dass wir getrieben werden. Darum geht es Andrea Günter. Das Ziel sei es, nicht Getriebene zu sein. Begehren sei Bedingung für Vervollkommnung. Die Aufgabe bestehe darin, das Begehren zu kultivieren. Dazu gehört zunächst, vom homo oeconomicus als Mangelwesen abzurücken und einen anderen Ausgangspunkt zu wählen. Es ist ein Unterschied, ob wir mehr vom Selben wollen oder mehr zum Selben.

Kein Dualismus zwischen Haben oder Sein, sondern neu lernen, was Haben bedeutet; das ist die Herausforderung. Wie können wir das Hab und Gut auf neue Weise haben? Lassen wir uns von unserem Begehren treiben oder wird es kultiviert? Wie transformieren wir das, was ist, in eine neue Zeit hinein?

Damit sieht Günter einen Schlüsselfaktor für ein anderes Verständnis des Begehrens und Habens in der Zeitdimension. Im Rückgriff auf die Güterethik nach Platon und Hannah Arendt versteht sie Begehren als eine genealogische Struktur, die mitten im Generationengefüge stattfindet. Mit Blick auf die Vergangenheit ist alles, was entstanden ist, Güter. Es öffenen sich damit andere Fragen.

Wie werden die Dinge übergeben? Wie werden sie aufgegriffen? Wie übernehmen die Jüngeren das Alte? Wie transformieren wir das, was ist, in eine neue Zeit hinein?

Sie wählt bewusst historische Phänomene wie Autobahnen, Atomkraftwerke, Verbrennermotoren oder Schlachthöfe als Beispiele für Güter, auf die wir die Fragen anwenden könnten: Warum sind sie geworden? Warum sind und waren sie gut? Was wollen wir weiter mit ihnen tun? Stimmen die guten Gründe noch? Wie tradieren wir das Gute, ohne das Ding tradieren zu müssen? So zu fragen führt zu einem völlig anderen Wachstumsverständnis. Es geht nicht mehr darum, die Güter zu mehren, sondern das Gute an den Gütern, die wir in der Vergangenheit geschaffen haben, zu mehren und an kommende Generationen zu übergeben.

Wohin soll die Reise gehen?

Die Anforderungen an einen gesellschaftlichen Dialog, der „mitten in der Zeit“ Antworten auf diese Fragen findet, erscheinen aus dieser Perspektive sehr hoch. Jedenfalls können wir von der politische Kommunikation, wie wir sie derzeit praktizieren, kaum erwarten, so souverän mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umzugehen. Wo finden diese Güterabwägungen statt? Bleibt uns nur, auf die Zivilgesellschaft zu hoffen?

Obwohl die globalen Grenzen vielfach hartnäckig negiert werden, scheint sich die Einsicht in die Notwendigkeit, mit Weniger auszukommen, auch im politischen Raum langsam zu verbreiten. Es ist schon erstaunlich, wenn das britische House of Lords in einem Report zur Klimakommunikation feststellt, dass – anders als in der Politik oft behauptet – rein angebotsseitige Lösungen nicht ausreichen werden. Die übergroße Mehrheit der Menschen wolle sich ökologie- und klimagerecht verhalten. Der Staat solle solches Verhalten begünstigen und ermöglichen.

Priority behaviour change policies are needed in the areas of travel,
heating, diet and consumption to enable the public to adopt and use green
technologies and products and reduce carbon-intensive consumption.

Aus den Fehlern und Erfolgen früherer Krisen, auch aus der COVID-19-Pandemie, so der Report, sollte die Regierung lernen, wie wirksame Verhaltensänderungen im Zusammenspiel mit der Zivilgesellschaft und lokalen Akteuren erreicht werden können.

Wir können also bei unserer Suche nach möglichen Zukünften die vorläufige Prognose wagen, dass eine gute Zukunft von einer Kultur des Genug geprägt sein wird. Ob man von Verzicht spricht oder auf dieses Reizwort verzichten, ist dabei nachrangig. Fragt sich nur, wie kommen wir dahin? Wie kommen wir von unserer heutigen Kultur des grenzenlosen Wachstums zu einer Kultur des Genug oder des Guten?

Dazu in einem nächsten Blog-Beitrag mehr.

Zukünfte (1): Über den Mangel an Visionen, positiven Utopien und Zukunftsbildern

Thomas Morus: Utopia. Frontispiz der Ausgabe von 1518. CC BY-SA 4.0

Die „große Transformation“ ist voll im Gange, aber es fehlt an Klarheit, wo die Reise hingehen könnte. Ebenso unklar ist, wo die Reise hingehen sollte. Weder unsere gewünschte Zukunft, noch unsere wahrscheinliche Zukunft ist für uns greifbar. Es geht um Klimaschutz und Ökologie. Es geht um Digitalisierung. Und es geht immer um Wirtschaft. Soviel ist klar. Nur, was dabei herauskommen soll, bleibt hartnäckig im Unklaren.

Zukunftsforschung ist schwierig. Wir können die Zukunft schlecht erforschen, weil sie ja noch nicht geschehen ist. Zukunftsforschung ist eine Paradoxie. Der Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“, dessen Veröffentlichung sich in diesem Jahr zum 50. mal jährt, gibt Anlass, in einer Serie unregelmäßiger Beiträge hier in meinem Blog auf Spurensuche zu gehen. Wie blicken wir heute in die Zukunft? Welche Zukünfte können wir uns vorstellen? Wie wahrscheinlich sind unterschiedliche Zukünfte? Welche Szenarien, Utopien, Zukunftsbilder und Visionen könnten uns Orientierung bieten?

Ökologische Krisen – einfach wegfedern?

Der Erdsystemwissenschaftler Wolfgang Lucht hat kürzlich in einem Interview mit klimareporter.de beklagt, es regiere die verführerische Annahme, wir könnten die ganzen Veränderungen um uns herum einfach so wegfedern. Lebende Systeme hätten zwar in gewissem Maße die Fähigkeit, sich an die Veränderung von Umweltsystemen, wie der Ozeanströmung oder dem Gletschereis, anzupassen. Aber:

Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass eine komplexe Gesellschaft wie die unsere, die von zahlreichen Netzwerken abhängig ist – von Lieferketten, Spezialwissen, von funktionierenden Institutionen und einer stabilen Energieversorgung – von sich aus resilienter sei gegen die Folgen unseres Energie-, Material- und Raumverbrauchs als das Klima oder die Ökosysteme.

Der Mensch habe sogar die Fähigkeit, vorauszuplanen und innovativ zu sein. Aber diese Fähigkeit zur Anpassung habe Grenzen. Wenn die Grenzen der Anpassungsfähigkeit erreicht seien, komme es zu Zusammenbrüchen – bis hin zum Kollaps und letztlich zum Absterben.

Die Herausforderung für demokratische Gesellschaften sei, Mecahnismenn zu etablieren, die die Nachhaltigkeit und die Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Gesellschaften absichern. In dieser abstrakten Dimension scheinen die Dinge klar zu sein. Nur lässt sich davon wohl niemand leiten

Wie ist die Selbstgewissheit und Ignoranz des Menschen zu erklären?

In einem Essay für DIE ZEIT hat sich Nils Markwardt kürzlich auf die Suche danach begeben, weshalb nur die akuten Krisen bekämpft werden, während es die eher verborgenen, existenziellen Krisen nur mit Mühe in die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit schaffen. Er hat eine Reihe von Gründen ausgemacht, die die Unentschlossenheit im Umgang mit den existenziellen Krisen erklären können.

  • Die psychlogische Erklärung. Kurzfristige Konsuminteressen werden gegenüber langfristigen ökologischen Interessen bevorzugt. Auch wenn extreme Folgen der Klimakrise wissenschaftlich gründlich erforscht sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten können, mögen manche immer noch davon ausgehen, dass es für sie schon nicht so schlimm kommt.
  • Das Präventionsparadox. Vorbeugung erscheint überflüssig, gerade weil Vorbeugung in einer konkreten Krisensituation erfolgreich war. Bei den Corona-Maßnahmen ist das Phänomen gut zu beobachten. Manche Kritiker halten sie für verfehlt, weil es ja nicht so schlimm gekommen sei, wie manche prognostiziert hätten. Die Wirkung der unangenehmen Maßnahmen werde übersehen. Nach dem gleichen Muster würden auch Energiekrise und Klimakrise als hysterische Übertreibung abgetan.
  • Als weiteren Grund führt Markwardt den unterentwickelten Umgang mit Worst-Case-Szenarien an, weil sie im Zweifelsfall teuer seien, mit Grundrechten kollidierten und ihr Nutzen bis zum Ernstfall unklar bleibe.
  • Die Langfristigkeit der ökologischen Krisen. Sie kommen ausgerechnet in der Phase, in der Maßnahmen noch möglich sind, langsam und eher schleichend daher. Katastrophenereignisse lassen sich räumlich, zeitlich und in ihrer Dimension erst spät klar vorhersagen.
  • Die Bewertung politischen Handelns. Sie sei stets mit einer spezifischen Weltperspektive verbunden. Man könne die Dinge vom Ideal abwärts oder vom Chaos aufwärts betrachten. Am Beispiel der Corona-Krise könne man also z.B. eine verkorkste Impfkampagne und fehlende Filter in Klassenzimmern beklagen oder man könne das Ausbleiben der Worst-Case-Szenarien als historischen Erfolg feiern. Wenn die Dinge jedoch gleichzeitig schlecht und gut sind, hätten die Wähler Anlass, wütend zu werden, aber keinen Anlass, sich verantwortungsvollen Politikern zuzuwenden.
  • Einen weiteren Grund findet Markwardt im Primat des Konsums, der sich – befeuert durch den Neoliberalismus – eingestellt habe.

Konsum spielte [in früheren Gesellschaften] … eine untergeordnete Rolle, weil der klassische Liberalismus des 18. Jahrhunderts zwar den Handel predigte, dabei aber gleichzeitig Sparsamkeit und Verzicht einforderte.

Mit der Radikalisierung der Marktidee im Neoliberalismus habe sich das geändert.

Der Markt, so die neoliberale Grundannahme, sei nämlich die gesellschaftliche Sphäre, in der Freiheit und auch Demokratie hergestellt würden.

Der Einzelne sei aus dieser Warte nicht mehr als politischer Bürger mit seinen demokratischen Rechten und Pflichten gefragt, sondern als Endverbraucher. Er soll seine Affekte nicht mehr zügeln, sondern ihnen auf dem Markt freien Lauf lassen. Neoliberalen Kräften ist es somit gelungen, jede staatliche Regulierung unter halbtotalitären Verdacht zu stellen. Demokratie erscheine Menschen, die sich die verführerische binäre Logik von gutem Markt und bösem Staat zueigen machen, nicht mehr als permanenter Prozess kollektiver Willensbildung. An die Stelle des demokratischen Diskurses, wie die Klimakrise bewältigt werden könnte, verlagert sie die Debatte ins Grundsätzliche, ob der Staat (wer sonst?) Verbote verbieten und den Verzicht auf Verzicht gebieten soll.

Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu unausweichlich, dass sich keine gemeinsame positive Zukunftsvision mehr herausbilden kann. Denn die beste Zukunft ist ja die, die sich durch unsere Konsumentscheidungen einstellt.

Wolfgang Lucht nennt übrigens im oben erwähnten Interview noch eine weitere Erklärung für die herrschende Lethargie: die Eigenheiten der Klimakommunikation. Wenn die Wissenschaft von einer „Destablisierung der Ökosysteme“ oder einer „Abschwächung der Zirkulationsströmung“ spreche, klinge das technisch und abstrakt.

Angesichts der sich häufenden Krisen, – nach der Corona-Pandemie nun der Ukraine-Krieg und die Gaskrise, von der alles überlagernden ökologische Krise ganz zu schweigen, – wächst die Sorge, wir könnten nicht hinreichend mit dieser explosiven Mischung unterschiedlichster Krisen umgehen. Wir seien in der Lage, meint Lucht, für einen Krieg oder gegen eine Pandemie zu mobilisieren, aber scheinbar versagen wir, wenn es darum geht, für erneuerbare Energie, einen reduzierten Ressourcenverbrauch und eine angepasste Lebensweise zu mobilisieren.

Die besorgte Zivilgesellschaft steht einer Politik und einer Wirtschaft gegenüber, die zögerlich nur das Nötigste bereit sind zu tun. Derweil wird die Zeit knapp, die noch verbleibt, um die drohende existenzielle Menschheitskrise abzuwenden. Diese Sorge geht mit einer scheinbaren Unbekümmertheit einher, mit der die Menschen an ihrem gewohnten Lebensstil festhalten und alle Warnungen von Wissenschaftlern und von den Sozialen Bewegungen der jungen Generation, wie z.B. Fridays for Future oder Last Generation, in den Wind schlagen.

50 Jahre „Grenzen des Wachstums“

SWR2 hat zum 50. Jahrestag des Berichts einen Radiobeitrag von 1972 aus dem Archiv geholt. Was hat dem Bericht damals die herausragende Bedeutung beschert? Erstmals hatten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen die neuen Möglichkeiten des Computers genutzt, um für die gesamte Menschheit Projektionen auf die langfristige Zukunft zu errechnen. Die große Resonanz, die der Bericht ausgelöst hat, lässt darauf schließen, dass das Unbehagen angesichts offensichtlicher Umweltprobleme damals schon weit verbreitet war.

In der Rückschau hat sich die Skepsis des Club of Rome bestätigt. Einwendungen, die Möglichkeiten der Wissenschaft und des technischen Fortschritts seien nicht genügend berücksichtigt worden, hat der Club damals zurückgewiesen. Zurecht, wie wir heute wissen. Diese Möglichkeiten könnten, so die Befürchtung der Mitglieder des Club of Rome, wahrscheinlich zu spät genutzt werden, um Übervölkerungs- und Umweltkatastrophen abzuwenden. Sie könnten wahrscheinlich Krisen nur verzögern, aber nicht verhindern. Denn die uns bedrohenden Probleme seien nicht nur auf technischem Wege zu lösen. Der Radiobeitrag von 1972 schließt mit einer Bemerkung über die Utopie der Zeit.

Die Unausweichlichkeit neuer Maßstäbe und neuer Zielorientierungen menschlichen Verhaltens und menschlichen Zusammenlebens ist wissenschaftlich in dieser Eindeutigkeit und klaren Verständlichkeit bisher noch nirgendwo konstatiert worden. Die Reflexion dieses Sachverhalts führt zu dem Paradoxon, dass sich als die eigentliche Utopie unserer Epoche die Vorstellung erweist, der Status Quo ließe sich noch aufrechterhalten. Wie vorgestern, so könne man auch morgen noch in den Tag leben.

Was leisten Projektionen, Modelle, Prognosen?

Die „Grenzen des Wachstums“ bildeten erstmals den Versuch, die Zukunft der Menschheit mit Hilfe der neuen Möglichkeiten des Computers in Szenarien zu erfassen. So gelang es, die Begrenztheit des Lebensraums und der Lebensgrundlagen auf der Erde in ein breites Bewusstsein zu bringen. In der Rückschau zeigt sich, dass besonders die Aussagen zur CO2-Belastung der Atmosphäre ziemlich genau zutrafen, während andere Aussagen, z.B. zur Erschöpfung der Erdöl-Vorkommen, daneben lagen. Aber kommt es bei dieser Art der Zukunftsbetrachtung überhaupt darauf an, die Zukunft möglichst treffsicher vorherzusagen?

In einem weiteren Beitrag hat sich SWR2 Wissen mit 50 Jahren versuchter Zukunftsforschung beschäftigt. Wissenschaftliche Modelle können Wahrscheinlichkeiten unter bestimmten Bedingungen errechnen. Sie können aber die Komplexität zukünftigen menschlichen Verhaltens nicht berechnen. die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Klimamodelle können sehr gut vorhersagen, was jeweils mit hoher Wahrscheinlichkeit passiert, wenn der Eintrag von Klimagasen weiter ansteigt oder gleich bleibt oder sinkt.

Es lässt sich auch heute kaum vorhersagen, wie solche Szenarien oder Projektionen menschliche Entscheidungen beeinflussen. Wir sehen allerdings, dass die Reaktion auf negative Szenarios nicht unbedingt die Entscheidungen beflügelt, die eine Balance menschlichen Lebens in der begrenzten Biosphäre anstreben, sondern gleichermaßen Entscheidungen beflügelt. die darauf zielen, am gewohnten Lebensstil mit all seinen negativen Auswirkungen festzuhalten.

So ist eine Situation entstanden, die zu verbreiteter Orientierungslosigkeit geführt hat. Die Zukunftserwartungen haben sich stetig verdüstert. Es bleibt jede Aufbruchstimmung aus. Die langjährige Untätigkeit hat eine Situation heraufbeschworen, die Endzeit-Szenarios wahrscheinlicher werden lässt. Die Zeit ist schon lange knapp.

Nicht viel besser sieht es übrigens bei der Digitalisierung aus. Es gibt Dystopien, die mögliche Konsequenzen unseres unbefangenen oder blauäugigen Umgangs mit der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz aufzeigen. Solange uns aber eine Vorstellung fehlt, wie wir in Zukunft leben wollen, können wir uns auch nicht vorstellen, wofür wir für ein gutes Leben digitale Systeme brauchen und wofür nicht.

Fünf Zukünfte

Die Zukunft ist ungewiss. Wir können sie aber nicht einfach auf uns zukommen lassen. Unsere Entscheidungen treffen wir um Alltag typischerweise nach unseren kurzfristigen Bedürfnissen. Wir blenden mögliche langfristige Wirkungen gerne aus. Das hat auch damit zu tun, dass Zukunftsarbeit mit Aufwand verbunden ist. Wenn wir uns nicht mit dem Befragen des Orakel begnügen, sondern uns der Mühe stellen wollen, können wir zunächst verschiedene Zukünfte unterscheiden. Wovon reden wir eigentlich, wenn wir in der Gegenwart aus ausgewählten Erinnerungen an die Vergangenheit die Ungewissheit der Zukunft erforschen wollen?

Eine grundlegende Unterscheidung von Betrachtungsmöglichkeiten der Zukunft liefert z.B. das „Eltviller Modell“ der Unternehmensberatung FMG. Es unterscheidet fünf Arten von Zukünften. Wahrscheinliche Zukünfte beschreiben Annahmen über die Zukunft, unerwartete Zukünfte nehmen Überraschungen in den Blick, mit denen niemand rechnet, denkbare Zukünfte beschäftigen sich mit Chancen, die in der Zukunft erkennbar sind, gewünschte Zukünfte werden Visionen genannt und schließlich beschreiben wir Strategien als Ausdruck geplanter Zukünfte.

Es scheint mir sinnvoll, solche Unterscheidungen im Hinterkopf zu haben, um die Blickwinkel leichter ändern zu können und um Zukunftsbetrachtungen einordnen zu können. Der Bericht des Club of Rome von 1972 wäre nach dieser Unterscheidung überwiegend der Betrachtung wahrscheinlicher Zukünfte zuzuordnen. Resilienzforschern und Katastrophenschützern überlassen wir es gerne, sich mit unwahrscheinlichen Zukünften zu beschäftigen. Wer beschäftigt sich eigentlich mit Chancen, die in der Zukunft liegen? Und wie entstehen daraus Visionen?

Zukunftkunst

Die „Große Transformation“ findet statt. Ob menschliches Leben in der Biosphäre der Zukunft noch möglich ist, hat die Menschheit selbst in der Hand. Sie gestaltet die Transformation, ob sie will oder nicht. Sich verweigern heisst, sich für Endzeitszenarien entscheiden und die Strategien daran ausrichten. Wir können uns der Zukunft aber auch stellen und versuchen, unserer Verantwortung als der Spezies, die im Anthropozän die Lebensbedingungen in der Biosphäre prägt, gerecht zu werden.

Mit der Vielschichtigkeit der verschiedenen Blickwinkel auf Zukünfte umzugehen, ist eine Kunst, „Zukunftskunst“, wie der Wuppertaler OB Uwe Schneidewind noch zu seiner Zeit als Direktor des Wuppertaler Instituts dargelegt hat. Alle Mensch und Organisationen seien Zukunftskünstler. Aber kein Mensch muss die Welt allein retten. Es geht um ein gemeinsames Kunstwerk, um die Kunst der Zusammenarbeit. Ist nicht allein diese Vorstellung schon eine wunderbare Vision?

„Es geht nicht mehr um Produktion, sondern um die Bewohnbarkeit der Erde.“

Der französische Soziologe Bruno Latour hat sich zum Abschluss eines langen Interviews bei ARTE an einer Botschaft an seinen Enkel versucht. Angesichts der Untätigkeit der vorherigen Generationen werde die Enkelgeneration unter den von den Naturwissenschaften vorhergesagten Katastrophen leiden. Die Transformation werde Zeit brauchen. Deshalb möge sich der Enkel mit allen notwendigen therapeutischen Mitteln versorgen, um die Ökoangst 20 Jahre lang aushalten zu können. In 40 Jahren, so die Annahme von Latour, werden die Menschen angekommen oder, wie er zu sagen pflegt, „gelandet“ sein. Sie werden ihre politischen Institutionen angepasst haben, ebenso ihre juristischen Definitionen, die Künste, die Wissenschaft und letztlich auch die wirtschaftlichen Bedingungen. In 40 Jahren werde der Prozess der Zivilisation, der gegenwärtig ausgesetzt sei, wieder in Gang gekommen sein. Man werde mit Verwunderung zurückblicken auf die Zeit der Unkenntnis und Verweigerung.