Unternehmensmodelle im Wandel (10): Agile Organisation oder Schwarm?

Alle Mann raus aus den Silos!

So überschreibt die FAZ einen Beitrag, der über jüngste Bemühungen von Daimler, Deutsche Bank und Commerzbank berichtet, ihr Unternehmen in eine agile Organisation umzuwandeln. Das Thema agil ist in Managementkreisen groß in Mode. Dabei ist es keineswegs neu. Schon 1994 haben Barbara Heitger, Christof Schmitz und Betty Zucker ein Buch mit dem schönen Titel „Agil macht stabil“ herausgegeben. Es ging darin noch nicht  um agile Software-Entwickler, sondern um die internen Dienstleister. Sie kamen zunehmend unter Druck, nachdem die erste Welle des Lean-Managements über die Fertigung hinweggefegt war.

Das Buch versammelte damals schon Beiträge, die sich mit Netzwerkorganisation und dem Ende des „Heimatschutzes“ für interne Stäbe – „Stabsarbeit ohne Stäbe“ – befassten. Heitger, Schmitz, Zucker1 wiesen damals auf eine wesentliche Herausforderung hin, die mit neuen Organisationskonzepten verbunden ist.

Wie der Komplexitätsforscher D. Dörner rund um seine „Logik des Misslingens“ ausführte, ist der Mensch „ein Raum- und kein Zeitwesen“. Es fällt uns relativ schwer, zeitlich dynamische Zusammenhänge und Effekte zu beobachten und in Entscheidungen einzubeziehen. Einfacher formuliert: Prozesse sind im Gegensatz zu Produkten und Resultaten nicht greifbar. Über Produkte lässt sich gut verhandeln, Strukturen lassen „klare Abgrenzungen“ erkennen, Prozesse hingegen drohen zu verschwinden, je näher man hinschaut.

Mittlerweile gibt es viele gelungene Modelle agiler Organisation. Offenbar finden manche mittlerweile Antworten auf das Problem der zeitlichen Dynamik. So gesehen ist Scrum als populäre agile Methode ein Weg, Prozesse im Team bewusst zu machen und im Alltag bewusst zu halten. In der Softwareentwicklung ist das Phänomen besonders früh aufgetreten. Durch die Beschleunigung der technologischen Innovationen und durch die Digitalisierung nicht nur vieler Produkte, sondern fast aller unternehmerischen Prozesse,  rückt das Problem der zeitlichen Dynamik allmählich in die Aufmerksamkeit des Top-Managements.

Die hohe Aufmerksamkeit für agile Ansätze lässt sich als ein Ergebnis vieler langjähriger Lernprozesse deuten. Die Erfahrungen aus vielen Jahre des Experimentieren mit agilen Methoden haben sich zu einem neuen Bewusstsein verdichtet. Manche Unternehmen haben es geschafft, neue Steuerungslogiken in passende Standards für ihre Organisation zu verwandeln. Dabei fordern die strengen Regeln agiler Methoden von den Beschäftigten Transparenz und Disziplin. Sie wirken dennoch für viele motivierend, weil sie ihren Beitrag zur Wertschöpfung des Unternehmens oder zur Lösung eines gesellschaftlichen Problems unmittelbar spüren können.

Die Erkenntnis, dass Menschen nur kurze Zeiträume in den Blick nehmen können, ist in  manchen Unternehmen mittlerweile zur Grundlage des herrschenden Organisations-verständnisses geworden. Sich ständig im Team zu vergewissern, was heute und in den nächsten zwei Wochen ansteht, macht stabil. Die Stabilität entsteht für jeden Einzelnen durch die kurz getakteten Abstimmungsprozeduren im Team. Weil die Erfahrung wächst, wie das auf der operativen Ebene der unmittelbaren Wertschöpfung funktionieren kann, wächst jetzt in den Ebenen der mittelbaren Wertschöpfung, der Führungs- und Support-Prozesse das Interesse an durchgängigen agilen Steuerungslogiken. Viele Unternehmen arbeiten mittlerweile daran, die gesamte Unternehmensführung auf Prinzipien des agilen Arbeitens umzustellen.

Übrigens: Daimler geht noch einen Schritt weiter. Die Mitarbeitenden, so hat Daimler-Vorstand Zetsche der FAZ erklärt,

„agieren unabhängig von Abteilungsgrenzen sehr autonom und vernetzt, und das ist dann keinesfalls auf einzelne Projekte beschränkt, sondern eine dauerhafte Sache.“

Zetsche setzt auf eine „Schwarmorganisation“, was immer das bedeuten soll. Werden hier nur aktuelle Moden der Managerszene durch den Fleischwolf gedreht? Oder steckt ein durchdachtes Konzept dahinter? Jedenfalls klingt es hektisch und oberflächlich. Die Steuerungslogik von Schwarmorganisationen ist ja mit ein paar größeren Problemen verbunden. Eva Horn2 schreibt in der Einleitung zu einem Reader über Schwärme über die Kehrseite der allseits ersehnten hohen Anpassungsfähigkeit:

Zunächst arbeiten Schwarm-Systeme durch ihre Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Umwelten oder Problemstellungen nicht optimal. Da sie gleiche oder ähnliche Operationen auf viele verschiedene Akteure verteilen, machen viele Einzelne das Gleiche gleichzeitig – das Gegenteil von Effizienz. Mit anderen Worten: Schwarm-Systeme sind hochgradig redundant und haben damit zu Anfang ein schlechtes Verhältnis von Aufwand und Nutzen.

Und wenn dann der erwünschte Emergenz-Effekt eintritt, sind Schwarmorganisationen kaum noch zu stoppen.

Denn da es keine zentrale Steuerungsinstanz gibt, ist es schwer, in das Schwarm-System einzugreifen oder es auszuschalten wie eine fehllaufende Maschine. Schwarm-Systeme haben eine grundsätzliche Tendenz zu eskalieren, gerade weil sie sich vor allem über positive Rückkopplung steuern, nicht aber über negative Rückkopplung. Man kann Schwärme schwer aussteuern oder stoppen, weil ihre Organisationsprozesse zu komplex sind und zu langsam reagieren. […] Schwärme sind, wie es Kevin Kelly auf den Punkt gebracht hat, tendenziell »out of control«.

Schwärme unterscheiden sich, darauf weist Eva Horn zudem hin, von anderen Kollektiven ohne Zentrum, z.B. von Netzwerken, in einem wichtigen Punkt.

Während Netzwerke […] Dezentralisierung als eine statische Topologie von Knoten und Kanten beschreiben, führen Schwärme in diese Statik die Dynamik eines permanenten Werdens ein. Schwärme sind immer auch in der Zeit, nicht nur im Raum, sie finden statt, sind reines Geschehen. Netzwerke können auf stabile Strukturen der Konnektivität bauen, Schwärme sind nichts als Kollektivität in actu. […] Anders als Netze, deren Konnektivität sie definiert und die daher als gegeben vorausgesetzt werden kann, müssen Schwärme die Verbindung ihrer Einzelindividuen durch Formen der Interaktion oder Medien der Kommunikation (wie die Pheromonspuren der Ameisen, der Tanz der Bienen) ständig herstellen.

Es mag  von besonderem Ehrgeiz zeugen, vielleicht aber von nervöser Hektik, wenn Zetsche – so die FAZ – ankündigt:

Wir stellen uns vor, dass wir kurzfristig, innerhalb von einem halben Jahr oder einem Jahr, rund 20 Prozent der Mitarbeiter auf diese Organisationsform umstellen.

Ob die Idee mit der Schwarmorganisation eine gute ist, wird sich bei Daimler schnell zeigen.

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1. Barbara Heitger, Christof Schmitz, Betty Zucker: Tohuwabohu für interne Dienstleister?, in: Heitger, Schmitz, Zucker: Agil macht stabil. Wiesbaden 1994

2. Eva Horn: Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, in: Eva Horn, Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld 2009

2 Gedanken zu „Unternehmensmodelle im Wandel (10): Agile Organisation oder Schwarm?

  1. Pingback: Unternehmensmodelle im Wandel (10): Agile Organisation oder Schwarm? | Die Changeologen

  2. Sehr interessanter Beitrag, Herr Östermann! Schwarm, mehr noch Holokratie zählen zu den gehypten Organisationsformen, ähnlich wie die agilen Managementmethoden…Aber es kommt auf den Kontext an. Die neuen Formen können dazu beitragen, dass Organisationen anpassungsfähiger und beweglicher werden, aber die meisten Unternehmen sollten sie nicht pauschal übernehmen:
    „Organisationen können Elemente des Selbstmanagements in Bereichen nutzen, in denen es auf Anpassungsfähigkeit ankommt und herkömmliche Modelle verwenden, wenn Zuverlässigkeit vorrangig ist.“
    (Bernstein et al. in HBR 2016, S. 41).
    Herzliche Grüße aus Berlin
    Hans-Erich Müller

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