Sensoren (22): Kipppunkte, Kollaps und die Ethik der Vorausschau

„Die Katastrophe, die Zerstörung der Welt, wie wir sie kennen, kann kaum mehr abgewendet werden, nur mehr gemildert.“
Christian Rainer

„Niemand hat das Recht, seine Sorge in Fatalismus umschlagen zu lassen.“
Reinhard Loske

Wissenschaftler warnen unablässig vor den Folgen des Klimawandels. Politiker sollten sich endlich mit dem Risiko von Katastrophen oder gar dem Zusammenbruch von Gesellschaften befassen. Stehen wir als Menschheit am Abgrund? Oder handelt es sich bei Weckrufen um Alarmismus, um fragwürdige, gar gefährliche Panikmache? Mit dieser Frage hat sich kürzlich die „Sternstunde Philosophie“ im SRF befasst. In einem Streitgespräch suchte die Runde eine Antwort auf die Frage, was von Versuchen zu halten ist, den „Weltuntergang“ zu prognostizieren.

In diesem Blog werde ich einige Stimmen vorstellen, die vielleicht geeignet sind, ein Spektrum an Haltungen zu der Frage des Umgangs mit bedrohlichen Szenarien aufzuzeigen.

Die Bedrohung ist konkret

Unbestritten ist, dass sich die Menschheit an den Rand ihrer Existenz bringen wird, wenn sie die rasant voranschreitende Erdüberhitzung nicht in den Griff bekommt.

„Man muss festhalten: Das Ziel, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf 1,5 Grad zu begrenzen, das Ziel, auf das sich die Weltgemeinschaft dem Pariser Abkommen nach offiziell verpflichtet hat, ist angesichts der seitdem augenscheinlichen politischen Lethargie fast illusorisch.“

Süddeutsche Zeitung – Digitales Projekt: Was die Klimakrise wirklich bedeutet. Abgerufen am 9.12.2020

Noch können Wissenschaftler nicht hinreichend genau sagen, wann Kippunkte erreicht werden, wann also eine positive Rückkopplung erreicht ist, die den Temperaturanstieg des Erdsystem für den Menschen unbeeinflussbar antreibt. Es sind die unbeabsichtigten Auswirkungen menschlicher Aktivitäten, die das Erdsystem in einem Ausmaß beeinflussen, die mit den geologischen Kräften gleichzusetzen sind. Deshalb sprechen Geologen vom Erdzeitalter des Anthropozän. Der Mensch verändert mit den unbeabsichtigen Auswirkungen seiner Missachtung der Naturgesetze das Erdsystem und ist auf dem Weg, seinen eigenen Lebensraum, der zugleich Lebensraum für die ganze Vielfalt der Arten ist, zu zerstören. Die Dynamik, die er in Gang setzt, kann er nach Erreichen bestimmter Schwellenwerte nicht mehr beeinflussen.

Die Vorausschau auf solche Kippunkte und auf mögliche katastrophale Auswirkungen hat in den letzten Jahren in der Wissenschaft an Aussagekraft gewonnen. Dabei helfen Konzepte aus der Analyse komplexer Systeme und die Integration des Wissens aus den Erdsystemwissenschaften und den Sozial- und Geisteswissenschaften. Auf dieser Grundlage kommt eine Gruppe renommierter Wissenschaftler zu der Erkenntnis,

„… dass soziale und technologische Trends und Entscheidungen, die in den nächsten ein oder zwei Jahrzehnten erfolgen, den Pfad des Erdsystems für Zehn- bis Hunderttausende von Jahren erheblich beeinflussen und möglicherweise zu Bedingungen führen könnten, die planetarischen Zuständen ähneln, wie sie zuletzt vor mehreren Millionen Jahren herrschten, Bedingungen, die für die heutigen menschlichen Gesellschaften und viele andere zeitgenössische Spezies lebensfeindlich wären.“

Man könnte annehmen, bei solchen Untergangsszenarien handle es sich um ein altbekanntes Phänomen. Hat nicht jeder Epochenwechsel seine eigenen apokalyptischen Visionen hervorgebracht? Es gibt aber einen gravierenden Unterschied. Die heutigen Dystopien und Katastrophenszenarien ergeben sich aus den Erkenntnissen einer Wissenschaft über die Zusammenhänge im Erdsystem, die zu früheren Zeiten noch unbekannt waren. Wir wissen heute um den Zustand unseres Lebensraums und um die Wirkungen unseres Handelns. Deshalb können wir Aussagen über die Zukunft mit hohen Wahrscheinlichkeiten versehen, auch wenn Zukunftsbetrachtungen prinzipiell unsicher sind. Der Klimakollaps droht mit hoher Wahrscheinlichkeit konkret und ist in wenigen Jahren kaum noch zu verhindern.

Kollaps und die Kollapsologie

Pablo Servigne und Raphael Stevens einerseits und Toby Ord andererseits sind Protagonisten der Kollapsologie, die Risiken eines Zusammenbruchs unserer Zivilisation aus philosophischer Sicht betrachtet. Es geht ihnen dabei nicht darum, darauf weist Stefan Riedener in der SRF-Runde hin, Weltuntergangsstimmung zu verbreiten, sondern sich des Nadelöhrs gewahr zu werden, durch das die Menschheit hindurch muss, wenn sie überleben will. Es sei ein Ausdruck von Demut, die Risiken ernst zu nehmen. Der Mensch sei weder allmächtig, noch allwissend. Es gehe darum, daran zu erinnern, dass schon viele Generationen vor uns waren und viele Generationen nach uns sein könnten. Es gehe darum, Visionen zu entwickeln, wie ein Leben aussehen könnte, wenn es den Menschen gelingt, am Abgrund vorbei zu lavieren.

Mit existenziellen Risiken hat sich auch der amerikanische Biogeograf Jared Diamond in seinem Buch „Kollaps“ beschäftigt, das bereits 2005 erschienen ist. Er zeigt Parallelen und Unterschiede auf zwischen früheren Zusammenbrüchen von Gesellschaften, wie z.B. den Polynesiern auf der Osterinsel, den Maya oder den Wikingern auf Grönland. Besonders die Parallelen zwischen der Osterinsel und der heutigen Welt sind dabei unübersehbar. In beiden Fällen haben wir es mit Zivilisationen zu tun, die isoliert leben und von außen keine Unterstützung erwarten können. In beiden Fällen ist es der Lebensstil, der auf die Ausbeutung endlicher Ressourcen baut. Das allein war noch nicht maßgeblich für den Untergang der polynesischen Kultur auf der Osterinsel. Wie in anderen Fällen kollabierter Gesellschaften kam ein weiterer Punkt hinzu, das Versagen der gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse.

Die Geschichten in diesem kenntnisreichen Buch sind so bewegend, dass einem beim Lesen der Geschichten von gescheiterten Gesellschaften tatsächlich leicht die Hoffnung abhanden kommen könnte. Diamond selbst bleibt hoffnungsvoll. Er hält – wohlgemerkt Stand 2005 – die menschengemachten Probleme noch für lösbar. Zum einen, weil keine neue Technologie benötigt werde, sondern nur die vorhandene Technologie genutzt werden müsse. Zum anderen sah Diamond ein wachsendes ökologisches Bewusstsein. Erforderlich für die Aufrechterhaltung der Entscheidungsfähigkeit sei eine langfristige Planung und die Bereitschaft, Werte neu zu überdenken. Er sah auch bei der Politik eine wachsende Verantwortung für den langfristigen Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen. Selbst bei der Anpassung der Wertvorstellungen, die unserem Lebensstil zugrundeliegen, zeigt er sich zuversichtlich. Den entscheidenden Unterschied zu früheren Zusammenbrüchen von Gesellschaften sieht er in der Tatsache, dass wir heute umfassend informiert sind.

„Dokumentarfilme und Bücher zeigen uns heute in anschaulichen Einzelheiten, warum die Gesellschaften auf der Osterinsel, bei den Maya und an anderen Stellen in historischer Zeit zusammengebrochen sind. Wir haben also die Möglichkeit, aus den Fehlern der Menschen an weit entfernten Orten und in weit entfernter Vergangenheit zu lernen. Diese Möglichkeit hatte keine frühere Gesellschaft auch nur annähernd in dem gleichen Ausmaß.“

Diamond, Jared: Kollaps. Frankfurt 2005, S. 648

Vielleicht ist es also gerade die Komplexität unserer ausdifferenzierten Gesellschaft, in der die unterschiedlichen Interessen offen kommuniziert werden und miteinander interagieren, in der freie Medien umfassend und der Wahrheit verpflichtet informieren, die Anlass zur Hoffnung gibt. Jedenfalls scheint es wichtig, dass es in unserer Demokratie möglich ist, über die Auswirkungen der historisch beispiellosen Situation nachzudenken, ohne gleich der Panikmache bezichtigt zu werden.

Droht eine selbsterfüllende Prophezeihung?

Gleichwohl gehört es zu einem verantwortlichem Umgang mit solchen Angst auslösenden Informationen, ihre möglichen Wirkungen zu beleuchten. Können die Bemühungen, die möglichen Auswirkungen des Klimawandels ungeschminkt in den Blick zu bekommen, die Risiken, die wir abzuwehren versuchen, geradezu verstärken? Ist es ethisch möglicherweise unverantwortlich, die Möglichkeit kollabierender Systeme zu beschreiben? Droht die Gefahr einer selbsterfüllenden Prophezeiung? Wir wissen es nicht. Prophezeiungen können selbsterfüllend oder selbstzerstörend wirken. Bei der Klimakrise als Metakrise unserer Zeit handelt es sich jedenfalls weder um ein Gerücht noch um ein Vorurteil. Die Möglichkeit von Kippunkten im Klimasystem und sozialen Zusammenbrüchen sind wissenschaftlich erforscht. Die Befürchtung, dass die Kollapsologie die Menschen in lähmenden Fatalismus treibt, ist als Kommunikationsrisiko zu betrachten, das gegen die Möglichkeit abgewogen werden muss, dass andererseits die beängstigende Bedrohung die Menschen beflügelt, ihre Gewohnheiten und ihren Lebensstil grundlegend zu verändern.

Es schien allzu lange, dass die Politik, die Wirtschaft und die Mehrheit der Bürger in einer Lethargie verharrten. Erst langsam scheinen die gesellschaftlichen Funktionsssysteme die Metakrise wahrzunehmen und an Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Ist diese Starre trotz oder wegen der vielen Katastrophenszenarien entstanden? Ist es politischer Fatalismus oder übermäßiges Beharrungsvermögen, ist es ökonomische Phantasielosigkeit oder Pfadabhängigkeit?

Vielleicht haben wir es auch mit einem Ungleichgewicht in der Wahrnehmung von Risiken und Chancen zu tun. Die Klimawissenschaft kann natürlich nicht viel mehr als Hiobsbotschaften verkünden. Denn die Fakten sind einfach beunruhigend. In der SRF-Runde betont Riedener jedoch, dass es den Kollapsologen sehr wohl auch darum gehe, ein tieferes Verständnis der Situation zu erreichen. Wir tun sehr wenig für die Erforschung existenzieller Risiken, meint Riedener. Wir geben mehr Geld für die Erforschung von Eiscréme aus.

Moralisierung in der Nachhaltigkeitsdebatte

Schließlich entscheidet sich auch mit der demokratischen Debatte über die Nachhaltigkeit, wie uns die Gratwanderung gelingt. In einem Interview zeigt Konrad Paul Liessmann, wie sehr Moralisierung diesen gesellschaftlichen Dialog stören kann.

„Ich sehe durchaus die große Notwendigkeit, alles zu versuchen, um den Klimawandel zu stabilisieren oder einzudämmen. Aber dass der Begriff Notstand zutrifft, sehe ich nicht. Im Gegenteil: Unsere Regionen gelten als diejenigen, in die Menschen aus wirklich gefährdeten Gebieten fliehen werden, weil die realen Gefahren hierzulande – noch – geringer sind. Und trotzdem ruft man den Notstand aus. Wenn man demokratiepolitisch wach ist, sollte man damit nicht Propaganda machen.“

Die Knappheit der Zeit

Zu den Merkmalen der Klimakrise gehört in ihrem Kern die Knappheit der verbleibenden Zeit, bis Kippunkte überschritten sind. Wolfram Eilensberger zitiert in der SRF-Runde (s. ’18) den Philosophen Hans Blumenberg: „Die Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen.“ Ist die Mobilisierung der Massen über die Zeitenge der „totalitäre Mastermove“?, fragt Eilensberger. Jedenfalls ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die faktische Zeitenge, die wir in der Klimakrise erleben, von autoritären Kräften genutzt werden kann, um Macht über möglichst viele Individuen zu gewinnen.

Was passiert, wenn nicht das gute Leben, sondern das Überleben zur Maßgabe des politischen Handelns wird, wie es z.B. bei Extinction Rebellion der Fall ist? Es werde sehr leicht eine politische Ausnahmesituation suggeriert, die viele Freiheitsrechte im Handumdrehen suspendieren könne, fürchtet Eilensberger. Die Kollapsologen möchten aber gerade, darauf weist Riedener hin, die Möglichkeit der Entfaltung des Menschlichen zum Guten erforschen. Das ist das eigentlich Spannende. Wie lässt sich eine Vision des menschlichen Lebens nach einem Kollaps oder positiv gewendet, nach einer gelungenen Transformation, vorstellen, ohne einerseits an materiellen Zukunftsbildern festzuhalten oder auf ein „Zurück zur Natur“ a la Rousseau zurückzufallen.

Das Ende der Normalität

Bernd Ulrich zeigt in einem Essay, wie wir im Jahr der Corona-Pandemie spüren, dass das, was wir als Normalität empfinden, zu Ende geht. Die SRF-Diskussion zeigt genau dies. Es schwebt ein Unbehagen über allem, dem wir nicht mehr ausweichen können. Mit der Normalität und ihrer Herstellung befasst sich auch Günter Ortmann in einer Kolumne mit dem Titel: „Es brennt“.

Normales wird zur Norm, und Normen machen, dass etwas normal werden soll und wird. Normalität/Normalisierung geht in die Begründung von Normativität ein, und präskriptive Normen, zumal: organisationale Regelwerke und Standards, erzeugen und legitimieren Normalität/Normalisierung – und/ oder, nota bene, Abweichungen davon, etwa Überbietungen im Wettbewerb.

Ortmann, Günter: Es brennt. In: Zeitschrift Organisationsentwicklung (ZOE) 1/2020, S. 118

Normalismus leugne, so Ortmann im Anschluss an Jürgen Link, den ökologischen Antagonismus zwischen Natur und Ökonomie. Statt geschichtsphilosophischer Fortschrittsdialektik ergebe das ein ungleich düstereres Bild eines irreversiblen Prozesses von Normalisierungen, Denormalisierungen (das Klima wird komisch) und neuen Normalisierungen (Klimagipfel), einschließlich eines immer möglichen Kollapses einzelner – etwa ökologischer, militärischer oder finanzieller – Normalitäten.

Bei zwei Grad Erwärmung wäre es in den meisten Städten im Nahen Osten und in Südasien im Sommer so heiß, dass man nicht draußen sein könnte, ohne einen Hitzeschlag oder gar den Tod zu riskieren.» (Wallace-Wells in der Süddeutschen Zeitung Nr. 227 vom 1.10.2019, S. 11). «Auf Dauer würden das arktische und das antarktische Eis schmelzen und der Meeresspiegel dramatisch ansteigen, zwei Drittel der großen Städte weltweit würden überflutet … die Schäden durch Stürme und den Meeresspiegelanstieg (würden) um ein Hundertfaches steigen und 280 Millionen Menschen ihr Zuhause verlieren. Bis zum Jahr 2050 könnte es eine Milliarde Flüchtlinge geben. … Trotzdem informieren weder Wissenschaftler noch Journalisten oder Aktivisten darüber, wie das Leben auf der Erde dann aussehen würde, obwohl dieser Anstieg fast unvermeidbar ist.»

„Warum dieses Schweigen?“, fragt Ortmann. Klimaforscher selbst hielten das lange Zeit für übertrieben. Sie hätten selbst zu lange Optimismus verbreitet, weil sie unbedingt vermeiden wollten, die Leute zu deprimieren. Sie bewahrten die Illusion einer zwar gefährdeten, aber doch beherrschbaren Normalität.

Ethik der Vorausschau

Sollten wir vielleicht nochmal neu ansetzen, wenn wir auf die ursprünglichen Erzählungen von der Apokalypse blicken? Die Theologin Petra Bahr hat in einem Beitrag für DIE ZEIT darauf aufmerksam gemacht, dass …

„… die biblischen Apokalypsen im Ursprung gar keine Weltuntergangsbeschwörungen [sind]. Im Gegenteil. Da die Empfehlung, Apokalypseabstinenz zu üben, soweit zu spät kommt, bleibt eine Erinnerung an den ursprünglichen Sinn apokalyptischen Sprechens. … Nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart wird als unerträglich empfunden. Apokalypsen sind Trostschriften, die der Frage nach der Gottesverlassenheit eine ins Kosmische gesteigerte Hoffnung vermitteln. Dass es so weitergeht ist die Katastrophe. … Endzeitliche Plagen und Provokationen sind nicht das Ende, sie werden literarisch zu einem Durchgangsstadium. So formt sich die Hoffnung.“

Vielleicht ist das eine ethische Haltung, die der beispiellosen Situation am besten gerecht wird. Noch einmal Petra Bahr:

„Das wäre dann wahrhaft „apokalyptisch“, nämlich entlarvend und enthüllend, aber von der Zuversicht getragen, dass der schonungslosen Bestandsaufnahme mehr folgt als Resignation oder Wut. Weder hysterisch noch zynisch, noch fatalistisch zu werden angesichts der Tatsache, dass es in dieser Welt nicht zum Besten steht, das ist eine schwierige Kunst. Nicht Weltflucht, aber auch nicht Angstlust vor dem baldigen Ende, sondern eine tiefe Gelassenheit, die entschlossen macht, die sich die ganze komplizierte Wirklichkeit zumutet und trotzdem glaubt, dass nicht alles bleiben muss, wie es ist.“

Vom Streiten zum Erzählen

Wie können wir mit apokalyptischen Gedanken umgehen? Wie können wir uns im apokalyptischen Sprechen üben? Interessant ist in diesem Zusammenhang der Verlauf der Diskussionsrunde im Schweizer Fernsehen. Die Runde streitet zunächst über den Sinn und Zweck der Kollapsologie als einer Art der Risikoforschung. Riederer als ein Vertreter der Kollapsologie ist gegenüber den anderen in der Rechtfertigungsrolle. Nach und nach wechselt die Runde mehr ins Dialogische. Die vier fangen an, von ihren Erfahrungen mit ihren eigenen Ängsten zu erzählen. Sie reflektieren ihre Haltung gegenüber jungen Menschen, die praktischen Handlungsmöglichkeiten, die Möglichkeit, mit Einschränkungen zu leben, die Verantwortung als würdiger Mensch, ein respektvolles Miteinander der Menschheit mit den anderen Spezies.

Die Gratwanderung

Die SRF-Runde kommt schließlich auf Jonathan Franzen und seinen umstrittenen Beitrag für den New Yorker zu sprechen. Ich habe seinerzeit hier darüber berichtet. Franzen kann kein einziges Szenario erkennen, wie das 1,5°- oder 2°-Ziel des Parisabkommens erreicht werden könnte. Er plädiert deshalb dafür, die Situation in ihrer Bedrohlichkeit oder Aussichtslosigkeit zu akzeptieren und neu zu denken, was Hoffnung bedeuten könnte. Erst wenn wir die Wahrheit akzeptieren, erkennen wir, dass weit mehr zu tun ist. Ganz andere Maßnahmen gewinnen an Bedeutung.

In Zeiten des wachsenden Chaos suchten Menschen, so Franzen, Halt eher in Stammesdenken und Waffengewalt, als in gültigem Recht. Die beste Abwehr solcher Art von Dystopie sei, funktionierende Demokratien, Rechtssysteme und Gemeinschaften zu erhalten. In diesem Sinne sei jede Bewegung, die die Zivilgesellschaft stärke, ein bedeutender Beitrag zum Erhalt des Klimas. Die Hassmaschinen der sozialen Medien abzuschalten sei eine Klimaaktion. Eine humane Einwanderungspolitik zu etablieren, für Gerechtigkeit zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts und verschiedener Hautfarbe einzutreten, Respekt vor geltendem Recht und ihrer Anwendung zu wahren, freie und unabhängige Medien zu fördern, das Land von Angriffswaffen zu entlasten, dies alles seien Klimaaktionen. Jedes System der natürlichen wie der menschlichen Welt, müssten wir, so Franzen, so stark und gesund wie möglich halten, wenn es die steigenden Temperaturen überleben wolle.

Diese Haltung, so die SRF-Runde, zeige zum einen auf, dass wir im Hier und Jetzt gefordert seien. Es sei gleichwohl eine Gratwanderung, aufzuhören, so zu tun, als ob die Katastrophe vermeidbar sei und genau daraus Hoffnung zu schöpfen.

Der Theologe Wolfgang Palaver findet Worte für die feinen Unterscheidungen, die bei dieser Frage entscheidend sind.

Es geht nicht um eine Politik der Angst, sondern um […] eine Furcht, die zum Handeln aus Verantwortung motiviert und nicht im optimistischen Blindflug annimmt, dass schon nichts passieren wird. Das ist mit Blick auf die Klimakatastrophe unabdingbar und auch hinsichtlich der Pandemie wichtig.

Ohne Furcht geht es nicht: ZEIT-Interview mit Wolfgang Palaver vom 22.12.2020


Von der Zukunft her denken

Vielleicht ist das in der Tat ein wesentlicher Kern eines Zukunftsbildes, das uns einlädt, von der Zukunft her zu denken. Ein gutes Leben für alle trotz erheblich erschwerter Lebensbedingungen, eine Menschheit, die sich als Teil des Erdsystems versteht und eine funktionierende demokratische Gemeinschaft pflegt, an der alle teilhaben können. Ist das die Herausforderung im nächsten Schritt? Können wir uns gemeinsam eine Post-Kollaps-Gesellschaft vorstellen? Und – genau so wichtig – können wir uns gemeinsam die Gratwanderung, den Weg, den Verlauf einer erfolgreichen Transformation vorstellen?

„But the real hope comes from the people.“ Greta Thunberg

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Mehr dazu s.
Sensoren (16): Der Klimawandel und die Hoffnung – zum Dritten
Sensoren (15): Nochmal – der Klimawandel und die Hoffnung
Sensoren (14): Der Klimawandel und die Hoffnung

Ein Gedanke zu „Sensoren (22): Kipppunkte, Kollaps und die Ethik der Vorausschau

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